„Unheimlich verlockend“

Fachtagung zum pädagogischen Umgang mit Sexualität

HLZ 3/2016: Lobbyismus an Schulen

Mit einer Episode aus einem Hort eröffnete Annelinde Eggert, die Vorsitzende des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP), die 16. Fachtagung ihres Verbandes, die am 14. 11. 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt stattfand. Ein achtjähriges Mädchen bekommt einen Brief mit sexualorientiertem Inhalt, unterschrieben hat ihn der „Sexmacher“. Aufregung im Hort, Unruhe, eine gewisse Hilflosigkeit sind die Reaktion. Die Polizei wird eingeschaltet.

Das Sexuelle ist von ubiquitärer Bedeutung. Im pädagogischen Feld ist es allerdings, wiewohl ebenfalls bedeutsam, ein heikles, tabuisiertes Thema. Ein Eindruck durchzieht die gesamte Tagung: Die Missbrauchsskandale haben das Reden über Sexualität im pädagogischen Bereich zusätzlich erschwert. Es herrscht eine Misstrauenskultur, die Züge einer neuen Prüderie zeigt. Im krassen Gegensatz dazu werden Kinder und Jugendliche in der Medienwelt mit sexuellen Reizen regelrecht überschwemmt.

Die Fachtagung des FAPP fand in Kooperation mit dem Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt statt und stellte den Umgang mit Sexualität im pädagogischen Bereich zur Diskussion.
Thilo N. Naumann (Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix), Ilka Qindeau (Das Sexuelle in der Interaktion von Kindern und Erwachsenen) und Julia König (Verführungsszenen mit Kindern und Erwachsenen im pädagogischen Alltag) präsentierten grundlegende Positionen zum Tagungsthema, die in den Arbeitsgruppen diskutiert und um weitere Aspekte und Facetten des Themas ergänzt und vertieft wurden.
Fehlende sprachliche Mittel

Pädagogischen Fachkräften fehlen oft die sprachlichen Mittel für einen angemessenen Umgang mit dem Thema Sexualität. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Haltungen zur Sexualität in einem permanenten Prozess der Veränderung befinden, diese zudem umstritten, wenn nicht umkämpft sind. Der Psychologe Ahmad Mansour, Autor von „Generation Allah“, sagte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 22. 11. 2015, man könnte nicht erwarten, dass alle Menschen ein freies Sexualleben gut finden: „Das tun ja auch nicht alle deutschen Katholiken.“

Die Fachtagung leistete einen Beitrag für die Enttabuisierung geschlechts- und sexualitätsbezogener Themen, wobei es letztlich um die Klärung der Frage ging, wie eine gute Begleitung von Kindern und Jugendlichen beim Thema Sexualität aussehen könnte, die beide Seiten der Sexualität berücksichtigt, ihre lustvolle, verlockende, zu bejahende Seite genauso wie die bedrohliche, unheimliche Seite mit ihren destruktiven, leidvollen Begleiterscheinungen.

In ihrem Vortrag „Rätselhafte Botschaften“ über das Sexuelle in der Interaktion von Kindern und Erwachsenen ging Ilka Qindeau darauf ein, wie Sexualität entsteht und wie die Lust in den Körper gelangt. Jean Laplanche (1924-2012) betonte im Unterschied zu Sigmund Freud das Primat des Anderen, dem das Subjekt buchstäblich unterworfen sei. Bereits die Interaktionshandlungen der Erwachsenen bei der Pflege von Säuglingen und Kleinkindern hätten mit der Berührung des Körpers und der Genitalien, mit Blicken und Sprache eine sexuelle Dimension. Das Körpergedächtnis speichere die Wirkung von Berührungen, die zur Ausbildung erogener Zonen beitrügen und die Grundlage künftiger sexueller Erlebnisweisen seien.

Jean Laplanche beschreibt in seiner Allgemeinen Verführungstheorie die unbewusste Verführungssituation zwischen Eltern und Kindern, die mit den unvermeidlichen Pflegehandlungen einhergeht, als anthropologische Konstante.

Welche Folgerungen können aus einem solchen Verständnis der Entstehung des Sexuellen für die pädagogische Praxis aus Sicht der psychoanalytischen Pädagogik gezogen werden? Thilo Maria Naumann hält die Selbstbestimmung hinsichtlich des eigenen Körpers und der eigenen Gefühle sowie die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, für vorrangig. Es geht um die Stärkung von Ich-Identität und Bezugsgruppenidentität. Respektvoller Umgang mit anderen, Empathie für Vielfalt und aktives Eintreten gegen Ungerechtigkeit sollten pädagogische Imperative sein, und deshalb plädiert Naumann für ein freundliches Über-Ich und eine Gruppenkultur mit affekt-, körper- und kommunikationsfreundlicher Atmosphäre.

Naumann bezieht sich in seinem unveröffentlichten Manuskript auf Texte von Ilka Qindeau: „Jedwede sexuelle und geschlechtliche Identität, ob hetero-, homo-, bi- oder asexuell, ob männlich, weiblich, trans - oder intersexuell, ist (…) kein Ausdruck bloßer Natur, sondern ebenso kontingent wie kulturell überformt und im Sinn von ‚Umschriften‘ lebenslang veränderbar.“

Mit Verweis auf Judith Butler kritisierte Naumann die binäre Entgegensetzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Hetero- und Homosexualität. Stattdessen müsse von einer Vielfalt von Männlichkeit und Weiblichkeit ausgegangen werden, gehe es um flexiblere Konstruktionen von sexueller und geschlechtlicher Identität. Die Vielfalt von Identitäten sei zu begrüßen. Subjektwerdung sei zu verstehen als ein Prozess, der über eine Identifizierung mit einer bestimmten Identität hinausweise.

Kinder in Regenbogenfamilien

In der Arbeitsgruppe „Sexuelle Orientierung und Familie - von traditionellen, egalitären und Regenbogenfamilien“ ging es um die professionelle Haltung im pädagogischen Bereich. Kinder und Jugendliche dürften nicht, so war der Konsens in der Gruppe, für eigene Zwecke „verwendet“ werden. Wünschenswerte Zielsetzungen und Entwicklungen in pädagogischen Institutionen kollidieren oft mit der ernüchternden Realität. Es gelte immer noch eine weitverbreitete geschlechtshierarchische Arbeitsteilung. Die heterosexuelle Matrix bestehe aus zwei Geschlechtern, Heteronormativität dominiere den öffentlichen Diskurs. Allerdings kommt Bewegung in diese Verhältnisse. In dem Zusammenhang ist es interessant, sich die von Naumann vorgestellten sechs Vätertypen zu vergegenwärtigen, die als Ergebnis einer Studie „Neue Väter - andere Kinder?

Vaterschaft, familiale Triade und Sozialisation“ von Andrea Bambey und Hans-Walter Gumbinger am Frankfurter Institut für Sozialforschung unterschieden werden: „Fünf von sechs ermittelten Vatertypen lassen sich im weitesten Sinne dem traditionellen Vaterentwurf zuordnen. Sie verdeutlichen die Wirkmacht traditioneller Vaterschaft ebenso wie ihre Verunsicherung angesichts des Wandels der Geschlechterverhältnisse. (…) Der sechste Typ, der egalitäre Vater ist immerhin mit 28,5 % vertreten.“ (Thilo M. Naumann, unveröffentlichtes Manuskript)

Für die Entwicklung von Kindern ist es förderlich, wenn sie aus einer Familie kommen, in der weibliche Bezugspersonen Unabhängigkeit vorleben und männliche Bezugspersonen „Gefühle der Nähe und der Abhängigkeit nicht abwehren müssen“ (Naumann). Bestätigt werde dies durch die Resilienz­forschung, die zudem darauf verweise, dass resiliente Kinder ein deutlich geringeres geschlechterklischeehaftes Verhalten zeigen, „sodass Resilienz offenbar dann gedeiht, wenn Mädchen Selbstbestimmung und Exploration, Jungen Emotionalität und Empathie genügend gut integrieren können“.

Abhängig von den in der Studie herausgestellten Vatertypen kommen Kinder mit ganz unterschiedlichen Geschlechtsrollenbildern in die Schule, was ein entsprechendes Konfliktpotenzial birgt. Die gesellschaftliche Realität ist aber noch ein wenig komplizierter. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch spricht in seiner jüngsten Veröffentlichung von einer „neosexuellen Revolution“, die zu einer Vervielfältigung von Geschlechtern und Begehrensweisen beigetragen habe. Facebook Deutschland hat gemeinsam mit dem Lesben- und Schwulenverband (LSVD) 60 Auswahlmöglichkeiten ausgearbeitet, um die eigene geschlechtliche Identität anzukreuzen. Infolge der „neorevolutionären“ Veränderungen wächst zunehmend die Zahl von Regenbogenfamilien, auch LGBTIQ-Familien genannt.

Regenbogenfamilien leiden oft unter Diskriminierung, Gewalt und Vorurteilen: Kinder aus solchen Familien hätten Schwierigkeiten, Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit auszubilden und könnten keine stabile Beziehung lernen. Außerdem bestehe in solchen Regenbogenfamilien die Gefahr der Verführung von Kindern und von sexueller Gewalt. Diese Vorurteile, das betont Thilo Naumann ausdrücklich, seien empirisch widerlegt worden:

  • Regenbogenfamilien liegt eine bewusste Entscheidung für Kinder zugrunde.
  • In der Regel handelt es sich um eine egalitäre Partnerschaft mit egalitärer Arbeitsteilung und Beziehungsarbeit.
  • Kinder aus Regenbogenfamilien entwickelten sich in der Regel gut, zeigten keine signifikanten Geschlechtsidentitätsprobleme, verfügten über Empathie und Toleranz und reagierten aktiv auf Ungerechtigkeiten.

Die skizzierte Vielfalt der gegenwärtigen Familienlandschaft, wobei noch nicht die wichtigen Gruppen der Ein-Eltern-Familien und die Familien mit Migrationshintergrund einbezogen wurden, lässt ahnen, dass die kontinuierlich steigenden Ansprüche an Lehrerinnen und Lehrer und andere pädagogische Fachkräfte von Verunsicherung begleitet sind. Wie kann, wie sollte in der pädagogischen Arbeit mit dieser Diversität angemessen umgegangen werden? Zu diesem Punkt waren auf der Fachtagung vor allem zwei Hinweise zu vernehmen: In pädagogischen Institutionen müsse es „genügend angstfreie“ Räume geben sowie die Bereitschaft zur kontinuierlichen Selbstreflexion der Fachkräfte.

Zum Weiterlesen empfiehlt Thomas Adamczak Heft 7/2015 der Zeitschrift „Psyche“ mit dem Titelthema „Sexuelle Verhältnisse“.