Das Praxissemester in Hessen

Pädagogisch fragwürdig und für die Schule belastend

HLZ 11/2014: Lehrerausbildung in Hessen

Es war noch die 2013 abgewählte schwarz-grüne Landesregierung, die unter Kultusministerin Beer (FDP) und mit Geburtshilfe von Hans-Jürgen Irmer (CDU) eine Änderung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) zur Erprobung eines Praxissemesters in der ersten Phase der Lehrerausbildung auf den Weg brachte, um auf die Kritik an der Praxisferne der Lehrerausbildung zu reagieren.
Nach § 15 Abs. 7 haben ausgewählte Hochschulen ab dem Wintersemester 2014/2015 Regelungen zur Erprobung eines Praxissemesters zu treffen:

  • die Goethe-Universität Frankfurt für das Lehramt an Gymnasien
  • die Justus-Liebig-Universität Gießen für das Lehramt an Förderschulen
  • die Universität Kassel für die Lehrämter an Grundschulen 
    und an Haupt- und Realschulen
  • die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt für das Lehramt
    an Gymnasien im Fach Musik

Das Praxissemester soll an den genannten Hochschulen die bisherigen Praxisphasen ersetzen, bereits nach Ende des zweiten Fachsemesters beginnen und spätestens am letzten Vorlesungstag des vierten Fachsemesters enden. Die Erprobung soll unter Einbeziehung der Lehrkräfte, die die Studierenden
in der Schule betreuen, wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. 

Hochschulen bereiten die Erprobung vor 

Die Durchführungsverordnung zum HLbG (HLbG-DV) regelt die Einzelheiten. Gemäß § 19 sollen die Studierenden am gesamten Schulleben teilnehmen:

„Hierzu gehören neben Hospitationen insbesondere eigene Unterrichtsversuche
unter Anleitung von schulischen Betreuerinnen und Betreuern und
Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts 
wie Konferenzen, Elternabende,
Wandertage, Studienfahrten, 
Sportveranstaltungen, kulturelle Veranstaltungen
und Projekte. 
Die Studierenden erhalten Einblick in die Tätigkeit von 
Lehrkräften als Führungskräfte. Sie übernehmen daher auch ausbildungs-
relevante Aufgaben aus den Bereichen Unterstützung 
der Schulleitung
und der Fachgebiete, individuelle Förderung, 
Medien und Mitge-
staltung der Selbstständigkeit von Schule.“


Die Hochschulen teilen die Studierende den Praktikumsschulen zu, bieten Reflexionsgespräche an, bewerten das Praktikum und erarbeiten Praktikumsordnungen.

GEW-Kritik bleibt weiter aktuell

Die GEW hat bereits bei der Anhörung des Gesetzesentwurfs zur Änderung des Lehrerbildungsgesetzes im April 2014 kritisch Stellung bezogen. Trotz dieser Kritik sowie der einhelligen Kritik der Öffentlichkeit und der Experten auf dem Gebiet der Lehrerbildung wurde der Gesetzesentwurf verabschiedet.

Inzwischen werden die vielfältigen Probleme dieses unausgegorenen Konzepts deutlich:

  • Das Praxissemester ersetzt sequentiell und curricular aufeinander aufbauende Praxisphasen, die – je nach Ausbildungsstand – einen spezifischen Beitrag zum Aufbau von Lehrerprofessionalität leisten. Es bedeutet daher einen Rückschritt im Vergleich zu den bisherigen Praxisphasen, wenn die Studierenden nur einmal in einem frühen Stadium ihres Lehramtsstudiums mit der schulischen Praxis in Kontakt treten. Die Fähigkeit, schulische Praxis in all ihren Facetten zu reflektieren, muss während des gesamten Studiums im Theorie-Praxis-Bezug aufgebaut und erweitert werden.
  • Der frühe Zeitpunkt des Praxissemesters steht im Widerspruch zur Praxis und den Erfahrungen anderer Bundesländer und den Expertisen zu Praxisphasen. Studien zur Lehrerprofes-sionalität unterstreichen die Gefahr, dass unter dem Handlungsdruck der Praxis Theorieabstinenz entsteht und professionelle Reflexionsfähigkeit geradezu verhindert wird.
  • Die Zielsetzung, bereits im Praxissemester Einblicke „in die Tätigkeit von Lehrkräften als Führungskräfte“ zu vermitteln und „die Schulleitung bei der Mitgestaltung der Selbstständigkeit von Schule“ zu unterstützen, dient der Anpassung der Studierenden an die bildungspolitischen Ziele der amtierenden Landesregierung.
  • Das hessische Konzept des Praxissemesters vermischt das Ziel der Eignungsfeststellung für den Lehrerberuf mit dem Ziel der Erforschung des Arbeitsfelds Schule. Allem Anschein nach will man die Lehramtsstudierenden möglichst früh einem umfassenden „Praxisschock“ aussetzen, um nach sozialdarwinistischem Prinzip die überlebensfähigen zukünftigen Pädagogen im Schuldienst frühzeitig auszulesen. Für die Eignungsüberprüfung in der Lehrerbildung stehen inzwischen explizit ausgewiesene professionelle Verfahren zur Selbstevaluation zur Verfügung.
  • Schulische Alltagserfahrungen und deren begleitende Reflexion können wissenschaftliche Analyse und fachdidaktische Theoriebildung nicht ersetzen. Der Umgang mit neuem Wissen, mit unbekannten Theorien und mit unvorhergesehenen Problemen des Alltags erfordert erhöhte und nachhaltige Analyse- und Reflexionsmöglichkeiten. Dieser Einsicht in eine notwendige Verlängerung der Studiendauer folgen im Übrigen alle anderen Bundesländer, die ein Praxissemester eingeführt haben.
  • In dem geplanten Modellversuch werden die Praxisanteile auf 30 Leistungspunkte erhöht. Diese Erhöhung geht zu Lasten des Erwerbs von Studieninhalten in den Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und den Bildungswissenschaften.

In allen Bundesländern, die ein Praxissemester einführen, wird dessen Einführung zu einer stärkeren Verzahnung der ersten mit der zweiten Phase der Lehrerausbildung genutzt. Im hessischen Modell sind die Studienseminare ausgespart, die Chance einer Verzahnung der beiden Phasen der Lehrerausbildung wird nicht genutzt.

Kritik aus der Sicht der Schulen

Die Organisation des Praxissemesters in einem Flächenland birgt die Gefahr, dass die Schulen an den Hochschulstandorten eine enorme Anzahl von Praktikantinnen und Praktikanten zu verkraften haben. Zum vorgesehenen Zeitpunkt haben die Praktikantinnen und Praktikanten weder hinreichend fachliche und fachdidaktische Kompetenz noch professionelle Reflexionsfähigkeit ausgebildet, um den Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Infolgedessen wird es noch stärker als bislang auf die Mentorinnen und Mentoren an den Schulen ankommen, die schon jetzt ohne jede Entlastung eine herausfordernde Aufgabe haben. Ohne das notwendige pädagogisch-psychologische, didaktische, fachliche und fachdidaktische Wissen wächst die Gefahr, dass sich die Studierenden an den Verhaltensmustern von Lehrkräften orientieren, die sie selbst als Schülerinnen und Schüler erlebt haben, oder dass sie ihre Mentorinnen und Mentoren imitieren.

Mit der notwendigen Erarbeitung neuer Studien- und Prüfungsordnungen und Praktikumsordnungen kommt auf die Hochschulen ein hoher Arbeitsaufwand zu, für den keine Ressourcen vorgesehen sind. Der Gesetzentwurf berücksichtigt zudem in keiner Weise die Lebensrealität von Studierenden heute. Obwohl zwei Drittel der Studierenden neben dem Studium einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen, ist eine Bezahlung der Praktikantinnen und Praktikanten nicht vorgesehen. Erforderlich wäre auch ein Fahrkostenzuschuss in Abhängigkeit von der Entfernung zum Wohn- oder Universitätsstandort.

Die HLbGDV wälzt zentrale Fragen der Durchführung des Praxissemesters wie Art und Umfang der Unterrichtsbesuche auf die Hochschulen ab, statt diese zentral zu regeln. In der modularisierten und von Konkurrenz geprägten Studienkultur kann dies zu erheblich unterschiedlichen und ungleichen 
Ausgestaltungen an den einzelnen Hochschulen führen. Zum Gelingen des Praxissemesters sind institutionelle und personelle Rahmenbedingungen notwendig. An den Universitäten sind Dauerstellen erforderlich, um die Kontinuität der Kooperation mit den Schulen und der Betreuung der Studierenden sicherzustellen. Die Mentorinnen und Mentoren an den Schulen müssen eine angemessene Reduzierung
der Pflichtstunden erhalten.

Diskussion auf der Landesdelegiertenversammlung

Das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand wird Kritik und Forderungen der GEW in einem Antrag für die Landesdelegiertenversammlung im November 2014 konkretisieren. Das vorliegende Gesetz erweist dem Ziel eines stärkeren Praxisbezugs für die Lehrerausbildung einen Bärendienst und sollte vor dem Hintergrund der unklaren Zielsetzung des Praxissemesters, der grundlegenden Schwächen des Modells, der diffusen Gesamtplanung, der ungeklärten Finanzierung und der fehlenden Mentorenentlastung zurück-gezogen werden. Ein neues Gesetz sollte die wissenschaftlichen Expertisen berücksichtigen, die curricular aufeinander aufbauenden bisherigen Praxisphasen zur Grundlage haben und die Erfahrungen anderer Bundesländer, die gegenwärtig ein Praxissemester einführen, berücksichtigen.