Vergebene Chancen

Nach der Novellierung des Lehrkräftebildungsgesetzes

HLZ 12/2022 - 1/2023: Arbeitsplatz Hochschule

Die Novellierung des HLbG und der HLbGDV hätte eine Chance sein können, die Qualität der Lehrerausbildung in Hessen zu verbessern. Doch was hat sie uns tatsächlich gebracht?

  • Das Praxissemester mit fachdidaktischer Betreuung in nur einem Unterrichtsfach wurde als alleinige Praxisphase zementiert.
  • Für zukünftige Grundschullehrkräfte gilt wieder das Drittfach.
  • Die Modularisierung bleibt erhalten mit der Folge, dass der Bewertungsmarathon in der fachdidaktischen Ausbildung weitergeht und in den „allgemeinpädagogischen Modulen“ nach wie vor Ausbilderinnen und Ausbilder zu Unterricht in Fächern beraten, die sie nicht studiert haben, und diesen Unterricht benoten.
  • Die erziehungsbezogenen Ausbildungsanteile im Vorbereitungsdienst wurden abgewertet.
  • Die Unterrichtsverpflichtung der LiV wird in einzelnen Phasen der Ausbildung erhöht.
  • Alle LiV werden verpflichtet, ein Portfolio zu führen.

Hätte man erfahrene Lehrkräfte oder LiV befragt, was sich aus ihrer Sicht an der Lehrkräfteausbildung in Hessen ändern sollte, wäre keiner dieser Punkte dabei gewesen. Aber die Verantwortlichen wollten sie nicht fragen – nicht die LiV, nicht die Ausbilderinnen und Ausbilder und nicht die Lehrkräfte.
 

Kerncurriculum Ausbildung

Die neue Gesetzgebung sieht vor, dass ein Kerncurriculum für die Ausbildung an die Stelle der bestehenden Modulbeschreibungen für die Ausbildungsmodule treten soll. Im Zuge der Entwicklung dieses Curriculums hätte sich die Gelegenheit geboten, einen Unterricht, der auf eine allgemeine Bildung der Schülerinnen und Schüler im Sinne einer Qualifizierung für die Bewältigung der Schlüsselprobleme unserer Zeit gerichtet ist, (wieder!) zum zentralen Bezugspunkt der Ausbildung zu machen. Zu diesen Schlüsselproblemen zählen die Fragen

  • nach einem gerechten Leben für alle in der einen Welt,
  • nach Krieg und Frieden,
  • nach dem Klimawandel und der Verbindung von Wohlstand mit einer ressourcenschonenden Lebensweise,
  • nach einem geschlechtergerechten Leben und
  • nach einem Leben in Akzeptanz gegenüber anderen Weltanschauungen und religiösen Haltungen.
     

Als man noch Klafki gelesen hat, waren das die selbstverständlichen Bezugspunkte eines auf Allgemeinbildung gerichteten Unterrichts. Heute fasst man diese Fragen als den Gegenstand einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) auf, die eng verbunden ist mit einer Erziehung zu demokratischer Partizipation. Der Gesetzgeber sieht zwar vor, beides, BNE und Demokratiebildung, in der Lehrkräfteausbildung zu verankern (§ 1 HLbG). In dem Anfang Oktober vorgelegten Entwurf des Kerncurriculums findet der Themenbereich BNE allerdings in nur fünf von etwa 80 fachbezogenen Modulcurricula überhaupt Erwähnung, vier davon beziehen sich auf das Lehramt an Gymnasien. Die großen Herausforderungen unserer Zeit betreffen aber alle Lehrkräfte aller Fachrichtungen, Schulformen und Stufen. Sie erfordern es, dass alle Schülerinnen und Schüler darauf vorbereitet werden, sich ihrer in demokratischen Prozessen anzunehmen. Angesichts des Krieges in der Ukraine und des Versagens der Industrienationen in Bezug auf den Klimawandel ist unverständlich, warum die Schlüsselprobleme unserer Zeit, die eigentlich im Mittelpunkt aller Bildungsanstrengungen stehen müssten, in dem Kerncurriculum für die Ausbildung derart marginalisiert werden.
 

Vielleicht hat es damit zu tun, dass dieses Curriculum die inhaltliche Ausgestaltung der Ausbildung insgesamt viel zu wenig konkret adressiert: Die Curricula für die knapp 80 Fachmodule in allen Fächern aller Schulformen und -stufen basieren sämtlich auf ein und derselben Textvorlage, einer mehr oder minder vollständigen Zusammenfassung hinlänglich bekannter allgemeiner Merkmale gelingenden Unterrichts, ergänzt um einzelne fach-, schulform- und stufenspezifische Aspekte. Auf welche beruflichen Handlungssituationen sollen die LiV im Laufe der Ausbildung im Einzelnen vorbereitet werden? Fehlanzeige! Am Ende der Ausbildung sollen die LiV guten Unterricht machen, ist die alleinige Botschaft. Ja, was denn sonst? Für eine spezifische Orientierung über die Inhalte der Ausbildung ist das Ausbildungscurriculum leider kaum zu gebrauchen. Die Novellierung von HLbG und HLbGDV und die Entwicklung des Kerncurriculums Ausbildung bleiben so vertane Chancen.
 

Ausbildung und Unterricht

Auch wenn man die Gelegenheit für eine sinnvolle inhaltliche Bestimmung der Ausbildungsinhalte genutzt hätte, würde es die Ausbildung niemals alleine leisten können, die großen Herausforderungen unserer Zeit im Unterricht angemessen abzubilden. Schon gar nicht, solange die Curricula für den Schulunterricht dafür gar keine Spielräume lassen, weil zentrale Prüfungen vorbereitet werden müssen, in denen diese Fragen erst gar keine Rolle spielen, und auch nicht, solange eine entsprechende fachliche Qualifizierung der jungen Lehrerinnen und Lehrer zu BNE-Fragen in der ersten Phase der Ausbildung nur sporadisch stattfindet, weil auch dort die Allgemeinbildung ihren Stellenwert als Bezugspunkt des Unterrichts verloren hat. Hier die Weichen für einen Unterricht zu stellen, der den Anforderungen der Gegenwart und der absehbaren Zukunft gerecht wird, bedürfte einer systematischen Überarbeitung der Curricula für den Schulunterricht in Verbindung mit einer Revision der inhaltlichen Ausgestaltung aller Phasen der Lehrkräfteausbildung. Eigentlich kein Luxus!
 

GEW-Forderungen zur Ausbildung

  • Die GEW Hessen hat in ihren Beschlüssen Eckpunkte für eine zukunftsorientierte Lehrkräfteausbildung benannt:
  • Regelstudienzeit von mindestens zehn Semestern für alle Lehrämter
  • ausreichend Praxisanteile in der ersten Phase der Ausbildung mit einer qualifizierten fachdidaktischen Betreuung in allen Unterrichtsfächern
  • Abkehr von der unsäglichen Fragmentierung durch die Modularisierung
  • unbewertete Erfahrungsräume im Vorbereitungsdienst auch in der Fachdidaktik
  • faire Chancen für LiV, die für ihre Ausbildung länger brauchen als andere statt einer Modulprüfung, mit der sie aus dem Dienst entfernt werden können
  • Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung der LiV Entlastung der Mentorinnen und Mentoren mehr Zeit für die Kooperation der Mentorinnen und Mentoren mit den Ausbilderinnen und Ausbildern

Zu ergänzen wäre dieser Forderungskatalog um ein Kerncurriculum für die Ausbildung, das eine spezifische inhaltliche Orientierung erlaubt, eine Rückbesinnung auf allgemeine Bildung im Verständnis bildungstheoretischer Didaktik als zentralem Bezugspunkt der Lehrkräfteausbildung und des Unterrichts, eine Aufwertung inhaltsbezogener didaktischer Kenntnisse durch eine stärkere Ausrichtung der fachdidaktischen Ausbildung auf konkrete Unterrichtsinhalte und eine inhaltliche Qualifikation junger Lehrerinnen und Lehrer in Bezug auf BNE-Fragen in beiden Phasen der Ausbildung.

Christian Hengel


Christian Hengel ist Ausbilder am Studienseminar für Gymnasien in Frankfurt und arbeitet im Referat Aus- und Fortbildung der GEW Hessen mit.