Wo bleiben die Beschäftigten?

Der Bildungsbericht 2022 und die Last der Ideologie

HLZ 11/2022: Lehrkräftebildung

1. Offensichtlich hat sich die Politik mit der Chancenungerechtigkeit abgefunden.

Der Geltungsanspruch der Aussagen im Bericht erstreckt sich ausschließlich auf eindeutig verifizierbare Tatsachen. Dabei wird allerdings eine Engführung zwischen objektivierbaren Daten und verteilungstheoretischen, statistischen Quellen vorgenommen. Wenn das Autorenteam dabei das Ziel verfolgt, „indikatorengestützte Analysen zu den Themenbereichen Bildungseinrichtungen, Bildungspersonal, Bildungsausgaben, Bildungsbeteiligung und Bildungsstand“ (S. 55) vorzulegen, so stellt sich zunächst einmal die Frage, warum gerade diese und keine anderen Themen ausgewählt wurden. Außer dass die fünf Themen auch schon in früheren Bildungsberichten abgefragt wurden und ihnen eine besonders große Relevanz bei der Steuerung des Systems attestiert wird, liefert das Dokument keine überzeugende Auswahlbegründung. Im öffentlichen Interesse läge beispielsweise, sämtliche einschlägigen Informationen, also alle Daten, Zahlen und Fakten zu bündeln, die sich auf das Megathema der Reproduktion der Chancenungerechtigkeit im Erziehungs- und Bildungswesen beziehen. Statt an diversen Stellen den Missstand der Chancenungerechtigkeit nur punktuell zu streifen und somit in seiner Relevanz zu relativieren, wäre die sachliche Konzentration auf dieses wesentliche Thema durchaus angemessen gewesen – liefert die Maxime der Chancengerechtigkeit doch eine grundlegende Legitimationsbasis für unsere Demokratie. Die Art und Weise, wie das Thema in dem Bericht behandelt wird, lässt den Verdacht aufkommen, dass die Politik sich längst damit abgefunden hat, dass Erziehung und Bildung soziale Ungleichheit perpetuieren.

2. Das Personal wird auf das Merkmal einer menschlichen Ressource reduziert.

Der Bericht erhebt den Anspruch, „mit dem Thema ‚Bildungspersonal‘ (...) einen Fokus auf eine zentrale Voraussetzung für die Realisierung erfolgreicher Bildungsprozesse und damit für die Qualitätssicherung und -entwicklung im Bildungswesen insgesamt“ (S. 3) zu legen. Zwar werden dabei wichtige Fragen der Ausbildung, der Personalgewinnung und der Weiterbildung sowie andere „Herausforderungen“ behandelt. Im hohen Maße fragwürdig ist jedoch, dass diese Betrachtung ausgerechnet die existentiell wichtigen Dimensionen Bezahlung und gesundheitliche Belastung ausspart. Man muss kein Experte sein, um über die Existenz empirischer Untersuchungen zu psychischen und körperlichen Belastungen in allen Feldern des Erziehungs- und Bildungswesens informiert zu sein. Auch einschlägige Erhebungen über die Arbeits- und Berufszufriedenheit in pädagogischen Berufen liegen vor, ganz zu schweigen von simplen Gehaltstabellen. Hinter dem Tatbestand, dass ausgerechnet jene Erfahrungsbereiche ausgegrenzt werden, die mit Phänomenen der Daseinssicherung und des Erleidens im Beruf zu tun haben („burn-out“), steckt System. Hier abstrahiert der Bildungsbericht vom lebendigen Arbeitsvermögen und den subjektiven Erfahrungen, von den körperlichen und psychischen Dimensionen pädagogischer Arbeit und reduziert das Personal auf das alleinige Merkmal einer menschlichen Ressource.

3. Sozialpädagogik und Soziale Arbeit kommen in dem Bildungsbericht erst gar nicht vor.

„Unter der Leitidee ‚Bildung im Lebenslauf‘ werden im Bildungsbericht über das Spektrum der Bildungsbereiche und -stufen hinweg der Umfang und die Qualität der institutionalisierten Angebote, aber auch deren Nutzung durch die Individuen analysiert.“ (S.1)

Nicht zuletzt mit der Schwerpunktsetzung Personal und dieser Orientierung an der Lebenslaufperspektive mutet es irritierend, ja geradezu bizarr an, dass das Feld der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit in dem Bericht unterschlagen wird. Dabei sind es doch gerade die Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen, die mit ihrer beruflichen Praxis die gesamte Lebensspanne abdecken: Die Fachkräfte sind in der pränatalen Beratung, der frühkindlichen Erziehung, der Eltern- und Familienbildung und auch in der Geragogik bei der Betreuung und Begleitung älterer und hochaltriger Menschen tätig. Hinter der Lebenslauforientierung verbirgt sich in Wahrheit eine kalte, sprich technokratische Dimension, ohne dass die Akteure im Erziehungs- und Bildungswesen unter einem biographischen Fokus und damit als Mitgestalter und Konstrukteure der untersuchten Realität in den Blick geraten würden.

4. Der Kompetenzansatz wird gleichsam als alternativloses Paradigma präsentiert.

Der Bericht richtet sich „unter Wahrung der (…) wissenschaftlichen Unabhängigkeit“ an alle „Akteur:innen des Bildungswesens in Politik, Verwaltung und Praxis ebenso wie an die interessierte Öffentlichkeit“. Um die Rezeption des Berichts durch Laien zu erleichtern, gibt es ein Glossar, in dem viele Fachbegriffe erläutert werden. Seinen ideologischen Charakter offenbart der Bericht nicht zuletzt deshalb, weil sich die lesedidaktische Anlage des Textes als bloße Fassade erweist. Häufig wird die Orientierung an den Lesegewohnheiten des breiten Publikums durch kryptische, fachwissenschaftliche Formulierungen unterlaufen, wie das folgende Beispiel belegt:

„Die hier gewählte Darstellung anhand von Average Marginal Effects (AME) (…) gibt an, um wie viele Prozentpunkte sich die Wahrscheinlichkeit einer Person, einem Typ mit spezifischen Bildungsverlaufsmuster anzugehören, durchschnittlich verändern würde (d.h. um eine Standardabweichung höher).“ (S. 333)

Zudem gehen die Autoren in einer extremen Weise selektiv mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand um. Obwohl der Kompetenzansatz mehrfach auf massive Kritik gestoßen ist, wird er gleichsam als alternativloses Paradigma präsentiert. Hinzu kommt die Neigung, sich auf Arbeiten aus der pädagogischen Psychologie zu berufen und Studien aus der qualitativ orientierten empirischen Bildungsforschung weitgehend auszublenden. Am Autorenteam scheint die naheliegende Erwartung regelrecht abzuprallen, dass die interessierte Öffentlichkeit ein elementares Recht hat, mit der Pluralität wissenschaftlicher Lehrmeinungen vertraut gemacht und nicht einseitig informiert zu werden.

Ein ideologischer Bericht...

Der Bildungsbericht transportiert Ideologie, weil er vordergründig Wahres und Unwahres, das nur beim zweiten Blick erkennbar ist, miteinander vermischt: Es widerspricht nun einmal unserer demokratischen Werteordnung, wenn das Problem Nummer 1 im Erziehungs- und Bildungswesen – die Chancenungerechtigkeit – nicht den Platz zugewiesen bekommt, den es verdient. Dabei wird nicht in Erwägung gezogen, dass die gesellschaftlichen Produktivkräfte und materiellen Ressourcen sehr wohl zu einer nachhaltigen Reform des Bildungswesens genutzt werden könnten. Wer die aktuelle Lage des pädagogischen Personals unter Ausgrenzung seiner Gesundheit und der materiellen Entlohnungschancen angemessen thematisieren will, geht in seiner Untersuchung an der Lebensrealität der Betroffenen vorbei. Last but not least erweist es sich als unwahr, Bildung und Erziehung im Lebenslauf zu erfassen und dabei die Sozialpädagogik und die Soziale Arbeit auszugrenzen und den wissenschaftlichen Erkenntnisstand nur unter Maßgabe des eigenen Paradigmas rekapitulieren zu wollen.

… ohne große kritische Resonanz

Bemerkenswert ist der schwache kritische Widerhall, den der Bericht im Wissenschaftsbetrieb ausgelöst hat. Sofern ich das Schweigen der Kolleg:innen aus den Universitäten richtig deute, so scheinen die akademischen Erziehungswissenschaftler:innen offenbar die allzu bequeme Position zu vertreten, dass Dokumente wie der Bildungsbericht „ja gar keine richtige Wissenschaft“ seien. Diese Textsorte, so hört man bei Kolleg:innen, werde allenthalben für bloße Legitimationszwecke genutzt. Dabei wird aber offenbar vergessen, dass diese Textsorte aus allgemeinen Steuergeldern finanziert wird und die Öffentlichkeit sehr wohl mehr Qualität in den wissenschaftlichen Expertisen verlangen kann. Sie dient keineswegs nur zur Politikberatung, sondern bietet auch der Zivilgesellschaft eine Basis für diskursive Prozesse. Hier werden Relevanzen festgelegt, Zonen des legitimen und nicht-legitimen Wissens bestimmt, sprich: Wirklichkeit konstruiert.

Auf den Bildungsbericht mit dem Abwehrmechanismus postmoderner Ironie oder gar zynischer Kommentierung zu reagieren, entspricht nicht der Ernsthaftigkeit der Lage. Erst recht liefert eine derartige Distanzierung den Vertretern der nachwachsenden Generation keine Folie für vorbildliches wissenschaftliches Verhalten. In der Tat: Ideologien verzerren die Perspektive, trüben den Blick und belasten die Urteilsbildung. Und manchmal besteht die Botschaft moderner Ideologien darin,„das Selbstverständnis der Gesellschaft vom Bezugssystem des kommunikativen Handelns und von den Begriffen der symbolisch vermittelten Interaktion abzuziehen und durch ein wissenschaftliches Modell zu ersetzen. In gleichem Maße tritt an die Stelle des kulturell bestimmten Selbstverständnisses einer sozialen Lebenswelt die Selbstverdinglichung der Menschen unter Kategorien zweckrationalen Handelns und adaptiven Verhaltens.“ (1)

In manchen Fällen, so Habermas, trägt Wissenschaft eben nicht zur Relativierung von Ideologien bei, sondern mutiert selbst zur Ideologie. Der Bildungsbericht 2022 liefert dafür ein Beispiel.


Dieter Nittel, assoziierter Professor, Fernuniversität Hagen
(1) Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Frankfurt/M., 10. Auflage 1979 S.81f.