Lehrerfortbildung

Im Gespräch mit Birgit Fluhrer, Heike Lühmann und Rudolf Messner

HLZ 1-2/2014: Lehrerbildung

HLZ-Redakteur Harald Freiling diskutierte mit Birgit Fluhrer vom Studienseminar für das Lehramt an Beruflichen Schulen in Wiesbaden, Heike Lühmann vom Referat Aus- und Fortbildung im Landesvorstand der GEW Hessen und Professor Rudolf Messner, der die Lehrerfortbildung in Hessen seit vielen Jahrzehnten begleitet und jetzt mit Christoph Edelhoff und Dorit Bosse einen Plan für eine Wiederbelebung und Neustrukturierung vorgelegt hat.
 
HLZ: Heike, ihr habt in der HLZ über ein Werkstattgespräch der GEW Hessen im Juni berichtet und zitiert dort den Leiter des früheren Amts für Lehrerbildung Frank Sauerland mit den Worten, dass die Konzepte zur Reform der Lehrerfortbildung weitgehend gescheitert sind und dass es „im didaktisch-methodischen Bereich, dem Kerngeschäft von Unterricht, nur wenige Angebote gibt“. Ist das ein Eingeständnis, das die GEW befriedigt?

Lühmann: Klar, wir beklagen den Zustand der hessischen Lehrerfortbildung schon lange. Angebote zur individuellen Fortbildung gibt es so gut wie keine mehr, fachdidaktische Fortbildung nur noch im Rahmen der vom Kultusministerium verfolgten Ziele, sprich zum kompetenzorientierten Lernen. Seminare zur kritischen Reflexion von Schule findet man nur noch auf dem freien Fortbildungsmarkt.

HLZ: Herr Messner, Sie waren mehr als 25 Jahre in der Lehrerausbildung an der Universität Kassel tätig, haben die Offene Schule Kassel Waldau und in den siebziger Jahren den Modellversuch Regionale Lehrerfortbildung wissenschaftlich begleitet und waren über die Reinhardswaldschule eng mit der hessischen Lehrerfortbildung verbunden. Wie beurteilen Sie den Zustand?

Messner: Ich befinde mich da in einem Dilemma. Auf der einen Seite nehme ich wahr, dass es auch vorzügliche Angebote gibt, Fortbildner, die eine sehr gute Arbeit leisten. Auf der anderen Seite krankt das ganze System, weil die Fortbildung nur noch als Bildungsmanagement organisiert wird und sich die einzelne Lehrkraft die Angebote auf dem Fortbildungsmarkt zusammensuchen muss. Die Lehrerfortbildung in Hessen wirkt auf mich chaotisch und beliebig, es fehlen die Ziele und eine bewusste Gestaltung. Die beteiligten Akteure sind nicht mehr systemisch vernetzt. Da gibt es zwar eine zentrale Stelle, die Veranstaltungen freier Träger akkreditiert, aber das macht die Sache nicht übersichtlicher.

Fluhrer: Das ist auch mein Eindruck. In meinem Einsatzplan als Ausbilderin am Studienseminar sind zwar Stunden für Fortbildung vorgesehen, aber ich kenne ja gar nicht den Bedarf der Kolleginnen und Kollegen. Und wenn sich die Bedarfe am Studienseminar verändern, werde ich dort auch wieder abgezogen, weil die Ausbildung der LiV Vorrang hat.

Lühmann: Ein weiteres Manko ist die Tatsache, dass Fortbildung in Hessen keinen Ort mehr hat. Die Tagungsstätten, die wir noch haben, werden von der Führungsakademie genutzt, da gibt es auch ein umfangreiches Programm, aber für die Lehrerinnen und Lehrer stehen sie kaum noch zur Verfügung. Lehrerfortbildung braucht Orte und ein Eigenrecht, nicht Vorgaben, die nur aus dem Kultusministerium kommen.

HLZ: Frau Fluhrer, Sie sind Ausbilderin am Studienseminar für Berufliche Schulen in Wiesbaden, leiten aber auch fachdidaktische Fortbildungen für das Fach Spanisch. Und Sie haben zusammen mit Michael Katzenbach Konzepte entwickelt, wie man Fortbildungsangebote stärker an der Praxis und am Arbeitsalltag der Lehrerinnen und Lehrer orientieren kann. Haben denn die Studienseminare überhaupt Kapazitäten für die Fortbildung?

Fluhrer: Wir wollen das schon, denn an den Studienseminaren ist gerade die fachdidaktische Kompetenz vorhanden. Aber wenn wir etwas anbieten, stellt sich immer die Frage, wer das bezahlt. Das Landesschulamt? Das regionale Schulamt? Die Schule aus ihrem viel zu geringen Fortbildungsbudget? Da gibt es viele Unklarheiten. Ich bin auch als Multiplikatorin tätig und in unsere Ausbildung wurde viel Geld gesteckt. Und danach wurden die Kontingente für die Umsetzung dessen, was wir gelernt haben, wieder gekürzt. Herr Messner hat da ganz recht: Es fehlt ein vernetztes System …

Messner: … und diese Vernachlässigung der Lehrerfortbildung hat gravierende Folgen. Früher dachte man, dass die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer nach der ersten und zweiten Phase an der Uni und im Referendariat weitgehend abgeschlossen ist. Der Rucksack war sozusagen für das gesamte Berufsleben gut gepackt, allerhöchstens musste man ihn nur noch punktuell durch ein paar Seminare auffüllen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute stehen wir vor ganz anderen Herausforderungen, die eine lebenslange berufsbegleitende Fortbildung erfordern, die natürlich in der Hand der einzelnen Lehrkraft liegt. Und gerade dort, wo die größten Anstrengungen erforderlich wären, in der berufsbegleitenden Fortbildung, fehlt jede Institutionalisierung. Das ist grotesk.

Fluhrer: Dazu ein Beispiel: Im Referendariat werden individuelle Förderung und individuelles Lernen ganz groß geschrieben. Aber wir können Schule nicht nur von der Ausbildung her verändern. Wie sollen die Berufsanfänger die neuen Arbeitsweisen im laufenden Betrieb umsetzen, wenn sich nicht auch Schule entwickelt? Dazu müssen Universitäten, Studienseminare und Schulen Hand in Hand arbeiten.

Lühmann: Punktuelle einzelne eintägige Seminare, Nachmittagsveranstaltungen und der eine oder andere pädagogische Tag reichen dafür in der Tat nicht aus. Nachhaltige Schul- und Unterrichtsentwicklung muss durch Fortbildung begleitet werden, die strukturiert ist, für die zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen, deren Wirksamkeit in der schulischen Realität erprobt werden kann.

Messner: Ich würde es eine Kultur der erwachsenenpädagogischen Fortbildung nennen, die nicht von oben diktiert und vorgegeben, sondern von den Lehrkräften als „ihre Sache“ angesehen wird. Da ist auch der Berufsstand in seinem professionellen Selbstverständnis gefragt. Der Aufbau einer solchen Fortbildung braucht Zeit und Verlässlichkeit. Aus dem kurzfristigen Agieren von Schuljahr zu Schuljahr kann nichts Vernünftiges erwachsen…

Fluhrer: … zumal sich die Schulen die Fortbildungsangebote mühsam zusammensuchen müssen. Es gibt nicht einmal einen Katalog, in den ich reinschauen kann …

Lühmann: … außer bei der Führungsakademie.

HLZ: Wir haben bisher noch wenig über die Inhalte der Fortbildung gesprochen. Die staatlichen Angebote orientieren sich ausschließlich an zentralen Vorgaben und nicht an den Bedürfnissen der Lehrkräfte. Erst wurde Klippert durch die Schulen getrieben, dann kam die Kompetenzorientierung, mit deren inhaltlicher Konkretion man die Lehrkräfte im Regen stehen ließ, jetzt kommt vielleicht Hattie oder wer weiß was. Aber das, was uns auf den Nägeln brennt, sei es die Inklusion, der wieder steigende Anteil von Schülern ohne Deutschkenntnisse oder drohendes Schulversagen – da ist doch Fehlanzeige.

Lühmann: Auch in die Ausbildung der Schulentwicklungsberater hat das HKM viel Geld gesteckt, und dann, als deren Ausbildung abgeschlossen war, hat man die Maßnahme zusammengestutzt, um die Stellen für die 104-prozentige Lehrerzuweisung zusammenzuklauben.

Fluhrer: Ich erinnere an die Untersuchungen von Lipowsky und anderen zur Wirksamkeit von Fortbildung. Sie haben gezeigt, dass Fortbildung dann wirksam ist, wenn neue Konzepte in der Unterrichtspraxis umgesetzt werden und in den Fortbildungsveranstaltungen Raum geboten wird, diese zu reflektieren, im Sinne einer Theorie-Praxis-Reflexion. Das erfordert praxisbegleitende längerfristig angelegte Fortbildung mit konkretem inhaltlichem Bezug zum Unterricht. Ich habe mit Michael Katzenbach zusammengearbeitet, der uns berichtete, wie man in Neuseeland vorgeht, wo Kompetenzmodelle, Unterrichtsskripte und Aufgabenformate in Kooperation von Universitäten und Praktikern entwickelt wurden und den Lehrkräften für den Unterricht zur Verfügung gestellt werden …

HLZ: …und Lehrkräften die Zeit gegeben wird, um sich das alles zu erarbeiten und im Unterricht umzusetzen. Für die diagnostischen Interviews werden die Lehrkräfte zwei Tage freigestellt, zur Vorbereitung gab es sechsmonatige Seminarreihen (1)

Messner: Es ist ein Irrglaube, dass man Unterricht vor allem über Zielvorgaben oder geschicktes Zielmanagement verbessern kann. Das geht nur über attraktive Inhalte und durch gelungene Methoden, die in gemeinsamer Praxis entwickelt werden. Schließlich handelt es sich bei der Kompetenzorientierung oder der Inklusion, um nur zwei Beispiele zu nennen, um Generationenaufgaben. Das geht nicht mit Belehrung und Verkündung, sondern nur durch das Einüben in gemeinsame Praxis in der Schule oder an den Orten der Lehrerfortbildung. Und das funktioniert nur mit partizipativer Beteiligung …

Fluhrer: … und mit langem Atem. Die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen werden doch verrückt, wenn sie ständig mit etwas Neuem konfrontiert werden. Wenn man sich gerade auf etwas eingelassen hat, ist es schon wieder abserviert …

Messner: … und man braucht die Menschen, die professionell Verantwortung für Lehrerfortbildung übernehmen. Politiker sagen mir dann immer, dass man dafür die Experten an den Universitäten und Studienseminaren hat. Das ist falsch. Die Universitäten verstehen in aller Regel zu wenig von der Schulpraxis und die Studienseminare sind mit ihrer originären Aufgabe, wie ich höre, gut ausgelastet. Wir brauchen eine Mannschaft, die schulnah arbeitet und die Lehrkräfte beteiligt.

Lühmann: Und es geht auch nicht nur über den privaten Fortbildungsmarkt. Der kann – wie unsere Bildungsgesellschaft lea – gute Ergänzungen bereitstellen, auch mal gegensteuern, aber er kann das staatliche Angebot nicht ersetzen.

HLZ: Herr Messner, können Sie diese „Mannschaft“ mal genauer beschreiben? Wer soll das sein? Wir wissen doch alle, was passiert, wenn man Lehrkräfte mit Fortbildnern, sei es aus den Universitäten oder aus den Studienseminaren, konfrontiert, die nichts mehr mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben oder – im schlimmsten Fall – die neue Aufgabe nur gewählt haben, damit sie nichts mehr mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.

Messner: Die Mannschaft muss aus dem Berufsstand rekrutiert werden. Die Universitäten können an der Ausbildung der Fortbildner mitwirken, aber die Schulnähe ist das Entscheidende. Das muss man auch nicht lebenslang machen, sondern es muss einen Wechsel zwischen Schwerpunkten in der Schule und in der Fortbildung geben, durch Teilabordnungen oder zeitlich begrenzte Abordnungen. Ich sehe das an den Universitäten, wo wir durch die Reduzierung der Zahl der pädagogischen Mitarbeiter, die aus der Schule kommen und wieder in die Schule gehen, ein folgenschweres Nachwuchsproblem haben. Auch Timberley und Hattie helfen uns da nicht aus der Klemme. Ich kenne beide und habe vor ihnen großen Respekt. Aber in Deutschland werden sie als Kultfiguren hofiert, die der Politik aus der Krise heraushelfen sollen, die diese vorher selbst produziert hat.

HLZ: Herr Messner, Sie haben mit Christoph Edelhoff und Dorit Bosse „Essentials“ zum institutionell-organisatorischen Ausbau der Lehrerfortbildung in Hessen formuliert und in vielen Runden zur Diskussion gestellt (2).

Messner: Der Hauptgedanke, und der resultiert aus jahrzehntelangen Erfahrungen mit gelungener Lehrerfortbildung, ist der einer dezentralen Steuerung. Die Zentrale im Landesschulamt und in der Lehrkräfteakademie muss sich auf die Koordinierung und Aufsicht beschränken. Im Mittelpunkt unserer Planung stehen vier regionale Zentren in Süd-, Nord- und Mittelhessen und in Frankfurt, die jeweils über ein Team und eine Tagungsstätte verfügen, die Lehrerfortbildung in der Region eigenverantwortlich gestalten und außerdem als Kompetenzzentrum inhaltliche Schwerpunkte abdecken. Sie sollen mit den örtlichen Universitäten in Darmstadt, Frankfurt, Gießen-Marburg und Kassel zusammenarbeiten, ebenso mit den Studienseminaren und Schulämtern. Grundprinzip ist die Subsidiarität: Was vor Ort entschieden werden kann, soll auch vor Ort entschieden werden. Anders als in der Vereinzelung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den 15 Staatlichen Schulämtern, die derzeit für die regionale Fortbildung zuständig sind, wollen wir Kräfte bündeln, Kompetenzen und Ressourcen zusammenführen. Regionale Fortbildungsräte sollen die Abstimmung mit den Lehrkräften an den Schulen organisieren, ein wissenschaftlicher Beirat soll die Entwicklung landesweit begleiten.

HLZ: Wollen Sie so zurück zum alten HILF?

Messner: Die Kritik am HILF, am HeLP und der Reinhardswaldschule war zum Teil ungerecht und demagogisch, zum Teil aber auch berechtigt. Wir müssen heute Evaluation sicherstellen, wir wollen die Zusammenarbeit mit den Studienseminaren, wir wollen mehr Angebote für Gymnasien und die Integration der beruflichen Bildung. Es gibt mit der Inklusion ganz neue Themen: Wir leben in einer anderen Welt.

Lühmann: Ich kann diesem Konzept sehr viel abgewinnen, die mögliche Rolle von Landesschulamt und Lehrkräfteakademie sehe ich allerdings sehr kritisch. Seit dem Start des Landesschulamts vor einem Jahr ist außer großen Ankündigungen und Bekenntnissen zur großen Bedeutsamkeit der Lehrerfortbildung gar nichts geschehen. Die Lehrkräfteakademie besteht mit Ausnahme der Führungskräfteakademie nur auf dem Papier…

Messner: … und das ist ein weiterer Irrglaube, dass man die Schulentwicklung über die Schulleitungen steuern kann.

Lühmann: Sie wollen, Herr Messner, in Ihrem Konzept den regionalen Zentren auch überregionale Schwerpunkte zuordnen und orientieren sich dabei nach meinem Eindruck sehr stark an den Fächern. Was wird dann aus überfachlichen Themen, zum Beispiel aus der Inklusion?

Messner: Wir stellen unsere „Essentials“ in vielen Gesprächsrunden zur Diskussion und entwickeln sie so weiter. Unser Ausgangspunkt war, dass die Lehrpersonen vor allem über ihre Fächer zur Fortbildung motiviert werden. Aber wir wollen auch die Schulentwicklung, die psychosozialen Belastungen der Lehrkräfte und andere überregionale Zukunftsaufgaben wie etwa die Inklusion fest verankern.

HLZ: Haben Sie das Konzept auch mal durchgerechnet?

Messner: Ja, und wir brauchen durch die Bündelung bisheriger Stellen in den regionalen Zentren kein zusätzliches Personal, allerdings zusätzliche Ressourcen, insbesondere im Bereich der Studienseminare, auch wenn man sich nicht immer sicher sein kann, dass die Lehrkräfte von manchen ihrer früheren Ausbilder oder von denen, die sie als Mentoren kennengelernt haben, auch noch ein Leben lang fortgebildet werden wollen. Insoweit hat die Übernahme von Aufgaben in der Lehrerfortbildung durch die Studienseminare auch ihre Grenzen. Gute Leute werden von den gestandenen Profis akzeptiert, aber man kann nicht das System darauf aufbauen.

HLZ: Heike, wie wird die GEW mit dem Konzept umgehen?

Lühmann: Wir unterstützen die grundlegende Zielsetzung dieses Konzepts sehr und wollen es voranbringen. Wir sehen in vielen Punkten des Konzepts eine gute Konkretisierung unserer GEW-Forderungen. Eine dritte Phase der Lehrerbildung „mit eigenem Profil“, die nicht als „Subfunktion anderer staatlicher Einrichtungen organisiert“ wird und die „von Angehörigen des Berufsstandes wesentlich mitverantwortet wird“, halten wir für wichtig. Auch die Gründung regionaler Kompetenzzentren, die zum Teil auf noch bestehende Einrichtungen wie die Reinhardswaldschule zurückgreifen sollen, könnte den Aufbau einer professionellen Lehrerfortbildung wesentlich voranbringen. Unsere Forderungen an eine neue Landesregierung haben wir deutlich formuliert, sie bedeuten für die Lehrerfortbildung einen klaren Richtungswechsel. Mit dem erarbeiteten Konzept wäre er möglich.

HLZ: Mir gefällt, dass das Konzept Essentials in Erinnerung ruft, die jahrelang schlecht geredet wurden: die Partizipation, die Notwendigkeit von Fortbildungsstätten, die fachdidaktische Fortbildung, die Freiräume für kritische Reflexion oder der Unterrichtsbezug.

In diesem Sinn danke ich Ihnen für das Gespräch.


(1) Michael Katzenbach: Blick nach Neuseeland, HLZ 11-2012, S.16f.

(2) Download der „Essentials“ zum institutionell-organisatorischen Ausbau der Lehrerfortbildung in Hessen