Erzieher*in sein in Zeiten von Corona

In einer Kita in Nordhessen: Es herrscht gedrückte Stimmung.

Ein Bericht

Der vom Träger ausgearbeitete Hygieneplan im Rahmen der Covid-19-Eindämmung sieht strenge Maßnahmen vor. Die Erzieher*innen fühlen sich kontrolliert. Das werden sie tatsächlich.

Nach jedem Toilettengang der Kinder müssen Toilette und Waschbecken desinfiziert und die Desinfektion dokumentiert werden. Auch die Oberflächen im Gruppenraum werden mehrmals am Tag desinfiziert. Und auch das muss dokumentiert werden.

Beim morgendlichen Bringen der Kinder müssen die Eltern unterschreiben, dass ihr Kind gesund ist - natürlich nur mit einem eigenen mitgebrachten Kugelschreiber. Auch bei den Mahlzeiten gibt es klare Vorschriften. Die Kinder dürfen sich weder Getränke noch Essen selber nehmen, sondern werden von den Erzieher*innen wie im Restaurant bedient. Der Grund: Es soll vermieden werden, dass die Kinder denselben Griff oder Henkel berühren. Erzieherin Lisa (Name geändert) findet das komisch: „Die Kinder spielen doch den ganzen Tag mit denselben Materialien und berühren dieselben Spielsachen, da macht doch der Henkel der Wasserkaraffe den Kohl nicht mehr fett. Wir üben jeden Tag mit den Kindern und helfen ihnen ihre Selbstständigkeit zu erweitern und jetzt das! Ich habe das Gefühl diese Vorschriften haben sich Leute ausgedacht, die noch nie eine Kita von innen gesehen haben.“

In einer anderen Kita in Nordhessen sieht die Situation ganz anders aus. Zwar gibt es auch hier einen von Träger und Kita-Leitung ausgearbeiteten Hygieneplan, doch der sieht weder das Desinfizieren nach jedem Toilettengang noch das Reichen von Getränken und Speisen durch die Erzieher*innen vor. Weder sitzen die Kinder hier mit anderthalb Meter Abstand am Frühstückstisch, noch wird der Garten durch Absperrband geteilt  und erst recht wird nicht auf das Singen verzichtet.

Dass Kitas - genau wie Schulen - Bildungseinrichtungen sind, ist längst im öffentlichen Diskurs angekommen. Doch zeigt Covid-19 deutlich, dass Einrichtungen der Kindertagesbetreuung längst nicht die Relevanz in Politik und Öffentlichkeit wie Schulen haben. Die bei der Öffnung der Schulen lange durchdachten, klaren Vorgaben durch das Land fehlen bei Kitas völlig. Ja, es gibt zum Teil Empfehlungen - deren Umsetzung dann von Träger und Kita-Leitung abhängt - zum Teil fehlen sogar diese. Zu viel mehr als der Empfehlung, regelmäßig die Hände zu waschen und Abstand zu halten - soweit möglich - hat sich das Ministerium für Soziales und Integration nicht hinreißen lassen. So sind Träger und Kita-Leitungen in der Verantwortung, darüber zu entscheiden, wie viele Kinder in einer Gruppe betreut werden, welche Kinder in die Betreuung aufgenommen werden und wie die nötige Hygiene eingehalten werden kann.

Auch über den Einsatz von Praktikant*innen entscheidet der Arbeitgeber. So haben manche der Berufspraktikant*Innen viel Zeit, um sich auf die bevorstehenden Abschlussprüfungen vorzubereiten, weil sie vom Träger freigestellt werden. Andere sind seit Beginn in der Notbetreuung eingesetzt und - da von Kurzarbeit ausgeschlossen - die einzigen in ihren Teams, die jeden Tag arbeiten. Fair finde ich das nicht! Und auch nicht sehr durchdacht! Denn eine Ansteckung der Praktikant*innen sollte doch in jedem Fall vermieden werden, damit diese in der Lage sind, ihre Prüfungen abzulegen und im August die Lücken im Arbeitsmarkt zu stopfen.

Ebenso fehlen in Bezug auf Risikogruppen verbindliche Vorgaben vom Land. Ob ich als zur Risikogruppe gehörende*r Erzieher*in freigestellt werde, hängt vom guten Willen der Leitung und des Trägers ab. Oder einen Attest vorzulegen und zu hoffen, dass dieser anerkannt wird. Oder eben zur Arbeit zu kommen und mich dem Risiko auszusetzen, mich anzustecken.

Im Gegensatz zu Kassierer*innen können Kita-Mitarbeiter*innen jedoch nicht hinter Plastikwänden arbeiten. Je mehr Kinder, desto mehr Kontakt und damit ein höheres Ansteckungsrisiko. Langsam geht mir das Verständnis dafür aus, dass ich mich im Privatleben auf ein Mindestmaß an Kontakt beschränken muss, in der Einrichtung aber täglich mit Kindern und Kolleg*innen auf engem Raum zusammen bin. Kinder und Erzieher*innen als Versuchskaninchen? Klappt die Öffnung der Kitas,  ohne dass die Ansteckungszahlen wieder steigen, können auch weitere Einrichtungen wieder ihre Arbeit aufnehmen? Fair ist auch das nicht! Insbesondere dann nicht, wenn es keine verbindlichen Vorgaben bezüglich der Erzieher*innen, die zur Risikogruppe gehören, gibt.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich bin nicht dagegen, dass die Kitas wieder öffnen. Ich bin nur dagegen, die Verantwortung für die Ausgestaltung der Öffnung auf die Träger und Kita-Leitungen abzuwälzen. Damit machen es sich die politischen Entscheidungsträger doch sehr einfach!

Ein Blick auf die positiven Dinge in dieser verwirrenden Zeit:

Mit zwei Erzieher*innen eine Gruppe von zwölf Kindern betreuen? Was vor Corona wie eine Utopie klang, ist jetzt möglich. Wer ganz leise war, konnte hinter vielen Kita-Türen ein Aufatmen hören. Die Erzieher*innen atmeten auf, weil sie endlich in der Lage waren, jedem Kind die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die es benötigt. Und auch die Kinder - zumindest die, die in den Genuss der Notbetreuung oder der eingeschränkten Regelbetreuung gekommen sind - konnten aufatmen. Endlich genug Platz zum Spielen und eine zu ertragende Lautstärke in den Gruppenräumen. Und endlich Erzieher*innen, die nicht ständig „Warte kurz.“ oder „Ich hab jetzt leider keine Zeit.“ oder „Ich muss erst...“ sagen. Endlich Zeit, um zu beobachten, um sorgfältig Entwicklungsberichte zu schreiben, um den Themen und Interessen der Kinder auf die Spur zu kommen und diese zu fördern, solange die Kinder Spaß daran haben. Endlich Zeit für eine feinfühlige Fachkraft-Kind-Interaktion. Dass diese paradiesischen Zustände nur noch von kurzer Dauer sein werden, macht mich sehr traurig.

Umso wichtiger ist die Erkenntnis, die wir daraus gewinnen können: Ein hoher Personalschlüssel ist von grundlegender Bedeutung für eine qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit.

Eigentlich nichts Neues. Doch wird dies jetzt deutlicher denn je.

Foto: Markus Spiske, unsplash.com