Vielfalt inklusive

Vom Umgang mit LSBTIQ im Schulalltag

HLZ 11/2016: Inklusive Vielfalt

Der Bildungsauftrag von Schulen ist neben der Vermittlung von Wissen auch der Auftrag zur Wertevermittlung und Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung. Bei der Wertevermittlung geht es hauptsächlich um Fragen der Menschenrechte und Demokratieerziehung. Dabei steht die Würde eines Menschen, zu der auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit gehört, an erster Stelle. Diese findet im Kindes- und Jugendalter zu einem sehr großen Teil im Unterricht und damit im Klassenverband als sozialer Gruppe statt. Wesentlich individueller sollte der schulische Teil der Unterstützung bei der Persönlichkeitsentwicklung sein. So wie jede_r Schüler_in das Recht auf eine individuelle Begründung der Noten im Sinne einer Lernberatung hat, sind es individuelle Hintergründe, die seine bzw. ihre Persönlichkeit beeinflussen. Diese sind in die Notenbegründung und Lernberatung einzubeziehen. Dabei ist auch die Authentizität der unterrichtenden und beratenden Lehrkraft von hoher Bedeutung. Denn die beratende Lehrkraft spielt die wohl wichtigste Rolle im Unterricht und Schulalltag. Sie ergänzt die Elternbetreuung zu Hause. Schule ist somit ein Ort, in dem aufgrund der Entwicklung der Persönlichkeit hohe Anforderungen an die Authentizität aller Beteiligten gestellt werden: Privates und Berufliches verschmelzen ineinander.

Zusätzliche Belastungsfaktoren

Unsere Schüler_innen treffen sich tagsüber in der Schule. Im Unterricht mögen sie „dienstlich“ und fachorientiert agieren. Spätestens auf dem Pausenhof und noch viel mehr nach Schulschluss zu Hause und in der Freizeit aber interagieren sie zwar privat, jedoch meistens auch mit einem starken Bezug zu Schulfreund_innen oder Klassenkamerad_innen. Dies geschieht real und online – eine Grenze zwischen Schule und Privatleben ist also kaum noch zu ziehen. Mag die Pubertät für jede_n Schüler_in schon schwer genug sein, so sind Kinder aus Regenbogenfamilien, insbesondere aber LSBTIQ-Jugendliche (1) selbst in ihrer Entwicklung oft zusätzlichen Belastungsfaktoren ausgesetzt. Trotz hoher Medienpräsenz und weitgehender rechtlicher Gleichstellung bis hin zu einer zumindest formaljuristischen Akzeptanz vielfältiger Lebenskonzepte jenseits der monogamen „Mann-Frau-Beziehung“ sowie der „klassischen Vater-Mutter-Kinder-Familien“ ist ein „Coming-out“ von Jugendlichen als selbst „betroffen“ oder einer Regenbogenfamilie entstammend insbesondere gegenüber Gleichaltrigen bis heute keineswegs problemlos.

Homosexuelle Schüler_innen sind laut einer Studie zu etwa 30 % häufiger von Mobbing betroffen als ihre Klassenkamerad_innen (1). Die Folgen sind Konzentrationsstörungen, Isolation, Verlust von Vertrauen in sich und andere bis hin zu Depressionen und selbstverletzendem Verhalten. Zudem besteht ein erhöhtes Suizidrisiko. Die gegenwärtige Schulpraxis setzt dem bisher kaum etwas entgegen. Dementsprechend ist das Ergebnis einer Befragung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zur Situation von lesbischen, schwulen und transgender Kindern, Jugendlichen und Eltern in München aus dem Jahre 2010 wenig überraschend: Rund 90 % der knapp 800 befragten Fachkräfte sind der Meinung, dass an Schulen kein homosexuellenfreundliches Klima, sondern eher homophobe Stimmungen vorherrschen.

Im Klassenraum wie auf dem Pausenhof gilt: Erziehungsauftrag ernst nehmen und ein diskriminierungs- und angstfreies Lern- und Arbeitsklima schaffen! Und das gilt für alle, denn Akzeptanz gesellschaftlicher Vielfalt ist ein Teil der Demokratieerziehung.

Schimpfwörter nicht ignorieren


Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Klassenraum „betroffene“ Schüler_innen oder Schüler_innen aus einer Regenbogenfamilie sitzen? Schätzungen gehen davon aus, das dies ungefähr so häufig der Fall ist, wie Linkshänder_innen im Klassenraum sitzen. Aufgrund der fehlenden direkten Sichtbarkeit dieser Jugendlichen ist es leicht, sie zu vernachlässigen. Diskriminierende Bemerkungen wie „schwul“ oder „Kampflesbe“ werden viel zu oft ignoriert. Spricht man eine Lehrkraft darauf an, hört man die gängigen Ausreden: „Der meint das doch nicht so“, „Die weiß nicht, was sie sagt“ oder „Ich kann doch nicht jedes Mal ein Fass aufmachen“.
Mein Rat: „Doch! Du kannst! Du musst aber nicht! Aber du solltest reagieren. Das ist Teil deines Erziehungsauftrags!“ Wie groß das Fass, das es zu öffnen gilt, ist, entscheidet dabei jede_r Kolleg_in selbst. Benutzt ein_e Schüler_in „schwul“ als Schimpfwort, ahnde ich das in der Regel so, wie ich auch andere Schimpfworte ahnde, meist mit einem kurzen: „Derartige Schimpfworte passen nicht und sind unangemessen.“
Ein „Fass“ öffne ich eigentlich erst, wenn es tiefer geht: Dazu gehört vor allem das Adressieren eines Schimpfwortes an einzelne Schüler_innen – im Extremfall bis hin zum Mobbing. In diesem Falle thematisiere ich jede Diskriminierung und versuche dafür zu sorgen, dass sie insgesamt nicht mehr vorkommt. „Schwul“ oder andere LSBTI-diskriminierende Lebenskonzepte behandele ich dabei wie die Herabwürdigung von anderen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die wir im breiten Inklusionsbegriff kennen. Die Besonderheit von schwul-lesbisch-trans-inter-Sexualität im Vergleich zu Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, des Alters, der Religion oder Nationalität ist dabei, dass sie persönlicher ist.

Das Thema LSBTIQ beinhaltet meist auch ein unausgesprochenes Bekenntnis zur eigenen Sexualität. Dies sollte aber nicht anders gehandhabt werden als das Bekenntnis zur eigenen Sexualität, die ein Schulleiter ausdrückt, wenn er seine Ehefrau mit zum Schulfest bringt. Ganz normal also! Dennoch: So manche_r Kolleg_in meidet speziell dieses Diskriminierungsthema auch, weil jemand, der sich gegen Diskriminierung von LSBTIQ-Menschen ausspricht, oft selbst als „ein solcher“ gelten könnte.

Ziel muss es sein, ein Schulklima zu schaffen, in dem Vielfalt als bereichernd und mit gegenseitigem Respekt aufgefasst wird. Dazu gehört, auch Schüler_innen untereinander zu ermutigen, gegen Mobbing aktiv zu werden. In diesem Sinne dient die Behandlung des Unterrichtsstoffs nicht nur „Betroffenen“, sondern ist ein Erziehungsauftrag, der sich an alle Schüler_innen unabhängig von ihrer (entstehenden) sexuellen Identität oder ihrem Lebenskonzept richtet.

Wertschätzende Begegnungen

Die Wertschätzung individueller Besonderheiten, insbesondere wenn sie keinem anderen wehtun oder schaden, ist eine Grundvoraussetzung für einen respektvollen Umgang und eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre an einer Schule und gleichermaßen für die Zusammenarbeit mit Schüler_innen und Erziehungsberechtigten. Gerade bei Schüler_innen aber gilt, dass die Phase der Persönlichkeitsentwicklung (Pubertät) eine Zeit ist, in der nicht nur die Eltern, sondern auch die Lernumgebung die eine oder andere schwierige Phase mittragen muss. Wichtig bei der sexuellen Identität und dem damit meist verbundenen gleichgeschlechtlichen Lebenskonzept ist ein Verständnis dafür, dass man sie sich nach der herrschenden Meinung nicht aussuchen kann! Sie ist auch nicht an- oder aberziehbar. Und der Prozess schon des inneren Coming-outs ist bei den meisten Menschen ein durchaus langfristiger, Jahre dauernder Weg des sich Eingestehens, nicht der Mehrheitsgesellschaft und ihren Erwartungen zu entsprechen. Wenn also eine Schülerin einer Lehrkraft im Rahmen eines persönlichen Gesprächs beispielsweise von der ersten Liebe zu einer gleichgeschlechtlichen Partnerin berichtet, so ist dies ein Beweis großen Vertrauens. Ist ein Coming-out gegenüber anderen noch nicht erfolgt, gilt es diese Schülerin erst einmal gewissermaßen aufzufangen – ganz unabhängig davon, ob man sich in LSBTIQ-Themen sicher oder unsicher fühlt.

Selbst wenn eine Lehrkraft bisher keine oder nur wenig Ahnung davon hat, welche Vorgeschichte und welche Folgen ein solches „Coming-out“ hat, wäre es ein Fehler, die Schülerin direkt zu jemandem zu schicken, den oder die man für eine_n geeignetere_n Ansprechpartner_in hält. Mir ist es schon mehrmals passiert, dass mich Kolleg_innen fragen, ob sie mir ein_e Schüler_in „schicken“ können, die sich in einem solchen Coming-out-Prozess befindet. Ein solches „Wegschicken“ halte ich für grundverkehrt. Für eine Beratung unter Kollegen oder auch ein gemeinsames Gespräch mit Rat suchenden Schüler_innen stehe ich nach deren Zustimmung hingegen gerne zur Verfügung. Das gilt auch für externe Beratungsstellen wie beispielsweise SCHLAU (HLZ S.14), die sowohl einzelnen Lehrer_innen als auch Lehrerkollegien zur Beratung oder für Weiterbildungen zur Verfügung stehen.

Mit Eltern konstruktiv zusammenarbeiten

Auch Elterngespräche sollten gründlich vorbereitet werden. Viele unserer Kolleg_innen wissen, dass Eltern fast nur am schulischen Erfolg, wie er sich durch Noten ausdrückt, interessiert sind. Insbesondere Eltern, deren Kinder in ihrer Identitätsentwicklung von der „heteronormativen“ Mehrheitsgesellschaft abweichen, versuchen dies oft als „reine Privatangelegenheit“ aus einem Elterngespräch in der Schule herauszuhalten. Dahinter steckt oft eine falsche Scham, der es verständnisvoll, aber aufklärend zu begegnen gilt. Schule und Elternhaus müssen hier offen und konstruktiv zusammenarbeiten.

Insgesamt gilt es den momentanen Zustand an den meisten Schulen, den man bestenfalls auf dem Toleranzniveau ansiedeln könnte, aktiv weiter zu entwickeln. Dabei sind auch die Schulleitungen gefordert, die noch immer oft nach dem Motto „don‘t ask, don‘t tell“ handeln. Damit das gesamte Schulklima von einer Wertschätzung für die unterschiedlichen Identitäten und Lebenskonzepte aller Schulangehörigen geprägt wird, muss noch viel getan werden. In diesem Sinne ist der neue Lehrplan für Sexualerziehung als ein Lehrplan für Persönlichkeitsentwicklung und Demokratieerziehung aufzufassen, der vereinen statt polarisieren soll.