Macht Musik klug?

Bedeutung und Zukunft des Musikunterrichts | HLZ 7-8 2024

„Musik macht Kinder intelligenter und sozial kompetenter“, „Musik fördert die Sprachentwicklung und die Konzentrationsfähigkeit“, „Wer Musik macht, wird aufmerksamer und empathiefähiger“. Alle, die Musik unterrichten, kennen diese und ähnliche Behauptungen über mögliche Wirkungen der Musik und häufig genug werben Musikangebote mit solchen Versprechen.
 

Wenn es um die Bedeutung des Musikunterrichts geht, dann greifen aber auch Musikpädagog:innen gerne und häufig auf diese sogenannten Transfereffekte zurück. Die Bedeutung der Musik und des Musikunterrichts werden durch ihre Bedeutung für die Förderung außermusikalischer Fähigkeiten belegt. Auch ganz aktuell, in den Reaktionen auf die Kürzungspläne für kreative Fächer in einigen Bundesländern, werden die Entwicklung von Persönlichkeitsbildung, Zukunftskompetenz, sozialen Fähigkeiten, Konzentrations- oder Sprachfähigkeiten als Argumente gegen diese Kürzung genutzt. Abgesehen davon, dass solche Wirkungen der Musik in wissenschaftlichen Studien nur in sehr begrenztem Maß nachgewiesen werden konnten, schmälert und verschleiert eine solche Argumentation die tatsächliche Bedeutung des Musikunterrichts.


Musikunterricht als spezifischer Teil kultureller Bildung

Musik prägt das Leben der meisten Menschen entscheidend. (Fast) jeder Mensch hört oder nutzt Musik. Aktuelle Studien zur Mediennutzung Jugendlicher bestätigen die Dominanz des Musikhörens und dessen Bedeutung im Alltag. Musik zu hören und sich darüber zu verständigen gehört zum alltäglichen Leben, bildet einen wesentlichen Teil nicht nur der Identität Jugendlicher. Das Musikmachen in unterschiedlichsten Formen (formal und nonformal) gehört zu den wesentlichen Freizeitbeschäftigungen. Jugendliche nutzen in ihrem Umgang mit Musik immer stärker auch das Potenzial digitaler Musikproduktion.
 

Ausgangspunkt des Musikunterrichts ist die Grundannahme, dass jeder Mensch ein musikalisches Potenzial mitbringt, das im Rahmen seiner individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden kann. Die Schule ist (bisher) der einzige Ort, der allen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von kultureller, sozialer oder ethnischer Herkunft, frühzeitig eine gezielte musikalische Förderung bieten kann. Die Spezifik der Musik liegt, neben ihrem besonderen emotionalen Gehalt, vor allem darin, dass sie stärker als andere Künste als kommunikative und soziale Praxis wirken kann. Beim Musikmachen in Gruppen geht es um Gleichzeitigkeiten. Die Fähigkeit, aufeinander zu achten, aufeinander zu hören und zu reagieren, die in anderen Bereichen oft mühsam angebahnt werden muss, ist beim Musikmachen eine in der Sache Musik angelegte selbstverständliche Grundbedingung und Voraussetzung. Das macht Musikunterricht in der Schule als spezifischen Bestandteil kultureller Bildung unverzichtbar.


Musik als Tätigkeit

Musikunterricht war lange Zeit ausschließlich auf das Singen ausgerichtet. Durch die Kritik Adornos in den 1950er Jahren, mit der er den Vorrang des Musikmachens vor der Qualität der dabei entstehenden Musik angriff, wandelte sich der Musikunterricht zum wissenschafts- und kunstwerkorientierten Fach, in dem musikalische Praxis nur noch eine geringe Rolle spielte, sondern in dem das Hören und Analysieren von Musik und der Erwerb von Wissen über Musik im Zentrum standen.
 

In der aktuellen Musikpädagogik hat sich eine praxeologische Sichtweise auf die Musik und den Musikunterricht etabliert (vgl. Jank, 2021, 61). Ganz konkret ist damit gemeint, dass nicht mehr die historischen oder aktuellen Werke den Ausgangspunkt des Musikunterrichts bilden, sondern es vielmehr um den Umgang mit der Musik geht, um das, was Menschen musikalisch tun können. Vom Objekt Musik verlagert sich der Schwerpunkt wieder auf das Subjekt, das sich hörend, sprechend, musizierend, bewegend, improvisierend, komponierend oder reflektierend Musik in ihren unterschiedlichsten Formen erschließt.
 

Vielfalt als Prinzip

Die mit der Sicht auf Musik als soziale Praxis eingeleitete Entwicklung prägt den Musikunterricht bis heute. Lernende werden in der Folge immer stärker als Gestalter:innen des eigenen musikalischen Lernens gesehen. Neuere musikdidaktische Konzeptionen orientieren sich am Begriff der ästhetischen Erfahrung, an kommunikativen Prozessen oder am Prinzip eines Aufbaus von Kompetenzen.


Nicht nur konzeptionell ist Musikunterricht immer stärker gekennzeichnet durch Vielfalt. Zu einem breiten Verständnis musikalischer Bildung gehört die Förderung der verschiedenen musikalischen Ausdrucksbereiche, ein Umgang mit Musik sowohl durch musikpraktische Gestaltungsprozesse als auch durch Formen des Hörens und Reflektierens. Durch Singen, das Spielen auf den unterschiedlichsten Instrumenten, Musik erfinden, durch Übertragung von Musik in Bilder, Bewegung oder Darstellung, durch das Musikhören, das Sprechen und Nachdenken über Musik und auch durch den Erwerb musikalischen Wissens können Kinder und Jugendliche einen jeweils eigenen Zugang zur Musik finden. Diese Vielfalt von Umgangsweisen mit Musik repräsentiert das Hessische Kerncurriculum mit den Kompetenzbereichen Musik machen, Musik hören, Musik umsetzen/transformieren, Musikkultur erschließen (wobei es hier eher Musikkulturen heißen müsste).


Um eine musikalisch anregende Lernumgebung zu schaffen, berücksichtigt Musikunterricht also die Vielfalt musikalischer Erscheinungsformen und die Vielfalt unterschiedlicher musikalischer Welten von jungen Menschen, auch mit der Nutzung digitaler Medien. Er fördert damit ebenso kulturelle Teilhabe wie kulturelle Toleranz gegenüber unterschiedlichen musikalischen Stilen und Vorlieben. Musikunterricht zielt auf eine umfassende Förderung musikalischer Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Ausdrucksfähigkeit. Er zielt auf das selbstbewusste Erleben der eigenen musikalischen Kompetenz, also auf ein musikalisches Selbstbewusstsein, das einen selbstbestimmten und eigenverantworteten Umgang mit Musik ermöglicht und dem Lernen eine subjektive Bedeutsamkeit verleihen kann.


Musikunterricht und Heterogenität

In vielen musikdidaktischen Ansätzen wird der Musikunterricht als besonders geeignetes Fach für differenzierte Herangehensweisen und für einen konstruktiven Umgang mit Heterogenität gesehen (vgl. Klingmann/Schilling-Sandvoß, 2022, 105). In der Inklusionspädagogik wird sogar das Bild des Orchesters verwendet als Symbol für kooperative Lernformen, die nur durch positive Abhängigkeits- und Ergänzungserfahrungen zu gelungenen Ergebnissen führen können. Wenn Musikunterricht als besonders geeignet bezeichnet wird, dann, weil im musikalischen Gestalten die besondere Möglichkeit gesehen wird, die eigene Individualität innerhalb eines gemeinsamen Produkts zu erleben. In Musizierprozessen reagieren Schüler:innen gestaltend aufeinander und koordinieren sich untereinander. Sie erleben, dass es unterschiedliche Aufgaben braucht, um ein komplexes Musikstück gemeinsam zum Klingen zu bringen und können Vielfalt als Chance für gelingendes Musizieren erleben.
 

Um einen solchen wertschätzenden Umgang mit Heterogenität und die Anerkennung von Vielfalt als selbstverständliche Bedingung gelingender musikalischer Lernsituationen auch weiterhin in der Schule etablieren zu können, werden ausreichende personelle, materielle, finanzielle organisatorische und strukturelle Rahmenbedingungen und Ressourcen benötigt.


Musikunterricht (in) der Zukunft

Nicht nur die Hochschulen beschäftigt aktuell der Mangel an für die Schule ausgebildeten Musiklehrer:innen. Um die Gründe für diese Situation besser verstehen zu können, haben sich 33 Hochschulen mit über 70 Teilprojekten an einer bundesweiten Studie beteiligt (Bundesfachgruppe Musikpädagogik (Hrsg.), 2024). Die ganz aktuell veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass die Gründe einerseits in strukturellen Bedingungen des Systems Hochschule (Hürde der Eignungsprüfung, Passung von musikalischen Interessen mit den Angeboten von Musikhochschulen) und anderseits in den strukturellen Bedingungen des Systems Schule (Image und Arbeitsbedingungen von Musiklehrkräften, fehlende individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, eigene Erfahrungen in einem eher theoretisch ausgerichteten Musikunterricht) zu finden sind. Anhand der Ergebnisse dieser Studie lassen sich nun Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, um in der gemeinsamen Entwicklung von Schule und Hochschule den Musikunterricht und das Musikunterrichten zukunftsfähig zu gestalten.


Katharina Schilling-Sandvoß ist Professorin für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt.

Literatur

Bundesfachgruppe Musikpädagogik e.V. (Hrsg.) (2024): MULEM-EX. Musiklehrkräftebildung – eine explorative Studie. Hintergründe und Gründe für sinkende Zahlen in den Studiengängen für das Lehramt Musik. Rottweil.
Jank, Werner (2021): Musik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 9., überarbeitete Auflage. Berlin.
Klingmann, Heinrich/Schilling-Sandvoß, Katharina (Hrsg.) (2022): Musikunterricht und Inklusion. Grundlagen, Themen- und Handlungsfelder. Esslingen u.a.