Zeit für mehr Zeit

Entfristung, Entlastung und Mitbestimmung an Hochschulen

HLZ 12/2022 - 1/2023: Arbeitsplatz Hochschule

„Denn zu wenig Zeit zu haben ist kein individuelles Problem, sondern es ist gesellschaftlich erzeugt“, schreibt Teresa Bücker im Vorwort in ihrem gerade erschienen Buch „Alle_Zeit“. Die Ausführungen in dem Buch zeigen, dass auch wir als Gewerkschaft neue Antworten auf die Frage von Zeit benötigen. Denn wir erleben in vielen Arbeitskontexten von Bildungseinrichtungen, dass die Arbeitsaufgaben zunehmen, aber die Zeitkapazitäten nicht mehr werden. Diverse Studien, auch die Frankfurter Studie der GEW zu Arbeitszeit und Arbeitsbelastung der Lehrkräfte in Frankfurter Schulen, zeigen auf, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen in Bildungseinrichtungen mehr als die 40 oder 41 Stunden pro Woche in Vollzeit arbeiten, aber auch gerade in Teilzeit: ohne Ausgleich oder Vergütung der Mehrarbeit. Wenn wir über Arbeitszeit sprechen, müssen wir auch die Frage des Wertes der Reproduktionsarbeit in der Gesellschaft sprechen. Das bleibt oft aus oder wird vor allem von Frauen* gefordert. Die GEW hat auf Bundesebene ein Papier zur feministischen Zeitpolitik beschlossen, das aufzeigt, wie wir Arbeits- und Sorgearbeit auch gewerkschaftspolitisch anders gestalten können.


Auf der Landesdelegiertenversammlung der GEW Hessen im Oktober 2022 haben wir einen Beschluss gefasst, uns in allen Bildungseinrichtungen gemeinsam mit Euch für mehr Zeit einzusetzen. Zeit kostet Geld! Die Ursache der aktuellen Situation findet sich vor allem in der Ideologie des schlanken Staates und in dem Unwillen, Bildung finanzpolitisch zu priorisieren.
 

Wissenschaft im Dauerwettbewerb und die unternehmerische Hochschule führen bei den Beschäftigten an den Hochschulen zu Dauerbefristung, Arbeitsverdichtung, Zwangsteilzeit, Drittmittelwahn und der Unvereinbarkeit mit Fürsorge, um nur ein paar Aspekte zu benennen. Durch Einsparungen und fehlende Ressourcen wird die individuelle Arbeitslast immer höher und die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich stetig. In der Arbeitsrealität bedeutet dies, dass die Kolleginnen und Kollegen keine ausreichende Zeit für ihre Aufgaben haben, keine Zeit für Urlaub ohne Arbeit, keine Zeit für Kranksein und keine Zeit für die Vereinbarkeit mit Carearbeit. Viele wissenschaftliche Beschäftigte sind Dauerstress und Dauerbelastung sowie beruflicher Unsicherheit ausgesetzt, was sich langfristig auf ihre Gesundheit auswirkt, auf die Qualität von Forschung und Lehre und auf Kreativität und Innovationskraft. Unsere GEWerkschaftliche Antwort darauf heißt „Zeit für mehr Zeit“. In den hessischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden wir uns in den nächsten Monaten in der Kampagne auf drei Kernaspekte konzentrieren:

  • Es ist Zeit für gute Lehre: Runter mit der Lehrverpflichtung!
  • Es ist Zeit für mehr Mitbestimmung!
  • Es ist Zeit für eine Entfristungsoffensive!
     

Runter mit der Lehrverpflichtung!

Die Antwort des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK) auf eine Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten Dr. Daniela Sommer zur Lehrverpflichtungsverordnung vom Mai 2022 hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun:
„Vor diesem Hintergrund wird davon ausgegangen, dass das Lehrdeputat der Lehrkräfte für besondere Aufgaben auch die Wahrnehmung der sonstigen dienstlichen Aufgaben innerhalb der tariflichen Arbeitszeit ermöglicht.“ (DS 20/8440 und DS 20/8441)
 

Der Antwort legt die Annahme zu Grunde, dass Lehrkräfte für besondere Aufgaben (LfbA) sich weder wissenschaftlich noch in der Selbstverwaltung betätigen. Das spiegelt aber nicht die Arbeitsrealitäten an den Hochschulen wider. Die derzeitige Lehrverpflichtung für LfBAs von 18 Wochenstunden an Universitäten bzw. 24 an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) führt dazu, dass sie den Anforderungen an eine gute Qualität von Lehre und Studium nicht mehr gerecht werden können. Über die Vergütung der LfbA infomiert Tobias Cepok in der HLZ.
 

Ähnlich geht es auch den Professor:innen an den HAW, deren Aufgaben und Zuständigkeiten seit der Festsetzung ihrer Deputate vor mehreren Dekaden deutlich zugenommen haben. Während sich das Aufgabenspektrum an den hessischen Hochschulen durch mehr Verwaltungsaufgaben, einen höheren Zeitbedarf für Forschung und vieles mehr stetig erweitert hat, ist das Lehrdeputat nicht angepasst worden. Es ist kaum möglich, die Lehrverpflichtung mit der erforderlichen Vor- und Nachbereitung und die weiteren Dienstaufgaben in der wöchentlichen Arbeitszeit von 40 bzw. 41 Stunden zu erfüllen. „Zeit für mehr Zeit“ bedeutet eine Reduzierung der Lehrverpflichtung für gute Lehre und Arbeitsbedingungen, insbesondere für Lehrkräfte für besondere Aufgaben an hessischen Hochschulen und Professor:innen an den HAW. Auch die weiteren Dienstpflichten müssen auf das Lehrdeputat unabhängig von Stellenkategorie und Hochschultyp angerechnet werden. Ziel ist dabei, perspektivisch nicht nur die Gleichstellung von Lehrenden an Universitäten, HAW und Kunst- und Musikhochschulen herzustellen, sondern auch gemeinsam die Hochschulleitungen und das HMWK von dem Ziel „Mehr Zeit für gute Lehre“ zu überzeugen.
 

Zeit für mehr Mitbestimmung

In diesen Tagen finden im Landtag die Anhörungen und ersten Beratungen eines Entwurfs der schwarz-grünen Landesregierung zur Überarbeitung des Hessischen Personalvertretungsgesetzes (HPVG) statt. Wie in der HLZ 11/2022 berichtet, ist der vorliegende Entwurf eine einzige Enttäuschung, denn notwendige Verbesserungen für die Personalratsarbeit sind nicht im Gesetzentwurf enthalten. Die Personalräte an den Hochschulen und der Hauptpersonalrat am HMWK sind demokratisch gewählt und sie vertreten die Beschäftigten am Arbeitsplatz gegenüber dem Arbeitgeber. Seit 1999 wurden die Rechte der Personalvertretungen durch wiederholte Einschnitte in das HPVG immer weiter geschwächt. Der Gesetzentwurf wird jedoch nicht einmal der Minimalforderung der Personalräte und Gewerkschaften gerecht, diese Verschlechterungen rückgängig zu machen. Es braucht Schutz und Vertretung aller Beschäftigten durch Personalräte, auch an den Hochschulen.
 

Neben der Aufnahme der studentischen Beschäftigten in das HPVG müssen dringend Mitbestimmungslücken bei künstlerischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen geschlossen werden. Die Personalratsarbeit ist in den letzten Jahren immer arbeitsaufwändiger geworden, ohne dass die Freistellungsregelungen angepasst wurden. Befristet Beschäftigte oder LfbA haben kaum eine Möglichkeit, sich in den Personalrat einzubringen: Die Lehrverpflichtungsverordnung sieht keine Reduzierung des Deputats für die Mitarbeit von LfbAs und wissenschaftlichen Beschäftigten ohne Freistellung vor. Die Anzahl der Freistellungen ist begrenzt, so dass nur ein Teil der Kolleg:innen zeitlich von ihrer Arbeit real entlastet werden kann. Es braucht mehr Freistellungen für die örtlichen Personalräte und für den Hauptpersonalrat. Darüber hinaus ist es zwingend notwendig, nicht nur freigestellte Personalräte zu entlasten, sondern gerade bei der hohen Anzahl von befristet Beschäftigten und hoher Lehrbelastung neben Freistellungen auch Entlastungen im Lehrdeputat zu ermöglichen. Auch für Fachbereichsgremien, den Senat oder die Gleichstellung müssen Entlastungen bereit gestellt werden: Es braucht mehr Zeit für die demokratische Mitbestimmung an den Hochschulen!
 

Zeit für eine Entfristungsoffensive

„Das krasseste, was ich mal erlebt habe, ist dass eine Freundin mal einen 3-Wochen-Vertrag hatte und nicht wusste, wie es danach weitergehen soll“, berichtete Linn Voß am 21.10.2022 im Science Slam „Überforderte Wissenschaft“ des NDR (Kurzlink zum Download: https://bit.ly/3Wv2msc).
 

Viele können sich nicht vorstellen, dass in der Wissenschaft über Jahre „Befristung“ das Dauerbrennerthema ist und sich trotz vermehrten Diskurses in der Öffentlichkeit in der Praxis wenig tut. Das bedeutet, dass sich die konkreten und individuellen Arbeitsbedingungen selten verändern. Wissenschaftliche Beschäftigte benötigen genug Zeit für die persönliche Qualifizierung, und um unbezahlte Mehrarbeit zu verhindern, muss die Zwangsteilzeit an Universitäten beendet werden. Die Mehrarbeit entsteht inoffiziell, weil oft Labore dennoch auch am Wochenende betreut werden müssen oder aber ein Fachartikel oder Drittmittelantrag fertiggestellt werden muss. Zeitgleich haben viele wissenschaftliche Beschäftigte nicht den Eindruck, sich dieser Mehrarbeit aufgrund der Befristung zu verwehren, denn die direkten Vorgesetzen entscheiden am Ende auch über die weitere Perspektive an den Hochschulen. Gleichzeitig verdichten sich die Arbeitsaufgaben wie gute Lehre, Drittmittelanträge, Fachartikel – gerne auch schon in der Promotionsphase zusätzlich zu der eigenen Qualifikation, zur Beteiligung an der Selbstverwaltung und zur verstärkt eingeforderten Wissenschaftskommunikation. Die Befristung führt dazu, dass die Kolleg:innen versuchen, alles unterzubringen, damit es eine Perspektive für die eigene wissenschaftliche Karriere gibt.
 

Bisher sind Entfristungen unterhalb der Professur eher selten. Wenn überhaupt finden sie auf Hochdeputatsstellen oder im Wissenschaftsmanagement statt. Entfristung würde aber gleichzeitig für „Entlastung“ sorgen, denn die Kolleg:innen sind dann nicht im Dauerwettbewerb und im ständigen Bewerbungsmodus. Darüberhinaus entlastet Entfristung auch die Kolleg:innen im Verwaltungsapparat, da nicht ständig neue Personalmaßnahmen und neue Einarbeitungen stattfinden müssen. Das Hessische Hochschulgesetz und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ermöglichen Entfristungen: Hier könnte das Land Hessen eine Vorreiterrolle spielen.
 

Es ist Zeit, das Befristungsunwesen zu beenden! Es ist Zeit für eine Entfristungsoffensive an den hessischen Hochschulen! Wir können dafür gemeinsam Druck machen. Eine gute Gelegenheit ist der Beginn der im Tarifvertrag Hessen (TV-H) vereinbarten Gespräche der Gewerkschaften mit dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst über die Befristung am 17. Januar 2023. Wir brauchen Druck von Seiten der Beschäftigten über alle Statusgruppen hinweg und ein breites Bündnis für gute Arbeit an den Hochschulen. Wir können nicht mehr warten.
 

„Zeit für mehr Zeit - Zeit für gute Bildung“ ist das Motto der hessenweiten Kampagne der GEW. Du willst gemeinsam mit uns für mehr Zeit an den Hochschulen kämpfen? Mach mit!
 

Simone Claar


Dr. Simone Claar ist stellvertretende Vorsitzende der GEW Hessen und leitet eine Nachwuchsgruppe an der Universität Kassel.