In Zeiten von Pandemie und Krieg

Ein sozialpädagogischer Blick auf Kindheit und Jugend

HLZ Mai 2023: soziale Arbeit

Als Schulsozialpädagogin beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit den Sorgen und Nöten von Kindern und Jugendlichen. Diese standen aber noch nie so im Vordergrund wie in den letzten Monaten. Daher habe ich mich auf die Suche nach Ursachen begeben, Statistiken gelesen, mit Fachkräften gesprochen und natürlich auch mit Schülerinnen und Schülern, um die aktuelle Krise zu verstehen.

Seit einiger Zeit gibt es einen deutlichen Anstieg von psychischen Auffälligkeiten wie Ängste, Depressionen, Antriebslosigkeit, Süchte und Essstörungen. Schon bei Grundschulkindern wird von selbstverletzendem Verhalten berichtet, von Problemen mit dem Tag- und Nachtrhythmus und einem Anstieg delinquenter Verhaltensweisen.

Psychische Auffälligkeiten nehmen zu
Schulsozialpädagog:innen berichten von der Bildung von Cliquen, die sich von schulischen Anforderungen abkoppeln, von verstärkter Regel-, Grenz- und Ziellosigkeit, von einer offenen Ablehnung des Schulsystems, gehäufter Schulabstinenz und Vandalismus. Es scheint, als haben viele Schüler:innen ihren Bezug zur Schule verloren.

Aber warum ist das so? Sicher ist, dass Kinder und Jugendliche in einer sehr herausfordernden Zeit aufwachsen: Klimakatastrophe, Corona mit Lockdown und Homeschooling, Krieg in Europa mit atomarer Bedrohung, Energiekrise und Inflation und dadurch viele Familien in existenziellen Nöten. Seit Jahren schlittern sie gefühlt von Krise zu Krise, ohne ein Gefühl von Entlastung. Im Gegenteil wurde ihnen in den letzten Jahren oft das Gefühl gegeben, nicht ernst genommen zu werden. Ihre existenziellen Ängste wurden und werden mitunter bagatellisiert.

In der Coronapandemie waren sie plötzlich eine Bedrohung für ihre Großeltern oder vorerkrankte Familienangehörige, Halt und Sicherheit gebende Strukturen wurden im Homeschooling aufgelöst.

Zur Frage, wie sich diese Belastungen für Kinder und Jugendliche auswirken, habe ich ein paar Hypothesen entwickelt, wobei mir auch viele Gespräche mit Schüler:innen geholfen haben. Dabei wurde schnell klar, dass eine Mehrheit der befragten Schüler:innen die gemeinsame Zeit zuhause im Lockdown wie ihre Eltern durchaus auch als positiv empfand, als eine Zeit, die die Familie näher zusammenbrachte. Die Schüler hatten in dieser Zeit deutlich weniger Leistungsdruck, es wurde weniger gefordert, weniger bewertet, weder durch Lehrkräfte noch durch Mitschüler:innen. Man musste sich insgesamt weniger behaupten. Die Schüler:innen berichten recht einhellig, dass die Zeit im Lockdown und im Homeschooling als wesentlich entspannter erlebt wurde, nicht nur weil in dieser Zeit viel Unterricht ausfiel. Auch wenn sich einige Schüler:innen alleine gelassen fühlten und sich nur schwer konzentrieren konnten: Die meisten fühlten sich deutlich weniger gestresst.

Bei ihrer Rückkehr in die Schule wurden viele von den Anforderungen überrollt. War Schule schon zuvor ein anstrengender Ort, war sie jetzt für einige kaum noch erträglich. Die Lehrkräfte wollten den verpassten Stoff so schnell wie möglich nachholen, Arbeiten mussten geschrieben werden, es wurde geprüft und bewertet, während die positiven Aspekte wie das Zusammentreffen mit den Freundinnen und Freunden, die Ausflüge und Klassenfahrten weiterhin gestrichen waren. Es musste Abstand gehalten werden, es wurden Masken getragen, getestet, die Fenster waren bei jedem Wetter geöffnet und über allem kreiste ständig das Damoklesschwert „Corona“.

Auch vielen Lehrkräften ging es und geht es nicht gut. Die Doppelbelastung durch Präsenz- und Onlineunterricht, der hohe Krankenstand und die zu füllenden Wissenslücken der Schüler:innen haben bei vielen ihre Spuren hinterlassen.

Die Pandemie hinterlässt Spuren
Besonders gravierend ist der Umstand, dass die Schüler:innen während der Pandemie den Bezug zur Schule verloren haben und oft auch die Bindung zu ihren Lehrkräften. Kinder und Jugendliche lernen in der Regel nicht für eine imaginäre und für sie abstrakte Zukunft, sondern sie lernen für Beziehungen und Bindung, für Lob und Erfolg im Jetzt. Nun hatte aber die Schule, die sie nach dem Homeschooling vorfanden, viele ihrer positiven Aspekte verloren und die vorhandenen Beziehungen zu Lehrkräften waren deutlich weniger tragfähig.

Über einen anderen Aspekt wurde noch viel zu wenig gesprochen: Das Homeschooling hat die Schüler:innen gezwungen, viel selbstständiger zu sein. Sie haben gelernt, sich Informationen alleine und in ihrem eigenen Tempo zusammenzusuchen und ihre Schwerpunkte auf die Themen zu legen, die sie interessieren. Zudem konnten sie durch das Internet alternative Lernmethoden kennenlernen, Lernvideos und Lern-Apps wurden eine ernstzunehmende und teilweise sogar effizientere Konkurrenz für Schulbücher und Frontalunterricht.

Zurück im Präsenzunterricht berichten mir viele, dass sie nicht mehr bereit sind, sich mit Lerninhalten zu beschäftigen, die sie als unnötig empfinden, sie möchten über die Themen mitentscheiden und Wissen nicht einfach nur passiv konsumieren.

Die sozialen Medien als vierte Instanz
Zu dem Einfluss von Lehrkräften, Peergroup und Eltern gesellen sich die sozialen Medien als einflussreiche vierte Instanz. Durch den Lockdown gewann die Meinung der Internetcommunity sehr an Bedeutung, während die der Lehrkräfte an Bedeutung verlor. Auch deshalb werden die Regeln und Anforderungen des Schulsystems viel kritischer hinterfragt als vor dem Lockdown.

Alles in allem scheint es fast so, als hätten die Schulschließungen wie eine Lupe die Schwächen unseres Schulsystems aufgezeigt und die wichtigen Bindungen zwischen der Schule und ihren Schüler:innen beschädigt. Vielleicht ist es so zu erklären, dass viele Schüler:innen aktuell die anfangs genannten psychischen Auffälligkeiten zeigen. Sollten diese Gedankengänge in die richtige Richtung gehen, was wäre dann also zu tun?

Schulen müssen sich auf ihre Stärken besinnen
Schulen müssen so schnell wie möglich wieder als positive und bereichernde Lernorte empfunden werden. Hierfür müssen sie sich auf ihre Stärken besinnen. Viele gemeinsame Unternehmungen innerhalb der Lerngruppen und der Schulgemeinde können hier sicherlich einen wichtigen Anteil haben. Das Stärken der Klassengemeinschaften, aber auch der Lehrkräfte ist sicherlich genauso wichtig wie eine Verbesserung des Schulklimas und des „Wir-Gefühls“. Nur so kann dem als drückend empfundenen schulischen Stress mit ständiger Bewertung und Benotung entgegengewirkt werden.

Hilfreich wäre sicher auch, wenn sich die Schulen die neugewonnenen Kompetenzen der Schüler:innen zunutze machen könnten. Sie sind selbstständiger geworden, hinterfragen mehr und sind viel weniger bereit, Dinge zu akzeptieren, die sie als ungerecht oder als nicht sinnvoll empfinden. Mehr Verantwortung und mehr Partizipation an schulischen Prozessen und Gremien könnten sich hier als hilfreich erweisen. Außerdem sollten die Schulen die neugewonnenen Ressourcen aus dem Homeschooling nutzen und auf dieses breite Spektrum an neuen Lehrmethoden zugreifen. Die sogenannten „Neuen Medien“ eröffnen ein ganzes Universum an interessanten Lehr- und Lernoptionen, die oft sehr kurzweilig und didaktisch wertvoll aufbereitet sind.

Auf diese Art und Weise könnten Schule und Schüler:innen wieder zusammenwachsen und Lehrkräfte und Schüler:innen die nötigen Bindungen und Beziehungen zueinander aufbauen, die erforderlich sind, um unsere Schulen gemeinsam zukunftsfähig zu machen.

Vielleicht könnten die Krisen der Vergangenheit so dazu beitragen, dass die Schule der Zukunft deutlich mehr auf die Bedürfnisse unserer Schüler:innen eingeht und dringend nötige Veränderungen auf den Weg gebracht werden.

Hanna Schneidmüller


Die Autorin ist Diplom-Sozialpädagogin und Lerntherapeutin und arbeitet seit 14 Jahren als Schulsozialpädagogin an einer Gesamtschule im Landkreis Darmstadt-Dieburg.