Lehrkräfte: Nicht fit für IT?

In Hessen fehlen landesweite Konzepte für digitale Medien

„Lehrer nicht fit für Digitalisierung“: Solche Pauschalurteile wie in dieser Überschrift in der Frankfurter Rundschau (FR) vom 21. April 2018 tauchen seit über 20 Jahren immer wieder in Artikeln aller Medien auf. Das Bild vom unflexiblen, altmodischen Unterrichtskonzepten anhängenden Unterrichtsbeamten wird von den Journalisten nur zu gern gepflegt. Es wird suggeriert, „die“ Lehrkräfte seien „nicht fit für IT“ und dies sei eine Ursache für die angeblich mangelhafte „Digitalisierung“ der Schulen bzw. des Unterrichts.
Führende GEW-Vertreter werden dabei von der FR quasi als Kronzeugen benannt, die die Einschätzung bestätigen würden, dass es den Lehrkräften an der mediendidaktischen Kompetenz mangele und sie sich endlich einmal um eine entsprechende Fortbildung kümmern müssten. 
Die tatsächlich Verantwortlichen für die Mängel bleiben in dem Artikel unerwähnt: Bundes- und Landesregierung sowie die Schulträger. Was dort versäumt wurde, wird jedem klar, der sich etwas intensiver mit dem Themenkomplex Digitalisierung und Schule befasst.

Digitalpakt Schule
Die erste Frage, auf die es weder von den Medien noch den politisch Verantwortlichen eine befriedigende Antwort gibt, lautet: Was ist überhaupt unter dem Begriff der „Digitalisierung von Schulen“ konkret zu verstehen? Auch der Bundesregierung ist es so recht wohl nicht klar, obwohl sie im Vertrag der Großen Koalition mit viel Tam-Tam 3,5 Milliarden Euro für einen gemeinsamen „Digitalpakt Schule“ von Bund und Ländern zur „Förderung der Digitalen Bildung“ in Deutschland angekündigt hat. Bisher bekannt ist lediglich, dass der Schwerpunkt der Bundesförderung darauf liegen soll, Schulen mit schnellem Internet zu versorgen und eine gemeinsame Cloud-Lösung für Schulen zu schaffen. Die Mittel sollen nicht für Hardwareausstattung genutzt werden und auch nicht von Einzelschulen abrufbar sein. Genaueres soll in einer Bund-Länder-Vereinbarung festgelegt werden. Wann die allerdings kommt, steht in den Sternen, denn zuerst müsse, so Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die im Koalitionsvertrag beschlossene Grundgesetzänderung auf den Weg gebracht werden, die es dem Bund ermöglichen soll, direkt und überall in Fällen gesamtstaatlicher Bedeutung „im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur“ zu investieren.
Wie aber sieht die Bilanz an hessischen Schulen im Digitalsektor im Vorfeld des „Digitalpakts Schule“ aus und wo fehlt es?

Hardware und Räume

In Hessen existieren keine einheitlichen Standards zur Ausstattung der Schulen mit Hardware. Weder gibt es Richtlinien oder Empfehlungen zur Art und Leistungsfähigkeit der einzusetzenden Geräte noch zu deren Anzahl bezogen auf die Anzahl der Schülerinnen und Schüler einer Schule. Entsprechend unterschiedlich ist auch die Ausstattung – je nach Plan und Finanzlage des zuständigen Schulträgers. So finden wir Desktop-PCs aller Altersklassen und Typen, die oft zusammengefasst in Computerräumen stehen, mitunter auch Einzelgeräte in Klassen- oder Fachräumen und – vereinzelt – „Notebookwagen“ mit bis zu 30 Notebooks oder Tablets.

In nahezu allen Schulen existieren Computerräume. Das ist sicherlich nicht das Konzept der Zukunft, aber oft die einzige Möglichkeit, mit der kompletten Klasse oder Lerngruppe am PC zu arbeiten. Dort sind Lehrerinnen und Lehrer oft über eine entsprechende Kontrollsoftware in der Lage, die Arbeit der Schülerinnen und Schüler zu überwachen, sich direkt in einen Schülerrechner einzuloggen, mit dem Schüler „digital“ zu kommunizieren und den Rechner bei missbräuchlicher Nutzung notfalls auch ganz vom Netz zu nehmen. Die Nutzungsfrequenz dieser Räume ist nachweislich sehr hoch, oft übersteigt die Nachfrage das Angebot, so dass man doch wieder zum klassischen „analogen“ Unterricht gezwungen ist. 

Viele Lehrkräfte beklagen die zu geringe Internetgeschwindigkeit, was den Unterricht mit digitalen Medien nicht gerade attraktiv macht. Viele Schulen verfügen inzwischen auch über interaktive Whiteboards oder interaktive Beamer, doch sind nur wenige flächendeckend in allen Klassen– und Fachräumen damit ausgestattet. Meistens ist das nur in neu gebauten oder kürzlich renovierten Schulen der Fall.

Software und Administration

Die Softwareplattformen der Schulen sind sehr unterschiedlich bestückt: In der Regel gibt es ein Office-Paket, meistens von Microsoft, aber auch Open-Office-Lösungen, dazu alle Arten von Lernsoftware, Freeware, Shareware und auch Softwarepakete von Schulbuchverlagen. So etwas wie eine landeseinheitliche Softwareplattform für pädagogische Netze existiert nicht.  Bei Schulen in kommunalen Netzwerken gibt es in der Regel eine vom Schulträger festgelegte Softwareplattform. Schulen haben in solchen Netzwerken keine Rechte, selbst Software aufzuspielen, diese müssen jeweils beim Schulträger beantragt werden. Wenn es technisch machbar ist, wird die Software aufgespielt. Finanziert wird die Software entweder zentral oder aus den der Schule zugewiesenen Mitteln des Schulträgers, oft auch von Fördervereinen oder Sponsoren. 
Schulübergreifende Netzwerke werden in der Regel zentral vom Schul­träger oder durch von ihm beauftragte Medienzentren oder Firmen administriert, in der Regel über Fernwartung. Allerdings verbleiben auch hier immer noch einige Stunden Administrationsaufwand pro Woche, der von Lehrkräften mit mehr oder weniger Anrechnungsstunden oder über zusätzliche Bezahlung aus Mitteln des Landes für den pädagogischen IT-Support erbracht werden muss. Die Administrationsarbeit vor Ort ist absolut nicht abgesichert und erfordert häufig unbezahlte Überstunden von Lehrkräften.

Schulen, die in keinem Netzwerk sind, müssen die gesamte Last der Administration tragen, graduell erfolgt Unterstützung durch den Schulträger bzw. von ihm Beauftragte. Wenige große Schulen, insbesondere berufsbildende Schulen mit einer IT-Ausstattung im Umfang von mehreren hundert Rechnern, verfügen über eine professionelle IT-Administration durch Fachkräfte.

Die pädagogische Praxis

Informatikunterricht ist in der Oberstufen- und Abiturverordnung geregelt. Auch gibt es ein Kerncurriculum Informatik für die Oberstufe. Ansonsten dürfte die pädagogische Praxis so vielfältig sein, wie es digitale Biotope auch an hessischen Schulen gibt. Ansätze für eine schülergerechte, kritische Medienpraxis gibt es vereinzelt, gelegentlich auch vernetzt über die Lehrkräfteakademie, die auch Fortbildungen anbietet. Ein funktionierender Unterrichtsalltag steht und fällt mit der Unterstützung durch die jeweilige Schulleitung. Medienorientierte Konzepte bedürfen einer entsprechenden Infrastruktur wie Zeit und Raum für kollegiale Konzepte bezogen auf einzelne Lerngruppen.  Eine ausführliche Bestandsaufnahme für alle Schulformen und Fächer gibt es bisher nicht und sie würde auch den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen.

Jugendmedienschutz

Der Vorsitzende des Landeselternbeirats wird in dem erwähnten FR-Artikel mit der Forderung nach „mehr Schulungen zum Jugendmedienschutz“ zitiert, denn es gebe „fast keine Schule, die frei von Mobbing ist“. Damit meint er sicher die Beschimpfungen, Beleidigungen und Verunglimpfungen in den sozialen Netzwerken, in denen sich mittlerweile viele Schülerinnen und Schüler täglich tummeln. Sollen die Schulen also auch noch die Nutzung der Smartphones kontrollieren und reglementieren? Hier sind doch zuerst einmal die Erziehungsberechtigten gefragt, denn – abgesehen von den dafür fehlenden zeitlichen Ressourcen – verbieten die Datenschutzrichtlinien einen Zugriff der Schule auf diese privaten Medien.

Unbestritten ist, dass Schulen im Rahmen des Jugendmedienschutzes Aufklärung leisten müssen. Handeln allerdings müssen die Eltern, auch was Mobbing in sozialen Netzwerken betrifft. Denn Lehrkräfte und Schulleitungen haben weder die Aufgabe noch die Möglichkeit, die Kohlen für Versäumnisse der Eltern aus dem Feuer zu holen. 

Landesweite Konzepte fehlen

Die Hessische Lehrkräfteakademie bietet seit etwa fünf Jahren die Fortbildungsreihe „Lernkompetenz entwickeln - individuell fördern“ (Leif) an, die die Nutzung von Lernplattformen mit einem pädagogischen Konzept verbindet. Außerdem gibt es Angebote der regionalen Medienzentren, die medienpädagogische Gemeinschaftsprojekte mit Schulen durchführen und Medienfortbildungen, Hard- und Softwarewareschulungen und ideelle Unterstützung bei der Medienbeschaffung anbieten. Auch verfügen sie über einen großen Bestand an Onlinemedien für alle Fächer und Schulformen. Diese Medien stehen den Schulen in der Regel kostenlos zur Verfügung.

In Hessen gibt es jedoch weder ein systematisches Fortbildungsangebot noch ein landesweites pädagogisch-didaktisches Grundkonzept, weder ein Medienausstattungskonzept noch ein Hardwaregrundkonzept. 
Damit bleibt es der Einzelinitiative von Lehrkräften oder Kollegien überlassen, was an Fortbildungen stattfindet.  Wenn der Einsatz digitaler Medien im Unterricht nicht so funktioniert, wie es notwendig wäre, dann ist dies eben nicht der mangelnden Fortbildungsbereitschaft der hessischen Lehrerinnen und Lehrer geschuldet, sondern Folge des Fehlens hessenweiter Konzepte der Landesregierung für die informationstechnische Grundbildung und die Verwendung digitaler Medien in den Schulen. 

Das ist noch nicht alles ...

Über die in diesem Artikel angesprochenen Themen hinaus gibt es weitere Felder, in denen viele Probleme auftreten. Dazu gehören unter anderem der gesamte Bereich des Datenschutzes, die Arbeit mit Online-Lernplattformen und digitalen Klassenbüchern, die fehlende Einbindung der Personalräte, die Lehrerarbeit am häuslichen Arbeitsplatz oder die Arbeit mit und in Verwaltungsnetzwerken. Dazu kommt das Problem der Bereitstellung meist kostenloser Software durch Stiftungen, Lobbygruppen und Firmen, durch den Staat und die Bundeswehr, die auf Grund der Unterfinanzierung des gesamten IT-Bereichs zum Einsatz kommt. 
Gerade viele jüngere Lehrerinnen und Lehrer, die der Generation der „Digital Natives“ zuzuordnen sind, würden sehr gerne viel mehr mit digitalen Medien im Unterricht arbeiten. Gehindert werden sie daran durch mangelhafte Ausstattungen, fehlende pädagogische und mediendidaktische Konzepte sowie ungeklärte datenschutzrechtliche Fragen. Der Ball liegt also eindeutig nicht im Feld der Lehrkräfte, sondern beim Hessischen Kultusminister, den Schulträgern und auch der Bundesregierung. Wann können wir mit dem Kick-off rechnen?

Christoph Baumann, Referat Schule und Bildung im GEW-Landesvorstand

Foto: Bert Butzke