Frühe Bildung: Mehr als Betreuung

Die Aufwertung des Kita-Bereichs muss weitergehen

HLZ 2022 9/10: Vorveröffentlichung

Massiver Fachkräftemangel, hohe Belastungen und gestiegene pädagogische Anforderungen nach zwei Jahren Corona. Diese Herausforderungen bestimmen aktuell die Arbeitssituation vieler Kita-Erzieher:innen in Hessen. Doch nach der Rückkehr zum Regelbetrieb ist klarer denn je: Wenn die frühe Bildung auch zukünftig ihrem Bildungsauftrag gerecht werden soll, muss die Aufwertung des Berufsfelds der Frühpädagogik weitergehen. Dazu gehören weitere Schritte zur Professionalisierung des Erzieher:innen-Berufs, bessere Arbeitsbedingungen in den Kitas und eine Reform der Ausbildung der zukünftigen Kolleg:innen.

Spätestens die Corona-Krise und deren Folgen haben das derzeit drängendste Problem in den Kitas in Hessen offensichtlich gemacht: Den eklatanten Fachkräftemangel. Dieser Zustand ist zwar keineswegs neu, hat sich aber während der letzten beiden Jahre verschärft. Die Folge ist, dass die Kita-Praxis auch nach Wegfall der meisten Corona-Einschränkungen eher an einen Ausnahmezustand erinnert als an Regelbetrieb. In vielen Einrichtungen äußert sich das in ständig eingeschränkten Öffnungszeiten, einem hohen Krankenstand unter den Kolleg:innen und nach wie vor reduzierten Bildungsangeboten für die Kinder.

In Zahlen liest sich das Ausmaß des Fachkräfte-Problems eher nüchtern: Rund 9000 pädagogische Fachkräfte fehlen laut dem Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2021 der Bertelsmann-Stiftung aktuell in Hessen, um einen kindgerechten Personalschlüssel umzusetzen. Und das Problem wird sich in den nächsten Jahren noch drastisch verschlimmern. Bis 2030 prognostiziert der Länderreport eine Fachkräftelücke von etwa 27.000 ausgebildeten Pädagog:innen, um den wissenschaftlichen Empfehlungen an eine kindgerechte Betreuung und professionelle Leitungsausstattung gerecht zu werden. „Damit diese Lücke geschlossen werden kann“, so der Report, „müsste die Zahl der prognostizierten Neuzugänge um fast 133 % gesteigert werden“ (1).

In dieser Prognose ist der zusätzliche Personalbedarf durch den geplanten Rechtsanspruch auf Ganztag in den Grundschulen ab 2026 bereits berücksichtigt (HLZ 7-8/2022). Die aktuell nur langsam steigenden Ausbildungszahlen in Hessen werden diesen Personalbedarf nicht decken können.

Dabei stellt sich die Arbeitssituation von Kita-Erzieher:innen bereits zum jetzigen Zeitpunkt äußerst schwierig dar. Über 19.000 Kita-Beschäftigte haben sich 2021 am bundesweiten „Kita-Personalcheck“ der Gewerkschaft ver.di beteiligt. Die Ergebnisse der Befragung machen deutlich, dass viele Kolleg:innen täglich „am Limit“ arbeiten und eher eine notdürftige Beaufsichtigung der Kinder als eine pädagogische Begleitung von Bildungs- und Lernprozessen sicherstellen können. 44 % der Befragten gaben an, zu Spitzenzeiten für mehr als 17 Kinder gleichzeitig verantwortlich zu sein. Mehr als 45 % erklärten, dass sie aus Zeitgründen im Alltag nicht genügend auf die Wünsche und Probleme der betreuten Kinder eingehen könnten. 30 % der Kolleg:innen gaben an, ihren eigenen pädagogischen Ansprüchen im Alltag nicht gerecht werden zu können (2).

Unter diesen Bedingungen ist der Bildungsauftrag der Kita nur schwer zu erfüllen. Wie sollen Kinder mit ihren Wünschen und Bedürfnissen wahrgenommen werden, wenn so viele Fachkräfte fehlen? Wie sollen sie mit Blick auf ihre individuellen Stärken und Schwächen gefördert werden, wenn im Alltag die Zeit fehlt? Und welchen Beitrag können Kitas unter chronischem Personalmangel dazu leisten, um allen Kindern gute Startchancen im Bildungssystem zu bieten und die soziale Ungleichheit zu reduzieren, mit der die Kinder bereits in die Kita kommen? Alle Beteiligten in der Praxis und die Bildungsforschung sind sich einig: Gute Bildung kann nur mit qualifiziertem Fachpersonal realisiert werden.

Zugespitzt könnte man sagen: Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, dass der Beruf von Erzieher:innen zwar „systemrelevant“ für die Gesellschaft ist, aber noch längst nicht attraktiv genug, dass sich genügend Berufseinsteiger:innen für ihn entscheiden würden. Das bedeutet aber auch, dass Fachkräfteoffensiven wie die aktuelle Kampagne des Bundesfamilienministeriums nur dann zum Erfolg führen werden, wenn das Berufsbild von Erzieher:innen weiterentwickelt und das gesamte Berufsfeld der Frühpädagogik aufgewertet wird. Dazu zählen weitere Schritte zur Professionalisierung des Berufs, eine Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und eine Reform der Ausbildung.

Notwendige Schritte zur Professionalisierung


Vor 20 Jahren rückte der Beruf von Erzieher:innen mit dem sogenannten „PISA-Schock“ in den Fokus der bildungspolitischen Diskussion: Kitas sollten sich zu elementaren Bildungseinrichtungen weiterentwickeln und Erzieher:innen stärker die Rolle von Begleiter:innen frühkindlicher Lernprozesse einnehmen. Wie auch immer man die politischen Absichtserklärungen damals bewertete, so war mit ihnen doch ein großes Professionalisierungsversprechen verbunden.

Seitdem haben viele Bundesländer Bildungs- und Erziehungspläne eingeführt und der Kita-Bereich wurde in einer erstaunlichen Größenordnung ausgebaut. Laut Bildungsbericht 2022 wurden in den letzten 15 Jahren 800.000 neue Kinderbetreuungsplätze in Deutschland geschaffen (3). Doch das Berufskonzept von Erzieher:innen hat sich in dieser Zeit zu wenig den neuen Bedingungen angepasst.

Bis heute hat sich der Erzieher:innen-Beruf nicht vollständig vom Berufskonzept eines „weiblichen karitativen Berufs“ befreien können, als der er im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Damit weist er viele strukturelle Nachteile auf, mit denen Care-Arbeit – also soziale Fürsorge- und Pflegearbeit – bis in die Gegenwart zu kämpfen hat: Zu wenig gesellschaftliche Wertschätzung, unterdurchschnittliche Bezahlung, lange Ausbildungszeiten und wenig berufliche Aufstiegschancen (4). Aus diesem Grund ist es wichtig, den Beruf von Erzieher:innen moderner zu gestalten und stärker in Richtung einer professionellen Bildungsarbeit, wie sie z.B. Grundschullehrer*innen leisten, weiter zu entwickeln. in eg dortzhin könnte darin bestehen, die Ausbildung zu reformieren und mehr Weiterbildungsangebote im Praxisfeld zu schaffen.

Zur Anerkennung der Tätigkeit von Erzieher:innen als Bildungsarbeit gehört aber auch, dass Pädagog:innen nicht einfach durch nicht qualifiziertes Personal ersetzt werden. In Hessen wurde dieser fragwürdigen Praxis vieler Träger während der Pandemie durch die Öffnung des Fachkräftekatalogs Vorschub geleistet. Ein solcher Schritt befördert die Vorstellung, um Kinder zu bilden, reiche „etwas Einfühlungsvermögen“ und eine 160-Stunden-Einführung „on the job“.

Arbeits- und Entlohnungsbedingungen verbessern


Mit den Tarifergebnissen 2022 wurden einige wichtige Verbesserungen für Erzieher:innen durchgesetzt (HLZ S. 16). Doch die erzielten Entgeltzulagen, Entlastungstage und angepassten Stufenlaufzeiten können nur erste Schritte eines langen Weges zur Aufwertung des Berufs sein. Die Arbeitbedingungen in den Kitas müssen sich so weit verbessern, dass nicht nur Betreuung, sondern qualitativ gute Bildungsarbeit möglich ist. Dazu gehören kleinere Gruppen, eine bessere Fachkraft-Kind-Relation, Vorbereitungszeiten und eine Entlohnung, von der man trotz steigender Existenzkosten gut leben kann und die nicht zur Altersarmut führt.

Nur mit einer Reduzierung der Arbeitsbelastungen kann die hohe Fluktuation im Beruf begrenzt und eine Bindung der Fachkräfte im Arbeitsfeld gesichert werden. Eine bundesweite Längsschnittstudie ergab 2018, dass fast ein Viertel der Kita-Fachkräfte mit fachschulischer oder hochschulischer Ausbildung schon innerhalb der ersten fünf Jahre nach ihrem Berufsstart das Arbeitsfeld der frühen Bildung wieder verlässt. Dieses Ergebnis zeigt, dass nicht nur über die Neugewinnung von Personal, sondern auch über dessen langfristige Bindung nachgedacht werden muss – und dass gute Arbeitsbedingungen dabei eine zentrale Rolle spielen (5).

Ausbildung von Erzieher:innen reformieren


Schließlich muss die Ausbildung von Erzieher*innen noch attraktiver werden, damit sich mehr junge Leute für diesen Beruf entscheiden. Dass es hier Verbesserungsbedarf gibt, zeigt die Tatsache, dass die Ausbildungszahlen in Hessen in den letzten Jahren nur moderat angestiegen sind.

In einem Diskussionspapier hat die GEW kürzlich ihr Konzept für eine reformierte Erzieherausbildung vorgestellt. Darin schlägt sie einen bundeseinheitlichen Ausbildungsrahmen mit verbindlichen Qualitätsstandards vor.  Die Ausbildung muss komplett gebührenfrei und praxisintegriert sein, von Anfang an vergütet und durch eine qualifizierte Praxisanleitung begleitet werden. Außerdem muss sie berufliche Anschlussperspektiven, zum Beispiel für ein Hochschulstudium, bieten (6).

Langfristig sollte darüber hinaus über die Anhebung der Ausbildung auf Fachhochschulniveau nachgedacht werden, um den gestiegenen Anforderungen an die frühe Bildung gerecht zu werden. Eine solche akademische Grundbildung könnte angehende Erzieher:innen in Zukunft für ein weites Spektrum pädagogischer Tätigkeiten qualifizieren und ihnen neue Karrierewege im sozialpädagogischen Bereich ermöglichen.

Im Resümee ist unsere Botschaft einfach: Wenn die Politik eine zukunftsfähige frühe Bildung mit genug Fachpersonal möchte, dann muss sie auch die nötigen Bedingungen dafür schaffen. Das gibt es weder für schöne Worte noch zum Nulltarif.

Der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge hat vor kurzem einen „Masterplan für Bildung“ gefordert, um die Folgen der Corona-Pandemie für Kinder, Jugendliche und deren Familien abzufedern und die im Zuge der Krise verschärften sozialen Ungleichheiten auszugleichen (7). Die frühkindliche Bildung sollte ein zentraler Bestandteil eines solchen Masterplans sein.

Nadine Wurster und Simon Benecken


Nadine Wurster und Simon Benecken sind GEW-Mitglieder und Vorsitzende des Betriebsrats des Sozialpädagogischen Vereins, einem großen freien Kita-Träger in Frankfurt am Main44

Vermerk: Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erscheint in der HLZ 9-10-2022 im Rahmen des Schwerpunktthemas "Soziale Arbeit"

(1)   Bertelsmann-Stiftung (2021): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2021. Transparenz schaffen – Governance stärken. Lämnderprofil Hessen, S. 3. Zugriff unter: https://www.laendermonitor.de/fileadmin/files/laendermonitor/laenderprofile_2021/Laenderprofil_HE_2021.pdf

(2)   Nikolaus Meyer/Elke Alsago (2021): Ergebnisse des ver.di Kita-Personalcheck. Alltag pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, S. 14-16. Zugriff unter: https://sozialearbeit.verdi.de/arbeitsbereiche/ kindertageseinrichtungen-horte-ganztagsschule/++co++70c3125a-38ac-11ec-9b5b-001a4a160100

(3)   DJI: Bildungsbericht 2022: Die Pressemitteilung hierzu findet sich unter: https://www.dji.de/veroeffentlichungen/pressemitteilungen/detailansicht/article/1149-bildungsbericht-2022-fachkraeftemangel-draengendstes-problem-der-fruehen-bildung.html

(4)   Ausführlicher nachzulesen in: Helga Ostendorf (2018): Erzieherin. Ein reformbedürtiger Beruf. Zugriff: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/277020/erzieherin-ein-reformbeduerftiger-beruf/

(5)   Mariana Grgic (2019): Gekommen, um (nicht) zu bleiben. Ein Beitrag aus dem Forschungsmagazin des Deutschen Jugendinstituts, Impulse, 1/19, Nr. 121. Darin wird auf die Längsschnittstudie von Müller/Thiesen/Fuchs-Rehlin von 2018 eingegangen. Zugriff unter: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/300367/gekommen-um-nicht-zu-bleiben

(6)   Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (2022): Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher zukunftsfähig gestalten. Zugriff unter: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/ausbildung-der-erzieherinnen-und-erzieher-zukunftsfaehig-gestalten

(7)   Christoph Butterwegge (2022): Masterplan für Bildung nötig. In: Erziehung & Wissenschaft (E&W) 05/2022, S. 34-35: Zugriff unter: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/masterplan-fuer-bildung-noetig