Der Offene Dialog

Soziale Arbeit: Ein ermutigender Erfahrungsbericht

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

Sarah Berens ist sozialpädagogische Fachkraft und Netzwerktherapeutin. Sie arbeitet seit mehreren Jahren mit dem Offenen Dialog und wirkt in den Weiterbildungen des Hamburger Psychiaters Volkmar Aderhold an der Ausbildung hessischer Fachkräfte mit.


Julia Bröhling-Kusterer, meine ehemalige Vorgesetzte, die im Betreuten Wohnen tätig war, arbeitete sechs Jahre in London in Einrichtungen des Mental Health System, wo sie eine enger verknüpfte und sprachlich offenere Art des Arbeitens kennenlernte. Als sie wieder an ihre alte Stelle zurückkehrte, war sie erschrocken, auch nach sechs Jahren noch dieselben Klient:innen anzutreffen: Offensichtlich wurde die Entwicklung in ein autonomeres Leben institutionell nicht gefördert, sondern wohl eher gar nicht für möglich gehalten. Das frustrierte sie derart, dass ihr ein Wiedereinstieg zunächst kaum vorstellbar schien. Mit dem Angebot, ein Start-up im Bereich der Integrierten Versorgung zu leiten, hatte sie dann aber die Möglichkeit, ihre Visionen von Verselbständigung und ambulanter bedürfnisorientierter Behandlung vernetzt und innerhalb der Lebenswelt der Betroffenen umzusetzen. Im Rahmen ihrer Weiterbildung für die Arbeit mit dem Offenen Dialog wurde ihr deutlich, wie zentral, prägend und bedeutsam die Würdigung tiefer Gefühle ist und welchen heilsamen Einfluss dies auf die Genesung haben kann.
 

Ein Konzept der bedürfnisangepassten Behandlung

Ich kam motiviert in ihr Team. Wir waren beseelt von der Idee, Menschen nicht institutionell zu binden, sondern sie ihrem Bedarf entsprechend innerhalb ihrer Krisen zu begleiten und sie dabei in ihrer Krisenkompetenz zu stärken. Seit 2015 konnten wir so rund 1.000 Menschen begleiten.


Die Idee des Offenen Dialogs und das Konzept der bedürfnisangepassten Behandlung erlösten nicht nur uns, sondern vor allem die Betroffenen aus der Stagnation der (stationären) Hilfesysteme, hin zu einem selbstbestimmteren Leben, mit der Erfahrung, erhobenen Hauptes – also durch eigene und familiäre Ressourcen - aus einer Krise getreten zu sein. Täglich wurde uns bewusster, wie wichtig eine selbstbestimmte, niedrigschwellige und vor allem flexible Unterstützung für die Menschen ist. Der Einbezug des Netzwerks rührte uns und die Betroffenen mehrfach zu Tränen: Angehörige fühlten sich oft erstmals mit ihren Sorgen gehört. Sie fanden heilsame Räume, um über Zwangseinweisungen zu sprechen, die von Eltern, Eheleuten, Geschwistern oder Kindern im Gefühl der eigenen Hilflosigkeit veranlasst wurden und deutliche Narben oder Brüche in der Beziehung hinterließen. Wir konnten beobachten, dass sich Betroffene wahrhaftig von ihren Angehörigen verstanden fühlten, weil es ihnen gelang, ihr Erleben in diesem Rahmen zu offenbaren. Gleichzeitig wurden Angehörige entlastet, weil sie erkennen konnten, dass sie selbst aus der Ohnmacht befreit wurden und sie die Krisen nicht mehr „für“ andere managen mussten.


Innerhalb des Teams entstand eine besondere Verbundenheit und Nähe, die wir auch heute noch nach Ende des Projekts spüren und für einmalig halten. Untereinander empfanden wir keine Notwendigkeit mehr für schützende Barrieren; wir begegneten uns in tiefer Aufrichtigkeit, Offenheit und Achtung. Wir haben das Konzept und die Haltung des Offenen Dialogs aufgesogen und auch untereinander gelebt, was uns von Supervisor:innen, Nutzer:innen und Praktikant:innen gespiegelt wurde. Eine besondere Empathie und Feinfühligkeit zeigten psychiatrieerfahrene Genesungsbegleiter:innen, die nach einer Ausbildung Erkrankte bzw. Genesende begleiten, die ebenso Teil des Teams waren.
 

Hohe Zufriedenheit und Wirksamkeit

Die Zufriedenheit der Nutzer:innen drückte sich in einer internen Befragung, die ich 2017 im Rahmen meiner Masterthesis durchführte, mit einer Bewertung von 9 auf einer zehnstufigen Skala aus. Zentrale Elemente waren der Rückgang der stationären Aufenthalte und das Wissen der Nutzer:innen um die kurzfristige Erreichbarkeit im Fall einer Krise. Die Beziehungen zwischen Mitarbeiter:innen und Klient:innen wurden fast ausnahmslos als hochkooperativ, kollaborierend und motiviert beschrieben. Gründe sind die Internalisierung der Wertschätzung, der sehr transparente und „menschliche“ Umgang miteinander und die diagnoseferne Haltung und Sprache. Betroffene konnten sich so mit den Wunden ihrer Lebensgeschichte erleben und nicht als „Kranke“ mit diesem oder jenem „Symptom“. Für die eigene Arbeit empfanden wir die Tandemarbeit in den Netzwerkgesprächen deutlich entlastend, da bewegende oder auch belastende Situationen nicht alleine erlebt, sondern gemeinsam getragen wurden.


Die Rahmenbedingungen sind sehr verbesserungswürdig. Zwar wurde die Leistung im Rahmen der Integrierten (Besonderen) Versorgung nach §140a SGB V von einigen Krankenkassen durch eine Monatspauschale finanziert, doch das Volumen des Budgets war so gering, dass wir mit einem Stellenschlüssel von 1:65 arbeiteten. Wir mussten pro Standort eine Region im Umkreis von 80 Kilometern abdecken, mit weniger als vier Vollzeitkräften eine 24-stündige Erreichbarkeit abdecken sowie eine Rückzugswohnung vorhalten. Leider konnte im SGB V keine auskömmliche Finanzierung dieser ambulanten Arbeit erwirkt werden, so dass diese inzwischen beinahe gänzlich eingestellt wurde.
Sarah Berens