Licht und Schatten

Das Referendariat im neuen Lehrkräftebildungsgesetz

HLZ 11/2022: Lehrkräftebildung

„Wie aus einem Guss“: Mit diesem Motto warb das Hessische Kultusministerium (HKM) in einer Powerpointpräsentation für das neue Hessische Lehrkräftebildungsgesetz (HLbG) und die angepasste Durchführungsverordnung (HLbGDV). Passender gewesen wäre „In Hessen nichts Neues“, denn letztlich ging es bei der „Reform“ nur um relativ geringfügige, kaum um substanzielle Änderungen. Zwar wurden einige Forschungsergebnisse zur Lehrkräftebildung aufgenommen und einige Defizite beseitigt, doch – so das Fazit der GEW in allen Stellungnahmen und in der Anhörung durch den Landtag - die zentralen Schwächen, die seit der Modularisierung der Lehrkräfteausbildung im Jahr 2005 bestehen, bleiben erhalten oder wurden gar verstärkt.

Stimmen aus der Praxis wurden gehört
Während Andrea Gergen die Änderungen des HLbG in der ersten Phase der Lehrkräfteausbildung an den Universitäten betrachtet (HLZ S.16 f.), nimmt Christina Nickel im Folgenden die zweite Phase, den Vorbereitungsdienst, in den Blick. Entsprechend ihrer pädagogischen Grundhaltung beleuchtet sie zunächst die positiven Änderungen:

  • Der Anteil der beratenden Ausbildung steigt. Hatten die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst bisher nur 30 Stunden BRB (Beratung und Reflexion der Berufsrolle) über dreieinhalb Semester verteilt, so haben sie nun mit BRH (Beratung und Reflexion von beruflichen Handlungssituationen) eine Veranstaltung von immerhin 40 Zeitstunden Anwesenheit, die auch durch zwei rein beratende Unterrichtsbesuche flankiert wird und somit keinem Druck zur Bewertung ausgesetzt ist.
  • Die Pädagogische Facharbeit ist ganz abgeschafft. Vorausgegangen war eine Begrenzung auf 20 bis 30 Seiten, mit der niemand mehr dem Anspruch an eine Facharbeit gerecht werden konnte. Jetzt haben die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) mehr Zeit, mit Hilfe des berufsbegleitenden Portfolios ihre Lernentwicklung zu reflektieren. In der mündlichen Prüfung ist diese Reflexion dann auch Gegenstand des Prüfungsgesprächs. Als Ersatz für die Pädagogische Facharbeit müssen die LiV allerdings jetzt auch im Prüfungssemester 10 bis 12 Stunden eigenverantwortlich unterrichten. Dies lehnt die GEW ab, da die LiV gerade auch im Prüfungssemester voll ausgelastet sind.
  • § 45 HLbGDV Abs.2 Ziffer 4 sieht eine neue Ausbildungsveranstaltung zum „Innovieren von Schule und Unterricht mit dem Schwerpunkt bildungspolitisch relevanter Fragestellungen“ vor. Sie ist auf 30 Stunden festgesetzt, doch ist ihr Inhalt noch unklar. Die „bildungspolitisch relevanten Fragestellungen“ sollen in einem „Kerncurriculum Ausbildung“ definiert werden, das bei Redaktionsschluss dieser HLZ noch nicht vorlag. Grundsätzlich sind die Ansätze zur Innovation im Bereich Schule positiv zu sehen.
  • Nach HLbGDV § 43 Abs.3 muss zukünftig der eigenverantwortete Unterricht im Umfang von „mindestens zwei bis zu vier Unterrichtsstunden“ durch eine Mentorin oder einen Mentor betreut werden. Die GEW hält diese Stärkung des Mentorings für einen der größten Pluspunkte der Novellierung, denn nach der bisher geltenden Formulierung „bis zu vier Unterrichtsstunden“ konnten es auch null Stunden sein. Allerdings werden die Ressourcen nicht erhöht, denn die LiV werden wie bisher über drei Semester den Schulen mit acht Stunden für den Unterricht angerechnet und es wird weiter nur eine Stunde für die Mentorenentlastung zugewiesen.
  • Zu begrüßen ist auch, dass für die meisten Unterrichtsbesuche als schriftliche Vorbereitung eine Unterrichtsskizze mit maximal vier Seiten ausreicht. Nur für die Unterrichtsbesuche in den Fachmodulen im zweiten Hauptsemester legt die Lehrkraft im Vorbereitungsdienst einen Unterrichtsentwurf vor, der acht Seiten nicht überschreiten sollte. Diese Präzisierung der Unterlagen für Unterrichtsbesuche schafft Sicherheit und Vergleichbarkeit der Anforderungen und reduziert ggfs. auch den Stress.
  • Die bewerteten Module werden von acht auf sieben reduziert. Das bisherige Modul EBB (Erziehen, Beraten, Betreuen) wird zur unbewerteten Ausbildungsveranstaltung umgewandelt. Dadurch haben die LiV in keinem Semester mehr als drei bewertete Module mit sechs bewerteten Unterrichtsbesuchen zu absolvieren. Ein Semester mit acht Unterrichtsbesuchen gibt es nicht mehr. Allerdings waren bisher mehr Kopplungsmöglichkeiten erlaubt. Gleichzeitig wird in der Gesamtbewertung das einzelne Modul von 5 % auf 7,5 % aufgewertet, das Schulleitungsgutachten leicht abgewertet.


Kein großer Wurf: Die Modularisierung bleibt
Diesen positiven Veränderungen stehen fortbestehende  grundsätzliche Mängel und einige „Verschlimmbesserungen“ gegenüber. Insbesondere ist die Chance nicht genutzt worden, den durch die Modularisierung fragmentierten Blick auf Unterricht durch einen ganzheitlichen, pädagogische, fachdidaktische und diagnostische Aspekte integrierenden Blick auf Unterricht zu ersetzen. Wie sollen LiV, die in einzelnen Modulen jeweils nur einen Aspekt von Unterricht – im Hinblick auf das jeweilige Modul – in den Fokus genommen haben, in „komplexen pädagogischen Situationen“ agieren, wie es im Berufsalltag verlangt wird?

  • Durch die Beibehaltung der modularisierten Struktur bleibt der Bewertungsmarathon, der offensives Lernen und Anpassung befördert und expansives Lernen und „Empowerment“ behindert, erhalten. Innovatives, kreatives Erproben von Handlungssituationen werden die LiV in Anbetracht von sieben Modulnoten eher sein lassen.
  • Hervorstechendes Beispiel hierfür ist die Modulprüfung für den Fall, dass eine Leistung nicht mit mindestens fünf Punkten bewertet wird. Während das HKM auf dieser Auslese schon im ersten Hauptsemester beharrte, lehnt die GEW das frühe Aussortieren ab. Wir hätten es gern gesehen, dass so gravierende Entscheidungen nur in der Zweiten Staatsprüfung und nach dem Mehraugenprinzip getroffen werden. Auf dem Weg zum Zweiten Staatsexamen sollte jede LiV die Möglichkeit haben, mit möglichst wenig Druck die Ausbildung zu durchlaufen und die eigene Lernentwicklung positiv konstruktiv in den Blick nehmen zu können.
  • Es fehlen nach wie vor Räume und Möglichkeiten, um neue Lernsituationen wie das Lernen in multiprofessionellen Teams oder lehramtsübergreifende Kooperationen zu implementieren. Zwar kommen alle bildungspolitisch relevanten „Schlagworte“ von der Inklusion über den sprachsensiblen Fachunterricht bis zur Digitalisierung irgendwie einmal vor, aber eine Konkretion und eine Verzahnung innerhalb der Modulstruktur sind nicht feststellbar.
  • Wie bisher gibt es keine institutionalisierte Kooperation zwischen Studienseminaren und Ausbildungsschulen, so wie sie bis 2004 im Beratungsgespräch nach der ersten Hälfte der Ausbildung existierte. Es werden zwar auch heute noch Halbzeitgespräche geführt, allerdings nicht mehr mit allen an der Ausbildung beteiligten Personen.
  • In der mündlichen Prüfung soll die LiV nach der neuen Fassung von § 48 HLbG ihre Fähigkeit nachweisen, „komplexe pädagogische Fragestellungen zu erörtern und im Hinblick auf die Berufspraxis zu reflektieren“. Die bisherige Formulierung war präziser und konkreter und bezog ausdrücklich „die in der Ausbildung erworbenen Kompetenzen“ ein, die „unter fachdidaktischen, allgemeinpädagogischen, schulrechtlichen und die Mitgestaltung der Schule betreffenden Fragestellungen behandelt“ werden sollen. Insbesondere schulrechtliche Fragestellungen werden gar nicht mehr erwähnt, obwohl der Schulalltag sehr stark von Rechtsvorschriften aller Art geprägt ist, deren Kenntnis von Lehrkräften erwartet wird.
  • Die Aufstockung des eigenverantworteten Unterrichts im Prüfungssemester von 6 bis 8 auf 10 bis 12 Stunden (HLbG­DV § 43 Abs. 3 Ziffer 2) erhöht den Druck auf die LiV gerade in der arbeitsintensiven Phase der Prüfungsvorbereitung und wird von der GEW abgelehnt.
  • Die Möglichkeit, Unterrichtsbesuche im bewerteten Bereich zu koppeln, ist auf einen Besuch pro Semester beschränkt. Auch Besuche, die eine ausbildende Person gleichzeitig für ein Fachmodul und für ein allgemeinpädagogisches Modul durchführt, sind nicht mehr erlaubt. Der Anteil der Fachlichkeit kann in überfachlichen Modulen deshalb sehr klein sein, allerdings hat eine einzige Person nicht mehr einen so großen Bewertungsanteil.

Lehramt Grundschule: Zu wenig Zeit!
Das Lehramt für Grundschule hat die größten strukturellen Änderungen nach der Novellierung zu bewerkstelligen und erscheint am stärksten benachteiligt:
Die Ausbildung findet wieder wie in der Zeit zwischen 2005 und 2012 in drei Fächern statt. Wurden die Studierenden bisher in der ersten Phase der Ausbildung in den drei Fächern Deutsch, Mathematik und einem weiteren Fach mit jeweils 32 Semesterwochenstunden (SWS) relativ paritätisch ausgebildet, so wählen sie nun - am Beispiel der Universität Frankfurt am Main - ein Langfach mit 48 SWS und zwei Kurzfächer mit 24 SWS. Dies bedeutet, dass die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung in den Kurzfächern auf maximal jeweils zwei Veranstaltungen pro Semester beschränkt ist. Hier fordert die GEW schon seit langem eine Verlängerung der Studienzeit auf zehn Semester, mindestens aber – wie von der KMK gefordert – auf acht Semester, damit eine der anspruchsvollen Tätigkeit entsprechende Qualifizierung gewährleistet ist. Die Tatsache, dass Hessen die bundesweit kürzeste Ausbildungsdauer für das Grundschullehramt hat, wurde im Landtag breit diskutiert, ohne dass die Koalition von CDU und Grünen hier Einsicht zeigte.

Im Referendariat wird das Langfach über zwei Semester ausgebildet, für die beiden Kurzfächer ist jeweils nur ein Modul mit 20 Stunden (!) Präsenzzeit zu absolvieren, in der die Grundlagen für den Anfangsunterricht, für Lese- und Schreibdidaktik und Diagnostik gelegt werden sollen. Für das Fach Mathematik gilt dasselbe. Dies kann aus Sicht der GEW nicht funktionieren. Besonders erwähnenswert erscheint, dass Hessen diese Form der Ausbildung schon einmal hatte und alle Beteiligten 2012 sehr erleichtert waren, als sie wieder abgeschafft wurde.

Die Prüfung im Grundschullehramt muss in allen drei Fächern erfolgen, im Langfach und in einem Kurzfach im Unterricht, in dem anderen Fach auf Grundlage einer ausführlichen Unterrichtsplanung mit Erörterung. Bedauerlicherweise muss sich die LiV schon am Ende des Einführungssemesters entscheiden, in welchem der beiden Fächer sie nur auf Grundlage einer Planung mit Gespräch geprüft werden will, denn dieses Fach muss sie im ersten Hauptsemester in der fachdidaktischen Ausbildung wählen, während sie das andere Kurzfach im zweiten Hauptsemester und im Prüfungssemester unterrichtet. Hier wird es wirklich absurd: Um 20 Minuten Zeit für die Erörterung der Planung zu gewinnen, wird die Erörterungszeit für die beiden praktischen Lehrproben um jeweils 10 Minuten von 45 auf 35 Minuten verkürzt.

Wie man drei Fächer im Stundenplan der LiV abbilden soll, ist ein weiteres Rätsel. Mit 6 Stunden Deutsch und 5 Stunden Mathematik ist die Obergrenze des eigenverantworteten Unterrichts von 12 Stunden schon fast erreicht. Also wäre es sinnvoll, die gleiche Lerngruppe in einem Semester in Mathematik und im nächsten in Deutsch zu unterrichten, denn sonst bleibt für das dritte Fach, was vermutlich häufig das Langfach sein wird, kein Raum mehr, um in verschiedenen Lerngruppen zu unterrichten.

Alles in allem handelt es sich bei der Reform eher um ein „Reförmchen“. Eine Reform „aus einem Guss“ sieht anders aus.

Christina Nickel

Christina Nickel leitet zusammen mit Andrea Gergen das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand.