Ein Erfolgsmodell?

Qualitätsminderungen in der hessischen Lehrerausbildung

HLZ 11/2014: Lehrerausbildung in Hessen

Seit der Verabschiedung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) im Jahre 2004 und dem Inkrafttreten der dazugehörigen Umsetzungsverordnung im Jahre 2005 (HLbGUVO) wurden die politisch Verantwortlichen immer wieder auf absehbare und bereits eingetretene Qualitätsminderungen in der Lehrerausbildung hingewiesen, insbesondere auf

  • die sachfremde Zergliederung der Ausbildungsinhalte in nur unzureichend verbundene Module,
  • das Fehlen bewertungsfreier Unterrichtsbesuche,
  • die Verdichtung der Arbeitszeit der Ausbilderinnen und Ausbilder, die dazu führt, dass für individuelle Beratung und Begleitung als Kernaufgaben der Ausbildung kaum Zeit bleibt,
  • die große Zahl der Ausbilderinnen und Ausbilder, die in Folge der Modularisierung zur Ausbildung einer einzelnen Lehrkraft im Vorbereitungsdienst (LiV) beitragen, öfter auch verbunden mit einem Wechsel des Ausbilders oder der Ausbilderin während der Ausbildungszeit, und nicht zuletzt
  • die fehlende Entlastung für die Mentorinnen und Mentoren.

Die Mängel des neuen Ausbildungssystems waren unübersehbar, so dass man sich immer wieder zu kleineren
und größeren „Verbesserungen“ genötigt sah. Die wohl einschneidendste Veränderung war die Verkürzung der Ausbildungszeit auf 21 Monate, verbunden mit der Aussicht auf eine substanzielle Entlastung für die Mentorinnen und Mentoren.

Wie sieht die Wirklichkeit aus?


Wie sieht die Ausbildungswirklichkeit nach neun Jahren „systematischer Evaluation und Umsteuerung“ aus?

  • In den benoteten Ausbildungsmodulen sind nach wie vor keine unbewerteten Unterrichtsbesuche vorgesehen, die allein der Ausbildung dienen. Sie sind zwar nicht ausdrücklich verboten, finden aber in der Arbeitszeitberechnung der Ausbilderinnen und Ausbilder keine Berücksichtigung, so dass sie in der Praxis kaum vorkommen. In den nicht benoteten Ausbildungsveranstaltungen sind Unterrichtsbesuche
    ausdrücklich als Möglichkeit vorgesehen, werden aber ebenfalls nicht auf die Arbeitszeit der Ausbilderinnen und Ausbilder angerechnet, so dass davon allenfalls in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht wird. Unterrichtsbesuche werden von Referendarinnen und Referendaren insbesondere als Prüfungssituation, weniger als Ausbildungssituation wahrgenommen. Die Möglichkeit, begleitet von der Ausbilderin oder dem Ausbilder in einem bewertungsfreien Rahmen unbefangen neue Wege für den Unterricht zu erproben, gibt es kaum.
  • Die Arbeitszeit der Ausbilderinnen und Ausbilder ist weiterhin zu knapp kalkuliert. Es fehlt Zeit für eine angemessene individuelle Beratung und für nicht bewertete Unterrichtsbesuche.
  • Die Mentorinnen und Mentoren erhalten nach wie vor keine Entlastung für die Wahrnehmung ihrer verantwortungsvollen Aufgabe.
  • LiV, denen der Einstieg in die Berufspraxis schwerer fällt als anderen, müssen nicht nur mit schlechten Bewertungen zurechtkommen, sondern sich gegebenenfalls schon nach dem ersten Hauptsemester, das heißt nach den ersten zwei Unterrichtsbesuchen einer Modulprüfung unterziehen. Förderung durch ein zusätzliches Ausbildungsangebot, das ihnen helfen könnte, an den Ursachen für das Nichtbestehen
    eines Moduls zu arbeiten, findet nicht statt. LiV, die diese Modulprüfung nicht bestehen, scheiden unwiderruflich aus dem Vorbereitungsdienst aus. Eine Verlängerung auf Antrag ist nicht mehr möglich. Voraussetzung für eine Verlängerung der Ausbildungszeit im Einzelfall ist das Nichtbestehen der Examensprüfung.
  • Zwischen 20 Prozent und 30 Prozent der an den Seminaren für die Ausbildung (nicht für die Erteilung von Unterricht) eingesetzten Arbeitszeit wird von Ausbildungsbeauftragten erbracht, die von den Schulen an die Ausbildungsseminareabgeordnet werden. Man setzt hier seit Jahren in größerem 
    Umfang auf eine preiswerte Alternative zum voll bezahlten Ausbilder.
  • Ausbildungsbeauftragte werden dabei halbjährlich „bedarfsorientiert“ akquiriert und wieder an die Schulen freigesetzt. Die Zusammensetzung der Kollegien an den Studienseminaren befindet sich dadurch permanent im Fluss. Arbeitszeit und Energie werden eingesetzt, um neue Kolleginnen und Kollegen einzubinden, während andere plötzlich nicht mehr da sind, obwohl sie über Jahre hinweg gute Arbeit geleistet haben. Für die LiV ist dies mit einem häufigen Ausbilderwechsel verbunden. Gezielte Personalentwicklung, die sich auf eine Qualifizierung der zukünftigen Ausbilderinnen und Ausbilder während ihrer Zeit als Ausbildungsbeauftragte stützen könnte, wird massiv erschwert.
  • Die Ausbildungsinhalte der allgemeinpädagogischen Module und der Fachmodule sind kaum besser verzahnt als zu Beginn der Modularisierung.
  • Die Ausbildungsinhalte wurden im Verlauf der „Verbesserungen“ immer weiter gekürzt: zunächst wegen der Überfrachtung der Module, dann noch einmal systematisch im Zuge der Kürzung der Ausbildungszeit. Gerade im allgemeinpädagogischen Bereich sind dabei Inhalte weggefallen,
    deren Aufnahme in die Lehrerausbildung man bei Einführung der Modularisierung noch als positiven Nebeneffekt vermerken konnte. Inhalte, die zuvor vertiefend bearbeitet werden konnten, können jetzt nur noch überblickartig thematisiert werden.
  • Der Unterrichtseinsatz der Ausbilderinnen und Ausbilder ändert sich halbjährlich. Sie haben es im Unterricht mit häufig wechselnden Lerngruppen zu tun, die Schülerinnen und Schüler mit wenig förderlichem Lehrerwechsel. Darunter leidet auch die Qualität des Unterrichts der Ausbilderinnen und Ausbilder, der als Hospitationsangebot für die Referendarinnen und Referendare gedacht ist.

Für einen fast zehn Jahre andauernden Prozess der Erprobung, Evaluation und Umsteuerung ist das eine mehr als ernüchternde Bilanz. Die rechtlichen Rahmenvorgaben haben in Verbindung mit einer nicht den Erfordernissen der Ausbildungspraxis entsprechenden Kalkulation der Arbeitszeit der Ausbilderinnen und Ausbilder sowie der fehlenden Entlastung für die Mentorinnen und Mentoren die Qualität der Lehrerausbildung
in Hessen nicht befördert, sondern beschädigt.

Dass die Ausbildung der Referendarinnen und Referendare in vielen Fällen trotzdem einen positiven Verlauf nehmen und zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden kann, ist den vielen Ausbilderinnen und Ausbildern zu verdanken, die trotz der erschwerten Arbeitsbedingungen nicht resignieren und versuchen, ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen.

Einführung des Praxissemesters


Die Einführung des Praxissemesters in der ersten Phase der hessischen Lehrerausbildung wird auch Veränderungen für die zweite Phase der Lehrerausbildung erforderlich machen. (HLZ S. 10-11) Es steht zu hoffen, dass man dabei endlich die Konsequenzen aus den Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre zieht:

  • Bewertungsfreie Unterrichtsbesuche müssen verbindlich verankert, auf die Arbeitszeit der Ausbilderinnen und Ausbilder angerechnet und in der Gesamtausbildungszeit der Referendarinnen
    und Referendare berücksichtigt werden.
  • Die Mentorinnen und Mentoren müssen endlich eine angemessene Anrechnung auf ihre Arbeitszeit erhalten. Ihre Aufgaben müssen klar umrissen werden. Sowohl Mentorinnen und Mentoren als auch Ausbilderinnen und Ausbilder brauchen ein Zeitbudget für die Koordination der gemeinsamen Ausbildungsaufgaben.
  • Die Arbeitszeitberechnung der Ausbilderinnen und Ausbilder muss den tatsächlichen Erfordernissen der Ausbildungspraxis angepasst werden. Dabei müssen die Ausbilderinnen und Ausbilder anders als bisher einbezogen werden. Entsprechendes gilt für die Berechnung einer den Erfordernissen entsprechenden Gesamtausbildungszeit der LiV.
  • Die Lehrerausbildung muss personell und sächlich angemessen ausgestattet werden. Ausbildungsbeauftragte brauchen eine langfristige Perspektive, um den Seminaren eine langfristige Personalentwicklung zu ermöglichen.
  • Der Umfang des Unterrichtseinsatzes der Ausbilderinnen und Ausbilder muss wieder mindestens für den Zeitraum eines Schuljahres festgelegt werden.
  • Den LiV muss bei Minderleistungen eine angemessene Verlängerung ihrer Ausbildungszeit ermöglicht werden, um an den Ursachen für das Nichtbestehen eines Moduls zu arbeiten. Das Instrument der Modulprüfung sollte – wenn überhaupt – frühestens im zweiten Hauptsemester zur Anwendung kommen dürfen.

Unter diesen Voraussetzungen könnte Lehrerausbildung auch im Rahmen einer modularisierten Struktur gelingen. Dass sie auch ganz grundsätzlich auf den Prüfstand gehört, steht auf einem anderen Blatt.


 Der Autor ist Ausbilder am Studienseminar Offenbach.