Die Zukunft der Arbeit

Arbeit ist kein Thema in der Lehrerausbildung

HLZ 11/2014: Lehrerausbildung in Hessen

Viele Lehramtsstudierende sehen es als ihre wesentliche Aufgabe an, Schülerinnen und Schüler auf das Leben und damit auch auf die Arbeit vorzubereiten und ihnen diesbezüglich eine positive Perspektive zu geben. Aus ihrem Alltagswissen über gegenwärtige Arbeitsverhältnisse schließen sie realistischerweise, dass diese Perspektiven unsicher sind. Die Zeiten sind vorbei, als Schule „in eine sozialstaatlich verfasste Gesellschaft eingebettet [war], in der ein kalkulierbares Normalarbeitsverhältnis für alle erwartund erreichbar war, an dem sich schulisches Lernen biographisch orientieren und in dieser Perspektive stabilisieren konnte.“ (1)

Dass ein dauerhaftes und existenzsicherndes Arbeitsverhältnis für alle Jugendlichen, vor allem aber für alle Schülerinnen, nie erreichbar war, unterstreicht geradezu die orientierende Wirkmächtigkeit von Schule in der fordistischen Arbeitsgesellschaft. Die Situation ist paradox: In dem Maße, in dem nicht mehr nur Haupt- und Realschülerinnen und -schüler, sondern auch Gymnasiastinnen und Gymnasiasten auf ihre zukünftige ökonomische Verwertbarkeit hin ausgebildet werden, wächst die Kritik an einer „Ökonomisierung“ bzw. „Totalverzweckung“ des Bildungswesens. Gleichzeitig bleibt eine grundsätzliche Kritik schulischer Orientierung auf das Erwerbsleben marginal.

Obwohl „die Arbeitsgesellschaft in ihrer arbeitsteiligen Logik und Dynamik dauernd ‚pädagogische Vorgaben’ macht“ (2), reflektiert Schule ihren „gesellschaftlichen Standort“ auch in Anbetracht neuer Arbeitsverhältnisse nicht hinreichend. Positive Perspektiven „für das (Arbeits-)leben“ stiften keinen pädagogischen Sinn mehr, aber neuer Sinn ist nicht an ihre Stelle getreten. Arbeit ist in Hessen Gegenstand der noch geltenden Lehrpläne und des an ihre Stelle tretenden neuen Kerncurriculums für die Fächer Politik und Wirtschaft bzw. Sozialkunde und Gesellschaftslehre.

Am Ende der Sekundarstufe I sollen Schülerinnen und Schüler unter anderem folgende Kompetenzen erlangt haben:

„Lebensverhältnisse von Menschen in Abhängigkeit von den natürlichen, wirtschaftlichen,
politischen und den soziokulturellen Bedingungen beschreiben, unterscheiden und einordnen“

„die eigene ökonomische Situation kriteriengeleitet analysieren“ und diese –
ggf. „mit Unterstützung“ (Hauptschule) – „anhand 
von selbstständig entwickelten Maßstäben“
bzw. „weitgehend 
selbstständig entwickelten Maßstäben“ (Haupt- und Realschule) „beurteilen“ 

„die Bedeutung der unterschiedlichen ökonomischen Akteure 
(Unternehmer, Arbeitnehmer, Verbände, Staat) für die wirtschaftliche 
Entwicklung analysieren und beschreiben“ sowie
„weitgehend 
selbstständig einschätzen und bewerten“

„die Rolle von Interessenvertretungen im politischen, gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Leben beschreiben und einordnen“ sowie –
ggf. „mit Unterstützung“ (Hauptschule) bzw. „weitgehend“ 
(Realschule) –
„selbstständig einschätzen und bewerten“

„demokratische Beteiligungsmöglichkeiten im politischen,
wirtschaftlichen 
und gesellschaftlichen Leben reflektiert nutzen“

„Handlungsmöglichkeiten im Rahmen organisierter Interessen-
wahrnehmung 
durch Mitarbeit in Verbänden und
Organisationen 
erkunden und simulativ erproben“

Wenn man die Bildungsstandards für den Gegenstandsbereich Arbeit sachlich entfaltet, stellen sie hohe fachliche Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer: Sie müssen Arbeit souverän im politisch-ökonomischen System verorten können und es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, ihre eigenen
sowie gesellschaftliche Lebenslagen darin zu analysieren.

Das Kerncurriculum schließt eine komplexe Thematisierung von Arbeitsverhältnissen nicht aus, sieht aber – wie auch in anderen Inhaltsfeldern des Politikunterrichts – wenig Konkretes vor. Im Beitrag des Faches zur Bildung wird definiert, was die „marktwirtschaftliche Ordnung“ fordert und nicht das, was die Schülerinnen und Schüler als zukünftige arbeitspolitische Subjekte und demokratischer Souverän benötigen. Nicht vorgesehen ist eine Kritik bestehender Arbeitsverhältnisse, sondern lediglich eine Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven. Der positivistische Bezug auf das Bestehende ist ein Kennzeichen des gesamten Kerncurriculums. Es bleibt damit noch hinter den bisherigen Lehrpläne zurück, die zumindest für die Gymnasien bestimmten, sich auch mit der Zukunft der Arbeit zu befassen, und für Realschulen vorsahen, über selbstbestimmte Lebensführung nachzudenken.

Nachdem das Kultusministerium den Rahmen des Denkbaren abgesteckt hat, übergibt es wesentliche Entscheidungen über die Unterrichtsinhalte an die Schulen (Schulcurricula) und Fachkonferenzen. Lehrerinnen und Lehrer sollen curricular über den arbeitsbezogenen Politikunterricht entscheiden, die hierfür in ihrem Lehramtsstudium nicht, kaum, zufällig oder nur auf Eigeninitiative wissenschaftlich qualifiziert wurden. Worauf die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer zurückgreifen können, sind meist eigene Arbeitserfahrungen, die sie vor oder während des Studiums gesammelt haben, oftmals auch als prekäre Vertretungskräfte in Schulen.
Zu diesen Erfahrungen erhalten sie selten die Chance, sich reflektiert ins Verhältnis zu setzen – zumindest nicht als Teil ihres Lehramtsstudiums.

Nicht nur Schulbuchverlage, sondern verstärkt auch Unternehmen, Wirtschaftsverbände, wirtschaftsnahe Stiftungen und Initiativen werden zu fachdidaktischen Akteuren. Die Gewerkschaften und die Hans-Böckler-Stiftung des DGB antworten mit Materialien aus Arbeitnehmersicht. Die Empörung über die Einflussnahmen mündet meist in Forderungen nach mehr Ausgewogenheit, den Verzicht auf Werbung oder nach einer Qualitätskontrolle als Bedingung für die Verwendung an Schulen. Den Lehrkräften traut man offensichtlich
nicht zu, die Auseinandersetzung mit den Themen Arbeit und Wirtschaft nach den politikdidaktischen Regeln der Kunst zu konzipieren und dabei bei Bedarf die Verbandsmaterialien kritisch einzuordnen. Wenn die Befürchtungen berechtigt sind, dann wären allerdings Hochschulen und Fachdidaktik in der Verantwortung.

Ein Lehramtsstudierender des Fachs Politik und Wirtschaft formuliert es wie folgt:

„So ist es aus meiner Sicht höchste Zeit, dass sich die Politikdidaktik nicht mehr länger damit begnügt, mit dem Finger auf die Akteure aus der Wirtschaft zu zeigen (…). Vielmehr sollte sie endlich eigene Ansätze zur Lösung der oben angedeuteten Problemfelder entwickeln.“ (3)

Die Inhalte des Lehramtsstudiums, Weiterbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer sowie fachdidaktische Publikationen, die das Feld der Arbeit aufschließen, gehören auf die Tagesordnung, statt die Interessenverbände zur Weiterentwicklung ihres Unterrichtsmaterials aufzufordern – thematisch vollständiger, methodisch innovativer, weniger interessengeleitet, ohne politische Meinungen zu transportieren und möglichst in sozialpartnerschaftlicher Kooperation. Der Interessenhintergrund der Verbandsmaterialien ist überhaupt der einzige Grund, mit ihnen im Schulunterricht zu arbeiten: als Quellen für die Interessen von Unternehmen, 
Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, für ihre Auffassungen zur Gestaltung von Wirtschaft und Arbeitswelt, für ihre Angebote und Erwartungen an Auszubildende und junge Erwerbstätige – und für ihr neues Interesse an Schülerinnen und Schülern. Von diesen Quellen ist nicht die Einhaltung des Beutelsbacher Konsenses zu erwarten, sondern es ist Aufgabe des Politikunterrichtes, die gesellschaft-lichen Interessenpositionen zu rekonstruieren und quellenkritisch zu bewerten.

Nun wäre hier der Ort, Anforderungen für mehr und bessere arbeitspolitische Bildung an den Schulen aufzu-listen. Ein solcher „konstruktiver“ Ausblick müsste allerdings über die Kritik der erkenntnistheoretischen, didaktischen und bildungspolitischen Transformationen hinwegsehen. Es bleibt zunächst ein pessimistischer Ausblick:

  • Es sieht so aus, als würde die Politikdidaktik das Inhaltsfeld
    Arbeit der Wirtschaftsdidaktik überlassen.
  • Es ist derzeit unrealistisch, dass Arbeitsverhältnisse angemessener
    Gegenstand des Lehramtsstudiums werden.
  • Es ist unwahrscheinlich, dass die Didaktik zu einem Erkenntnisanspruch
    gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen zurückkehrt.

Zum Ende die positive Nachricht: Die Auseinandersetzung mit Arbeit hat für Lehrerinnen und Lehrer einen doppelten Gebrauchswert. Die Erkenntnisse über Arbeitsverhältnisse helfen nicht nur für guten Politikunterricht, sondern auch die Bedingungen des eigenen professionellen Handelns aufzuklären. Und dass sich für Lehrerinnen und Lehrer ähnliche Fragen stellen wie für Schülerinnen und Schüler, ist eine Chance, Unterricht als gemeinsame Erforschung unaufgeklärter Verhältnisse zu verstehen. Wenn die Bedingungen der Arbeit allerdings nicht nur kritisiert, sondern auch verändert werden sollen, dann muss das eigene professionelle Handeln nicht nur politisch aufgeklärt, sondern auch politisch organisiert werden. Dies gilt für das (politikdidaktische) Arbeiten an der Hochschule im Übrigen gleichermaßen.


Julika Bürgin ist Politik- und Erziehungswissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an den Universitäten Duisburg-Essen, Frankfurt und Darmstadt (2011-2013) und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Betriebsrätebildung. Bei dem Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung des Artikels „(Fach-)Didaktik und Arbeit: politische Bildung in einer zweifachen Transformation“ in: Andreas Eis, David Salomon (Hrsg.): Gesellschaftliche Umbrüche gestalten. 

Transformationen in der Politischen Bildung. Schwalbach/Ts: Wochenschau 2014.

(1) Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer: Pädagogik und Arbeitsgesellschaft. Historische Grundlagen und theoretische Ansätze für eine sozialpolitisch reflexive Pädagogik. Weinheim 2001. S.230
(2) ebenda, S.13
(3) Markus Stegmann: Der Feind in meinem Fach – Unterrichtsmaterial aus der Wirtschaft: Indoktrination der Schüler oder Beitrag zum Meinungspluralismus? Unveröffentlichte Hausarbeit zum Seminar „Die Didaktik arbeitspolitischer Bildung als Politikum“ an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität. Frankfurt 2012. S.9