Kritisches Denken unerwünscht

Der Kampf um die ökonomische Bildung

HLZ 3/2016: Lobbyismus an Schulen

Bettina Zurstrassen ist Professorin für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld. Unter ihrer Gesamtleitung entstand die Publikation „Ökonomie und Gesellschaft“, die 2015 bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in der gut etablierten Reihe „Themen und Materialien“ (TuM) veröffentlicht wurde und eine heftige Debatte über die Definitionshoheit in der ökonomischen Bildung auslöste. Mit manipulierten Zitaten konstruierte Peter Clever, Mitglied in der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), den Vorwurf, die Autorinnen und Autoren der Publikation hätten „ein monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik und Schule gezeichnet“, und forderte die bpb auf, die Publikation in dieser Form nicht weiter zu vertreiben. Nach interner Prüfung wies bpb-Präsident Thomas Krüger die Vorwürfe zurück. Ungeachtet dessen verfügte das Bundesinnenministerium am 14. Juli 2015 ein vorläufiges Vertriebsverbot.
Nachdem der Wissenschaftliche Beirat der bpb die Publikation geprüft und für die Aufhebung des Vertriebsverbots votiert hatte, bedurfte es dennoch des medial-öffentlichen Drucks auf das Bundesinnenministerium, um das Vertriebsverbot wieder aufzuheben (www.iboeb.org).

Bettina Zurstrassen sieht die Intrige als erneuten Versuch an, „das Konzept der sozioökonomischen Bildung und die hierfür einstehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler politisch und wissenschaftlich zu diskreditieren und den Weg für eine an der Neoklassik orientierte monoparadigmatische ökonomische Bildung im deutschen Schulsystem freizuschlagen“. Tatsächlich „dürfte es nur wenige Publikationen im Feld der ökonomischen Bildung geben, die hinsichtlich der politischen und wirtschaftstheoretischen Pluralität breiter aufgestellt sind als der Band ‚Ökonomie und Gesellschaft‘“. Im Folgenden stellt Bettina Zurstrassen die Struktur des Buchs, die Diversität der Ansätze und die konzeptionellen Überlegungen des Autorenteams vor.

„Ökonomie und Gesellschaft“ ist eine der ersten Publikationen der bpb, die gezielt auch heterodoxe Wirtschaftstheorien berücksichtigt. Sie ist in dieser Beziehung innovativ und dennoch konservativ, weil sie sich an den Bildungsplänen der Bundesländer orientiert und deshalb heterodoxe Wirtschaftstheorien in der Tendenz zurückhaltend darstellt. Das Autorenteam hat sich für dieses Vorgehen entschieden, um die Verwendbarkeit an Schulen zu gewährleisten. Sowohl heterodoxe Ansätze als auch moderne orthodoxe Wirtschaftstheorien sind in den Bildungsplänen und vor allem in den Schulbüchern kaum verankert. Sie können zwar über das Prinzip der Wissenschaftsorientierung als Unterrichtsgegenstand legitimiert werden, werden aber angesichts der Stofffülle im Unterricht zumeist nicht berücksichtigt.

„Ökonomie und Gesellschaft“ hätte in Bezug auf heterodoxe wirtschaftstheoretische Theorien noch pluraler ausfallen können. Es wurden aber von der bpb explizit auch Autorinnen und Autoren beauftragt, die der orthodoxen neoklassischen Wirtschaftslehre mit dem Modell des homo oeconomicus nahe stehen, um dem Anspruch der Pluralität gerecht zu werden.

Pluralität wirtschaftstheoretischer Ansätze

In meinem Einleitungsbeitrag „Die Krise der Wirtschaftslehre“ (Baustein 1) greife ich die Begriffe orthodoxe versus heterodoxe Wirtschaftswissenschaft auf, weil sie die Positionen im Konflikt um die Dominanz der Neoklassik in der Wirtschaftswissenschaft konturieren. Sie werden aber nur zurückhaltend angewendet, da sie in der Sozialwissenschaft kritisch betrachtet werden. Kritiker betonen, dass die Aufteilung in heterodoxe und orthodoxe Wirtschaftstheorien einerseits zu undifferenziert sei und andererseits durch die Begriffe die Randständigkeit heterodoxer Ansätze betont und damit der Anspruch der orthodoxen Wirtschaftslehre auf die Deutungshoheit gefestigt werde. Der Einleitungsbeitrag greift die studentischen Proteste des Netzwerks Plurale Ökonomik gegen die Dominanz der Neoklassik in der Volkswirtschaftslehre auf, um auf Fehlentwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft hinzuweisen.

Insgesamt stellte sich die Frage, ob man sich innerhalb der Theorien der heterodoxen und der orthodoxen Wirtschaftswissenschaften bewegt oder ob auch die Ansätze der Wirtschaftssoziologie und der politischen Ökonomie einbezogen werden. Um den inter- und transdisziplinären Charakter von „Ökonomie und Gesellschaft“ sicherzustellen, fiel die Entscheidung für den weiten disziplinären Bezugsrahmen. Anhand ausgewählter Beiträge soll das Vorgehen der Autorinnen und Autoren skizziert werden.

Der theoretische Bezugsrahmen

Ich greife in meinem Einleitungsbeitrag bei der Erläuterung der Ursachen der Wirtschaftskrise von 2007 den Ansatz des Wirtschaftssoziologen Christoph Deutschmann auf, um darzustellen, welche Perspektiven und Fragestellungen die Soziologie auf den Gegenstand wirft. Möglich wäre auch die Bezugnahme auf Publikationen von Thomas Piketty oder Paul Krugman oder auf die Veröffentlichungen des Politikwissenschaftlers Colin Crouch über die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den Wohlfahrtsstaat.
Reinhold Hedtke stellt in seinem Beitrag „Preis oder Qualität?“ (Baustein 5) das französische konventionenökonomische Marktkonzept vor und grenzt dieses von naturalistischen Auffassungen des Wirtschaftens ab, die von einer (weitgehenden) Selbstregulation der Märkte ausgehen (siehe Kasten).
Andreas Fischer thematisiert in seinem Beitrag „Verantwortliches Handeln in der modernen Konsumgesellschaft“ (Baustein 7) die Modelle des homo oeconomicus und des homo culturalis. Er diskutiert das Modell des homo oeconomicus zwar kritisch, weil es vereinfacht, betont aber auch die analytische Nützlichkeit des Modells (S. 212).

Im TuM-Skandal zielte die Kritik der BDA neben dem Lobbyismus-Beitrag von Tim Engartner (Baustein 2) vor allem auf den Beitrag „Arbeit, Subjekt und Gesellschaft“ von Udo Hagedorn und Carolin Kölzer (Baustein 9) über das Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“. Es beschreibt einen Arbeitnehmer, der keine Festanstellung mehr hat, sondern für die Laufzeit eines Projekts von Unternehmen engagiert wird. Dieser Typus des Arbeitnehmers versteht sich als Unternehmer seiner Arbeitskraft, die er beständig optimiert, um für den Arbeitsmarkt attraktiv zu bleiben. Diese Organisation von Arbeit entspricht durchaus den Bedürfnissen vieler Menschen in einer individualisierten Gesellschaft, hat aber auch erhebliche Schattenseiten für die Beschäftigten, die sich kaum noch zur Interessenvertretung in Unternehmen organisieren können und allein die Risiken der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes tragen. Für viele Unternehmen ist der Arbeitskraftunternehmer dagegen das Idealmodell eines Arbeitnehmers, weil sie flexibel über Arbeit verfügen und zudem erhebliche Einsparungspotenziale realisieren können, z.B. im Bereich der Sozialversicherungen.
Ewald Mittelstädt und Claudia Wiepcke, die der neoklassisch argumentierenden Wirtschaftsdidaktik zuzuordnen sind, thematisieren in ihrem Beitrag „Diskriminierung am Arbeitsplatz“ (Baustein 10) Fragen der Diskriminierung in der Arbeitswelt und zeigen am Beispiel der Humankapitaltheorie einen Erklärungsansatz für die Diskriminierung auf.

Was wird aus dem Fach Politik und Wirtschaft?

Sozioökonomische Bildung geht von der Gleichwertigkeit der Disziplinen aus. Die disziplinäre Relationierung ist pragmatisch. Sie ergibt sich im TuM-Band einerseits aus dem Gegenstand und andererseits aus dem disziplinären Zugriff der jeweiligen Autoren und Autorinnen. Die Kritik der BDA entzündete sich ausschließlich an Beiträgen von Autorinnen und Autoren aus dem Feld der sozioökonomischen Bildung. Sozioökonomische Bildung verfolgt das Ziel, die Lernenden zur mündigen und kritisch-reflektierten Bewertung und Bewältigung ökonomisch geprägter gesellschaftlicher Probleme und Lebenssituationen zu befähigen.

Mit ihrem Kampf für ein neoklassisch ausgerichtetes Separatfach „Wirtschaft“ wollen Unternehmerverbände und konservative Stiftungen offensichtlich kritische Perspektiven auf Wirtschaft in Zukunft eliminieren.
Auch wenn die Intrige um den TuM-Band (vorerst) ausgestanden ist, geht der Kampf weiter. Auch in Hessen haben die Befürworter eines Separatfachs „Wirtschaft“ nicht aufgegeben. In einem Feature „Wie viel Wirtschaftswissen brauchen wir?“ für die hr-iNFO-Sendereihe „Wissenswert“, das erstmals am 1.11.2015 gesendet wurde, forderte die Frankfurter Professorin für Wirtschaftspädagogik Eveline Wuttke zwar kein eigenes Fach, doch müssten PoWi-Lehrer so ausgebildet werden, „dass sie Politik und Wirtschaft im Idealfall einigermaßen gleichverteilt studieren“. In Frankfurt könne man PoWi studieren, „ohne ‚Wi‘ studiert zu haben“. Bei näherer Prüfung zeigt sich aber, dass dies für die große Mehrheit der Studierenden nicht zutrifft. Selbst im L2-Studium, wo dies grundsätzlich möglich wäre, wählen nach Auskunft der Uni Frankfurt die meisten Studierenden auch Seminare mit ökonomischen Schwerpunkten. Hessische Politikdidaktiker wiesen die Darstellung von Wuttke zurück. Wirtschaft sei an den anderen hessischen Hochschulen im PoWi-Studiengang fest integriert. Wuttke geht in ihrer Argumentation zudem von einem additiv, disziplinär lupenrein getrennten Fachverständnis aus. Ökonomische Fragestellungen sind aber auch Gegenstand in Veranstaltungen der Wirtschaftssoziologie und der politischen Ökonomie und in vielen anderen Lehrveranstaltungen der Disziplinen, z.B. in Seminaren zur Analyse sozialer Ungleichheit oder zur Sozialpolitik. Sozioökonomische Bildung muss deshalb interdisziplinär ausgerichtet sein, um ganzheitliche Perspektiven und Analysen zu eröffnen.