Referendariat in Hessen

Perspektiven der Weiterentwicklung

HLZ 1-2/2014: Lehrerbildung

Das Referendariat in Hessen ist durch die Modularisierung im Jahre 2005 inhaltlich und organisatorisch in eine Dauerkrise geraten. Die Krisensymptome sind offenkundig. Die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) werden aufgrund der Benotung der einzelnen Module einem permanenten Notendruck unterworfen.

Da die praktische Unterrichtstätigkeit im Zentrum der Benotung steht, „zählt“ jeder Unterrichtsbesuch für die Modulnote. Die Beratung wird – zumindest im Bewusstsein der LiV – zweitrangig. Statt auf die Weiterentwicklung der Unterrichtspraxis ist ihr Blick auf die Note gerichtet, die hinter den Erörterungen der Ausbilderinnen und Ausbilder durchschimmert. Nur die stärksten Persönlichkeiten und unabhängigen Geister schaffen es, das Referendariat ohne Anpassung an das, „was der Ausbilder will“, durchzustehen. Es besteht die Gefahr, dass infolge dieses Bewertungsmarathons Lernen durch Anpassung ersetzt und für die zukünftigen Lehrkräfte mit dem Erreichen guter Noten statt mit Bildung von Schülerinnen und Schülern und Selbstbildung der Lehrenden verbunden wird.

Diese aufgrund der Erfahrung im Referendariat gewonnene „subjektive Theorie“ steht aber in Widerspruch zu dem, was die LiV in den Modulen lernen; dort erfahren sie nämlich, dass Lern- und Prüfungssituationen getrennt werden müssen, dass es während des Lernprozesses „formative“ Lernsituationen gibt, in denen die Lehrenden und Lernenden den Stand des Kompetenzerwerbs erkennen und Konsequenzen für die Weiterarbeit ziehen, und „summative“ Prüfungssituationen, in denen es um abschließende Bewertung zwecks Notenvergabe geht. Da braucht es viel „Ambiguitätstoleranz“, um mit diesen Widersprüchen umzugehen!

Permanenter Notendruck

Selbstverständlich hat die permanente Benotung auch abträgliche Wirkungen auf die Beziehung zwischen Ausbilderinnen, Ausbildern und LiV. Statt selbstkritisch im Bemühen um guten Unterricht zu kooperieren, empfindet die LiV die Ausbilderinnen und Ausbilder primär als diejenigen, die Macht ausüben, weniger als diejenigen, die aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer didaktischen Reflexionskompetenz Lernpartner sein können. Umgekehrt hat die Notengebung und ihre juristische Absicherung für die Ausbilderinnen und Ausbilder einen hohen Stellenwert – oft im Konflikt mit der vertrauensvollen Offenheit, die nötig ist, um Lernprozesse anzustoßen. Auch vor der Modularisierung der Lehrerausbildung mussten die Ausbilderinnen und Ausbilder die LiV bewerten, doch macht es einen gravierenden Unterschied, ob diese Bewertung am Ende von zwei Jahren Ausbildung erfolgte oder ob nach jedem Halbjahr vier, fünf Noten gegeben werden. Im Nachbarland Rheinland-Pfalz ist man nicht von ungefähr von der permanenten Benotung im Referendariat weggekommen.

Die permanente Bewertung war auch Thema bei einer der „Modulkonferenzen“ des Dezernats II.2 im Landesschulamt (LSA), zu der die hessischen Ausbilderinnen und Ausbilder dienstverpflichtet wurden. Helen Timperley, Erziehungswissenschaftlerin aus Neuseeland und Mitarbeiterin von John Hattie, informierte dort über Forschungsprojekte zur Bedeutung formativer Beurteilungen und zur Etablierung einer Feedbackkultur in Schule und Unterricht. Die Wortmeldungen der Kolleginnen und Kollegen aus allen Fächern und Schulformen liefen darauf hinaus, dass die Struktur der modularisierten Ausbildung in Hessen einem solchen Lernen zuwider laufe. Sie forderten eine erneute Überprüfung der Struktur der modularisierten Ausbildung und der permanenten Benotung. Auch die politisch Verantwortlichen müssen sich mit Timperleys Ergebnissen auseinandersetzen!

Universitäre Lehrerausbildung und Referendariat

Die Verbindung zwischen universitärer Ausbildung und Referendariat ist noch zu wenig ausgeprägt. An einigen hessischen Universitäten gibt es gute Ansätze wie die gut betreuten Praktika oder Projekte zur Kooperation zwischen Studierenden in den schulpraktischen Studien und LiV, wie sie in Nordhessen von der Universität Kassel, den Studienseminaren und den Ausbildungsschulen gemeinsam organisiert werden. Doch solche Formen der Verzahnung sind noch nicht die Regel. Auch das künftige Praxissemester wird sie nicht fördern, da es allein in der Verantwortung der Universität liegt und die Studienseminare – anders als in anderen Bundesländern – außen vor bleiben. Die Forderung nach einer besseren Verzahnung ist keine Absage an eine theoriegeleitete Analyse des Berufsfelds Schule, denn der reflektierte Praktiker benötigt ein solides Fachwissen und die Fähigkeit zu theoriegeleiteter Reflexion.

Mangelnde Vorbereitung auf Inklusion

Es ist nicht erkennbar, wie Studium und Referendariat auf den Unterricht in der inklusiven Schule vorbereiten wollen. Modulbeschreibungen und Ausbildungsveranstaltungen sehen keine explizite Beschäftigung mit inklusiver Pädagogik, inklusivem Unterricht und inklusiver Schulentwicklung vor. Deshalb ist es leicht möglich, diesen Aspekt unter den Tisch fallen zu lassen, auch wenn nach der Einleitung zu den Modulbeschreibungen die rechtlichen Vorgaben zur Inklusion „bei der konkreten Ausgestaltung und Umsetzung eines jeden Moduls im Vorbereitungsdienst zu beachten“ sind. Für das Lehramt an Grund-, Haupt-, Real- und Förderschulen gibt es ein spezifisches Modul „Diversität in Lehr- und Lernprozessen nutzen“, in dem möglicherweise das Thema „Inklusion“ seinen Platz haben soll. Aber wie sind die beiden Unterrichtsbesuche in diesem Modul zu bewerten? Wie sollen die modulspezifischen Standards in konkrete Beurteilungskriterien umgesetzt werden? Wenn schwerpunktmäßig der Umgang mit Diversität in der Unterrichtspraxis der LiV bewertet und benotet wird, besteht die Gefahr, dass bestimmte Schülerinnen und Schüler unter dem Aspekt ihrer Beeinträchtigung oder bestimmte Schülergruppen unter einem Etikett zusammengefasst und auch darauf reduziert werden, so dass gerade kein inklusiver Blick auf die Unterrichtsstunde gerichtet wird. „Abspaltende Kategorien“, um die Lernenden zu diagnostizieren und ihren Lernerfolg zur Grundlage der Bewertung der „Lehrpobe“ zu machen, sind mit dem Konzept von Diversity, das dem Modul zugrunde liegt, auf jeden Fall nicht vereinbar und könnten Hans Wockens Diktum für inklusiven Unterricht unterlaufen: „In der Inklusion sind einfach alle unterschiedslos und namenlos verschieden. Die Einteilung der Kinder in dichotome Zuschreibungen wie ‚behindert‘ und ‚nichtbehindert‘ oder ihre Etikettierung als ‚Gutachtenkinder‘, ‚Förderkinder‘, ‚Integrationskinder‘ oder sonstige abgespaltene Kategorien ist mit der Philosophie inklusiver Pädagogik nicht vereinbar.“ (1)

Um herauszufinden, ob diese Gefahr besteht und wie man ihr begegnen kann, bedarf es der lehramtsübergreifenden Kooperation der Studienseminare, zumal an den Gesamtschulen LiV unterschiedlicher Lehrämter und Studienseminare die gleichen Schülerinnen und Schüler unterrichten. Jedenfalls kann sich die Vorbereitung auf inklusive Schule und inklusiven Unterricht nicht auf ein einziges Modul beschränken, sondern sie ist eine Querschnittsaufgabe in allen Bereichen der Lehrerausbildung, der Pädagogik, Fachdidaktik und Schulentwicklung. Die Bundesländer Berlin und Baden-Württemberg haben dazu Kommissionen eingesetzt, die für alle Lehrämter in den Bildungswissenschaften und in den Fachdidaktiken eine sonderpädagogische Grundqualifikation fordern. So würden alle Lehramtsstudierenden die notwendige Basisqualifizierung erhalten, auf der die Zweite Phase aufbauen kann (2). In Hessen bleibt jedoch das streng selektive Schulsystem das Haupthindernis für die Verwirklichung von Inklusion.

Negative Folgen der Sparmaßnahmen

Außer diesen inhaltlichen Problemfeldern belastet die Sparpolitik seit 2012 die Ausbildung in hohem Maße. Die Ausbilderinnen und Ausbilder erhalten viel zu wenig zeitliche Ressourcen für ihre Ausbildungsarbeit. Ihr Unterricht fällt wegen der Unterrichtsbesuche aus; der durch Zeitknappheit bedingte Stress führt zu krankheitsbedingten Ausfällen, für die es wiederum keine Vertretungen gibt. Die Beziehung zwischen Studienseminaren und Ausbildungsschulen verschlechtert sich, weil die Schulen zu Recht daran interessiert sind, dass Ausbilderinnen und Ausbilder ihren Unterricht halten. Außerdem sinkt die Ausbildungsbereitschaft der Ausbildungsschulen, seit die LiV mit acht Stunden angerechnet werden, so dass der Staat immer mehr Druck auf die Schulen ausübt, um seiner Ausbildungsgarantie gerecht zu werden. Eine gute Ausbildung ist aber nur möglich, wenn die LiV an den Schulen willkommen und nicht nur geduldet sind und wenn die aus der Verkürzung des Referendariats gewonnenen Ressourcen endlich den Mentorinnen und Mentoren in Form von Anrechnungsstunden zugutekommen.

Forderungen der GEW

Der GEW-Landesvorstand hat seine Forderungen in einem Beschluss vom 25. Mai 2013 formuliert (3). Sie gelten auch für die neue Landesregierung, die im Januar ihr Amt antritt:

  • Die GEW fordert die Abschaffung der den ganzheitlichen Blick auf Unterricht hemmenden Modulstruktur. Die Ausbildungsveranstaltungen in den von der Kultusministerkonferenz formulierten Kompetenzbereichen Erziehen, Unterrichten, Diagnostizieren/Beurteilen und Innovieren müssen sich über die gesamte Dauer des Referendariats erstrecken.
  • Die GEW fordert die Abschaffung der permanenten Benotung der LiV und die Rückkehr zur Benotungspraxis, die die professionelle Entwicklung der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst über einen längeren Zeitraum zur Grundlage der Bewertung macht.
  • Die GEW fordert eine Verringerung der Unterrichtsverpflichtung der LiV auf maximal zehn Stunden, sodass sie noch Zeit für Hospitationsunterricht haben.
  • Eine gute Ausbildung erfordert Ressourcen in Form von Zeit für Beratung und Reflexion. Daher müssen die Ressourcen für die Ausbildung am Studienseminar auf mindestens 5,2 Zeitwochenstunden pro LiV erhöht werden. Die Schulen müssen pro LiV zwei Stunden für die Entlastung von Mentorinnen und Mentoren erhalten. Die Anrechnung der LiV an den Schulen muss auf maximal vier Stunden gesenkt werden. Mittelfristig müssen Konzepte für die bessere Verzahnung der Phasen der Lehrerbildung sowie für die  Vorbereitung auf die inklusive Schule entwickelt und umgesetzt werden. Die GEW wird dies kompetent und kritisch begleiten.

Franziska Conrad leitet zusammen mit Heike Lühmann das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand. Sie ist Ausbilderin und Mitglied im Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer.

(1) Wocken, H. (2012): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen – Baupläne – Bausteine, Hamburg, S. 119.

(2) www.berlin.de  | www.kultusportal-bw.de

(3) Forderungen des GEW-Landesvorstands vom Mai 2013