Das Verschwinden der Empathie

Gesellschaftliche Krisen fördern Frustration und Einsamkeit

HLZ Mai 2023: Soziale Arbeit

In einer Studie von 2011 wurde festgestellt, dass Empathie bei Studierenden in den USA in einem Zeitraum von 30 Jahren zwischen 1979 und 2009 um 48 % gesunken war. Der größte Schwund ergab sich ab dem Jahr 2000. Auch die Fähigkeit zur Perspektivübernahme sank in dieser Zeit um 34 % (1). Im gleichen Zeitraum verzeichnete der Narzissmus in den USA neue Höhenflüge, man sprach sogar von einer narzisstischen Epidemie.
Dieser dramatische Zerfall von Empathie bei gleichzeitig epidemischer Ausbreitung narzisstischer Tendenzen wird hauptsächlich mit folgenden gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung gebracht:

  • dem Siegeszug und der massiven Nutzung der neuen Medien, hier vor allem von Facebook und Co ab dem Jahre 2000,
  • der fortschreitenden Individualisierung und damit zusammenhängend vermehrten kompetitiven Orientierungen sowie Beschleunigungs- und Optimierungszwängen und schließlich
  • der Auflösung sozial kohäsiver Netzwerke (Vereine, Jugendverbände etc.)


Bildschirmbeziehung statt Augenkontakte
Aus diesem Zusammenwirken unterschiedlicher Transformationsprozesse ergab sich ein Paradox: Während die Zahl von Freunden auf Facebook rasant anwuchs, spiegelte sich dies umgekehrt proportional wider im realen Leben, wo sich Freundschaften immer mehr verflüchtigten. Untersuchungen haben verdeutlicht, dass die Zahl an verlässlichen Freunden zwischen 1985 und 2010 in den USA um ein Drittel gesunken ist. Die „smartphonefixierte Kultur des gesenkten Blicks, die auch im Sozialraum Augenkontakte durch Bildschirmbeziehungen ersetzt, birgt per se ein Entfremdungspotential“ (2).

Es hat sich ein depressives Lebensgefühl eingeschlichen, das zeitweise noch narzisstisch abgewehrt werden kann, das aber auf Dauer ein Gefühl hinterlässt, abgehängt, verraten, verkauft, alleingelassen, verletzt und beschämt zu sein. Für Hartmut Rosa ist diese Beschreibung Ausdruck einer Erschöpfungskrise, da „die strukturell institutionalisierte und kulturell legitimierte Strategie der Weltreichweitenvergrößerung (…) zu voranschreitenden Formen des Weltverlustes und damit zu einem Verstummen der Resonanzachsen führt“ (3).

Diese Weltreichweitenvergrößerung, das heißt immer mehr, schneller, besser, höher, weiter, stößt jedoch an physische und psychische Grenzen des Menschen, die nicht unendlich steigerungsfähig sind. In diesem unaufhaltsamen Wachstumswahn geht die Beziehung zur realen Welt, zur Natur wie auch zum vertrauten Nächsten verloren.  Symptome dieses Weltverlustes und des Verstummens von Resonanzräumen sind unter anderem eine Demokratiekrise, Entsolidarisierungserscheinungen, das Auftreten eines „Wutbürgertums“ und Tendenzen einer Exklusion von angeblich „Überflüssigen“, von Flüchtlingen, Kranken oder Gefangenen (4).

Dieser Zusammenhang von schwindender Empathie, von Resonanzverlust und politischer Destabilisierung wird auch in einem Bericht des World Economic Forum (5) hervorgehoben. Hier wird der Rückgang an Empathie mit der zunehmenden Vereinzelung des Menschen in Verbindung gebracht.

Trotz aller digitalen Kontakte fühlen sich Menschen global betrachtet immer weniger verbunden und stärker isoliert. Diese Entwicklung steuert mit der weiteren Entwicklung von künstlicher Intelligenz auf eine äußerst dramatische Krise zu, denn nun werden die Trennlinien zwischen Mensch und Technologie immer stärker verwischt. Die Folgen sind eine signifikante Zunahme der Einsamkeit von Menschen weltweit und die Erfahrung einer wachsenden sozialen Polarisierung und eines damit zusammenhängenden Verschwindens von Empathie. Dies betrifft aber nicht nur das Prekariat, sondern auch die Mittelschicht. Ein Indiz dafür ist die Zunahme von Single-Haushalten: In den USA, aber auch in Deutschland haben sich innerhalb der letzten 50 Jahre die Single-Haushalte verdoppelt.

Frustration und Einsamkeit
Als wichtiger Befund hebt der Bericht hervor, dass Menschen zunehmend emotional vereinsamen, Familien zerbrechen und Bindungen verloren gehen. Diese Erfahrung gerät aber in Widerspruch zu der Welt der „chat-rooms“, die überbevölkert sind von virtuell vorhandenen, aber nicht greifbaren Freunden und Freundinnen. Frustration und Einsamkeit drohen sich in Wut zu entladen. Diese Problemlage wird jedoch politisch nicht zur Kenntnis genommen. Der Einzelne erhält keine Antworten und erfährt keine Resonanz mehr und fühlt sich mit seinen Sorgen und seinen Bedürfnissen weder wahr- noch ernstgenommen.

Der erwähnte Global Risks Report 2019 geht davon aus, dass dies zu einer geopolitisch drohenden, globalen Destabilisierung von Demokratien führen könnte. Denn Frustration und Vereinsamung lassen sich offensichtlich leicht von Rechtspopulisten instrumentalisieren.

Ursachen dieser Entwicklung werden vor allem im Bedeutungszuwachs materialistischer Werte vermutet, aber auch in sich verändernden Erziehungsmethoden und der narzisstischen Aufladung von Kindern und in einem immer expansiver sich ausbreitenden digitalen Echo-Raum, in dem sich Menschen austauschen, die gleiche oder ähnliche Meinungen teilen. Eine Welt vereinsamter, frustrierter und zorniger, jedoch sozial abgekapselter Menschen, die keine Kommunikation mit Außenstehenden suchen, kann zu einem spannungsgeladenen Risiko für den Fortbestand globaler demokratischer Verhältnisse werden und zugleich die Chance verringern, komplexe, globale Risiken zu bewältigen.

Empathie und pädagogische Arbeit
Viele Philosophen haben sich mit dem Thema „Empathie“ beschäftigt, darunter Kant (1790), Nietzsche (1887) und Schopenhauer (1839). Trotz aller Unterschiede stimmen sie prinzipiell darin überein, dass Empathie eine der wichtigsten menschlichen Charaktereigenschaften ist. Sie befähigt uns nicht nur zu sozialen Beziehungen, zur Kontaktaufnahme und zur Kooperation, sondern sie stellt zugleich die entscheidende Grundlage des moralischen Handelns und des Gewaltverzichts dar.
Es ist vor allem Empathie, die uns als menschliche Wesen auszeichnet. Denn Empathie erlaubt uns resonante Beziehungen, ebenso wie Erfahrungen von Nähe, Verbundenheit und Zugehörigkeit. Von daher ist Empathie verantwortlich für unser Überleben. Denn ohne Empathie wäre die Menschheit nicht in der Lage, Solidarität, Loyalität, Mitgefühl und Mitleid auszubilden.

Aus psychologischer Perspektive stellt Empathie eine emotionale, mentale und kognitive Brücke zu einem anderen Menschen her, so dass es gelingt, einen Zugang zur Welt des Gegenübers zu finden, also die Welt aus der Perspektive des Anderen zu verstehen. Empathie ist in diesem Sinne die Fähigkeit zu erfassen, was andere denken, zu verstehen, was andere fühlen, und emotional auf die Situation einer anderen Person zu reagieren. Damit ist Empathie auch Grundlage aller pädagogischen und psychotherapeutischen Arbeit.

Diese Fähigkeit zur Empathie wird in der frühen Bindungserfahrung des Kindes entwickelt und die Qualität der Bindung ist ein essentielles Indiz für gelingende oder misslingende Entwicklungen von Empathie. Entscheidend ist dabei die Feinfühligkeit der Mutter und ob sie in der Lage ist, die Signale des Säuglings zu lesen und adäquat darauf zu reagieren. Diese Affektabstimmung und diese affektive Resonanz sind Vorläufer der Empathie. Im weiteren Entwicklungsverlauf ist Empathie dann verknüpft mit kognitiven und psychischen Prozessen der Reifung. Sich empathisch in andere Menschen einfühlen zu können, ist deshalb ein zentrales Kriterium und Indiz psychischer Gesundheit.

Gesellschaftliche Radikalisierung
Gesellschaftliche und religiöse Radikalisierungsprozesse führen dazu, dass eine Einfühlung in das Andere und eine Perspektivübernahme scheitern. Der Anspruch des Fremd-Verstehens wird als Zumutung empfunden und als Bedrohung der eigenen Identität erlebt. Das zeigt sich dann u.a. in menschenfeindlichen „Hate-Speeches“, Morddrohungen, Beleidigungen und wahllosen Beschimpfungen. Damit einher gehen Projektion und Spaltung, die z.B. bei evangelikalen und fundamentalistisch gesinnten Religionsanhängern, auch beim politischen Islam und bei Rechtsradikalen oder der AfD das Verhältnis zu jenen prägen, die nicht Teil der eigenen religiös, ethnisch oder sozial definierten Gemeinschaft sind.

Heimisch fühlt man sich dann nur noch in digitalen Echo-Räumen, wo man unter sich bleibt und letztendlich nur das Echo der eigenen Stimme hört. Hier fühlt man sich verstanden und stellt Ersatzbindungen her, wobei Kränkungen und individuelle Vereinsamung nicht mehr spürbar sind. Die inhaltliche Auseinandersetzung auf Like-Buttons oder Dislike-Buttons zu reduzieren, ist der einzig mögliche kommunikative Stil. Es gibt in den Echo-Räumen immer genügend Claqueure, die jedem zujubeln.
In dem Maße wie Empathie schwindet, wird der Fremde zum Feind erklärt und bekämpft, mit Worten und falls notwendig auch mit Taten. Es verschwinden Loyalität, Solidarität, Mitgefühl und Mitleid und es bleibt kein Raum mehr für Resonanz. Die Welt im Internet aber ist taub, tot, stumm, ohne Antwort, schweigsam, grau, feindselig und gleichgültig. Darauf wird mit einer innergesellschaftlichen Kriegserklärung reagiert. Die Wendung zum Rechtsradikalismus, zum Fundamentalismus und zum Fanatismus ist der Versuch, dieser Erfahrung ein neo-traditionalistisches Patriarchat entgegenzusetzen.

Diese Bewegungen sind deshalb so attraktiv, weil sie von der Notwendigkeit entlasten, sich mit Ich-fremden Ideen beschäftigen zu müssen, und weil sie auf der Empathieverweigerung gegenüber allem Nichtidentischen beruhen (6).

Prof. Dr. Elisabeth Rohr


Elisabeth Rohr war Professorin für Interkulturelle Erziehung an der Universität in Marburg bis 2013. Sie arbeitet in nationalen und internationalen Arbeitsfeldern als Gruppentherapeutin, Supervisorin, Coach und Consultant. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration, Flucht, Fundamentalismus und Beratung, zu denen sie vielfältig publiziert hat.

Eine Langfassung des Beitrags erschien in: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 2/2021, S. 126-141

(1) S. H. Konrath, E. H. O‘Brien and C. Hsing (2011). Changes in Dispositional Empathy in American College Students over Time: A Meta-Analysis. Download: faculty.chicagobooth.edu/eob/edobrien_empathyPSPR.pdf
(2) H. Rosa (2019). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt: Suhrkamp, S. 311 ff.
(3) ebenda S. 711
(4) ebenda S. 714
(5) World Economic Forum (2019). Global Risks Report 2019.
Download: www.weforum.org/reports/the-global-risks-report-2019
(6) H. Rosa a.a.O. S. 371