An Kultusminister Lorz

Stellungnahme des Gesamtpersonalrats am Staatlichen Schulamt Marburg-Biedenkopf

Juli 2014

"Mit Erschrecken hat der der Gesamtpersonalrat am Staatlichen Schulamt Marburg-Biedenkopf die Diskussionen zwischen einem Vertreter des Hessischen Kultusministeriums und der Mitgliederversammlung des ZfL an der Philipps-Universität Marburg um die geplante Einführung eines Praxissemesters im Lehramtsstudium am 02. Juli 2014 zur Kenntnis genommen."

"Laut Aussage des HKM ist die Einführung einer Probephase, d.h. die Änderung der Studienordnungen, an den Universitäten Frankfurt, Gießen und Kassel ab dem Wintersemester 2014/15 geplant. Die Umsetzung der Probephase an den Praktikumsschulen mit anschließender Evaluation soll im Wintersemester 2015/16 stattfinden, wobei eine Kohorte von Studierendenden während der Vorlesungszeit, eine zweite in der vorlesungsfreien Zeit an die Praktikumsschulen geschickt werden soll. Das Praxissemester soll im dritten, spätestens aber im 4. Semester durchgeführt werden. Die Studierenden werden dabei drei Tage in der Woche  an den Schulen verbringen und zwei Tage in der Woche an einem Begleitseminar an ihrer jeweiligen Universität teilnehmen. Die Evaluation dieser Probephase soll ein halbes Jahr dauern und mit dem Wintersemester 2017/18 beendet sein, so dass das Praxissemester landesweit an allen hessischen Universitäten zum Wintersemester 2017/18 eingeführt werden kann.

Ziel der  Durchführung dieser „Experimentierphase“ für ein Praxissemester ist nach  Aussage des Vertreters des Hessischen Kultusministeriums primär die Eignungsüberprüfung der Lehramtsstudierenden für den Lehrberuf. Darüber hinaus sollen sie neben Hospitationen und Unterrichtsversuchen im Unterricht „helfen“, „Vertretungsunterricht erteilen“ und sich an Klassenfahrten und Konferenzen beteiligen „ohne dass sie den Schulen angerechnet werden“. Als Vergütung für die Koordinationslehrer an den Praktikumsschulen sei der Betrag von 78,99 € pro Semester  vorgesehen. Das Hessische Kultusministerium weist die insbesondere an den Universitäten Kassel und Marburg nachdrücklich formulierte Kritik an diesem Konzept mit dem Hinweis auf die Befürwortung des Praxissemesters durch alle Parteien im Hessischen Landtag zurück. 

Der Gesamtpersonalrat beanstandet an den Ausführungen des HKM zum Praxissemester Folgendes:

Erstens: Der Verweis auf einen breiten Konsens im Hessischen Landtag bezüglich der Durchführung der Probephase zum Praxissemester trägt dem Antrag der Fraktion der SPD betreffend eines Moratoriums für die Einführung des Praxissemesters in der Lehramtsausbildung vom 3. Mai 2014 nicht Rechnung. Hier heißt es:  „Es wird befürchtet, dass das bislang angestrebte Modell eines Praxissemesters zu einem Qualitätsverlust führen wird.“   

Weiter sehen die Autoren „das Programm der Bund-Länder-Vereinbarung als eine gute Möglichkeit, die stärkere Praxisorientierung durch neue Impulse aus anderen Bundesländern zu nutzen und ein nachhaltige Verbesserung für den gesamten Prozess der Lehrerbildung bis in die Einstiegsphase auf der einen Seite und für das in Hessen geplante Modell auf der anderen Seite zu erreichen. Den Modellversuch zur Erprobung eines Praxissemesters zum nächsten Wintersemester zu beginnen, wird daher abgelehnt.“  

Die Ausführungen des Vertreters des HKM geben schon jetzt Anlass zur Sorge darüber, dass das Praxissemester in der Probephase zu einer  Zusatzbelastung der Schüler und zur Deprofessionalisierung der Studierenden  durch ihren Einsatz als kostenfreie Hilfslehrkräfte führen wird, da der Inhalt der Gesetzesvorlage nicht eindeutig kommuniziert wird. 

So heißt es Gesetz zur Änderung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes und des Hessischen Weiterbildungsgesetzes, § 19  vom 8. Juli 2013 ausdrücklich: „Die Studierenden dürfen nicht für Vertretungsunterricht  herangezogen werden“.

Zweitens: Das Land Hessen verfolgt mit der Durchführung eines Praxissemesters im dritten oder vierten Semester des Lehramtsstudiums ohne weitere Praxisphasen einen bundesweiten Sonderweg, der allen professionstheoretischen Überlegungen zum Thema sowie der dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst am 15.02.2010 vorgelegten Expertise zum Praxissemester in Hessen  entgegen gesetzt ist. Dort heißt es: 

„Unter dem Gesichtspunkt der übergeordneten Zieldimension der Entwicklung professionellen Lehrerhandelns im Studium und der Zielsetzung einer wissenschaftlichen Ausbildung ist diese Option einer frühen Verortung eines Praxissemesters nicht zu begrüßen. Dies ist damit zu begründen, dass ein Rekurs auf erziehungswissenschaftliche Grundlagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich ist, was den Blick für eine wissenschaftliche bzw. theoriegeleitete und auch systematische Heranführung an das Praxisfeld Schule konterkarieren kann.“   

Zur Ausgestaltung der Praxisphasen empfehlen die Autorinnen der Expertise darüber hinaus Folgendes: 

„Im neuen Modell der Lehrerausbildung sind insgesamt fünf curricular aufeinander aufbauende Praxismodule im Umfang von insgesamt 30 Wochen vorgesehen, die dem o. g. Anspruch einer sukzessiven Kompetenzentwicklung entsprechen sollen. Dabei handelt es sich um

  • ein Orientierungspraktikum im 1. Semester;
  • ein erziehungswissenschaftliches Praktikum im 4. Semester;
  • ein 1. Fachpraktikum im 5. Semester;
  • ein 2. Fachpraktikum im 7. Semester;
  • ein schulbezogenes Forschungspraktikum (SFP) im 9. Semester.

Die allgemein formulierten Zielsetzungen erstrecken sich dabei u. a. auf die Überprüfung der Berufswahl, Fächerwahl und Studienplanung, das Kennenlernen des zukünftigen Berufsfeldes, der Selbsterfahrung in unterrichtlichen Situationen, auf die Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht sowie auf das forschende Lernen.“ 

Der Gesamtpersonalrat beobachtet mit Sorge, dass zentrale Empfehlungen der Expertise zum Praxissemester bei der Ausgestaltung der Probephase in Hessen ignoriert werden. 

Drittens: Eine Durchführung der Probephase des Praxissemesters in zwei Kohorten stellt insbesondere die Praktikumsschulen vor massive organisatorische Probleme, da der Unterrichtseinsatz der Studierenden mit drei Präsenztagen an den Schulen nur schwer in die Stundenpläne integriert werden und die gewünschte Kontinuität bei der Erteilung von Unterricht nicht gewährleistet werden kann. Außerdem soll das Praxissemester nicht während des zweiten Schulhalbjahres evaluiert werden, wiewohl die  Praktikanten zu diesem Zeitpunkt auf andere schulorganisatorische Voraussetzungen als im ersten Halbjahr treffen dürften. Bislang gibt es auch keine Durchführungsverordnung für die Gestaltung des Praxissemesters an den Praktikumsschulen.

Viertens: Auch auf Seiten der Universitäten ist ungeklärt, wie die pädagogische bzw. fachdidaktische Vorbereitung und Begleitung der beiden zu evaluierenden Kohorten von Studierenden gewährleistet werden soll. Darüber hinaus erscheint ein Zeitrahmen von einem halben Jahr für eine  Evaluation zu kurz, um  ergebnisoffen einem seriösen wissenschaftlichen Anspruch zu genügen.

Für die Probephase des Praxissemesters sind bislang keine zusätzlichen Fahrtkosten für Studierende einkalkuliert, die Praktikumsschulen anfahren müssen, welche nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar sind. Dies dürfte insbesondere in Nord- und Mittelhessen der Fall sein. Die Präsenzpflicht der Studierenden an den Universitäten an zwei Wochentagen schließt eine Untervermietung ihrer Unterkünfte am Studienort per se aus, so dass sie mit einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung während des Praxissemesters rechnen müssen. 

Darüber hinaus werden die Mentorinnen und Mentoren an den Praktikumsschulen mit Zusatzaufgaben konfrontiert sein, die nicht mit einem Pauschalbetrag, sondern mit Entlastungsstunden vergütet werden sollten. Auch sind bislang keine zusätzlichen Mittel für Fortbildungsveranstaltungen der Lehrkräfte zur Gestaltung des Praxissemesters eingeplant. Diese sind jedoch für die Gesamtkalkulation eines gelingenden Praxissemesters unerlässlich.

Vor dem Hintergrund der unklaren Zielsetzung der Probephase des Praxissemesters, der diffusen Gesamtplanung und der ungeklärten Finanzierung lehnt der Gesamtpersonalrat Marburg-Biedenkopf die Landesregierung den derzeit geplanten Modellversuch zur Erprobung eines Praxissemesters im Lehramtsstudium ab. Er fordert die Hessische Landesregierung dringend dazu auf, die geplante Einführung des Praxissemesters zum Wintersemester 2014/15 auszusetzen und das Konzept vor seiner Erprobung und Evaluation unter Berücksichtigung von professionstheoretischer Expertise zu überarbeiten. 

Kreisvorstand der GEW Marburg-Biedenkopf