An den Rand gedrängt

Der Politikunterricht an berufsbildenden Schulen

HLZ 6/2020: Berufliche Bildung

Das Hessische Schulgesetz (HSchG) formuliert als Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule – wenn auch allgemein gehalten – hohe, durchaus erstrebenswerte Ansprüche: Sie soll nach § 2 Absatz 2 die Schülerinnen und Schüler befähigen, „sowohl durch individuelles Handeln als auch durch die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen mit anderen zur demokratischen Gestaltung des Staates und einer gerechten und freien Gesellschaft beizutragen“. Dies erfordert allerdings Kenntnisse über Strukturen und Vorgänge, die sich in der Regel hinter dem Rücken der Betroffenen abspielen und durch vielfältige Narrative eher ver- als erklärt werden. Die kritische Auseinandersetzung mit dem, was vor sich geht, und dem, was darüber verbreitet wird, ist ein schwieriges Geschäft - nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Lehrkräfte, die gerade an den beruflichen Schulen das Fach Politik sehr oft fachfremd unterrichten.

Auch die Teilzeitberufsschule im dualen System soll trotz eines reduzierten Bildungsauftrags neben der Vermittlung fachlicher Fertigkeiten und Kenntnisse die allgemeine Bildung erweitern und so „zur Erfüllung der Aufgaben im Beruf und zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in wirtschaftlicher, technischer, sozialer und ökologischer Verantwortung“ beitragen (§ 39 Absatz 1 HSchG). Der Anspruch ist also nicht wesentlich tiefer gehängt, nur ist die Zeit, die für ein solches Unterfangen vorgesehen ist, noch knapper. So sieht die Stundentafel für die Teilzeitberufsschule im dualen System für das Fach Politik und Wirtschaft gerade einmal eine Wochenstunde vor.

Kritische Lehrkräfte nutzen zwar thematische Querverbindungen zu den Fachlernfeldern, aber auch dort ist der zeitliche Spielraum begrenzt. Außerdem sind die politischen Andockmöglichkeiten über die Jahre gewaltig heruntergefahren worden, wie sich jüngst an dem Lehrplan für den Groß- und Außenhandel gezeigt hat.

Am 7. September 2016 veranstaltete der Landesverband Hessen der GEW eine Fachtagung mit dem Titel: „Wann, wenn nicht jetzt? Politische Bildung in den Schulen in Hessen“. Dabei stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrer Abschlusserklärung fest, „dass die Rahmenbedingungen für politische Bildung in Hessen ein Niveau erreicht haben, das inakzeptabel ist.“ Sie beklagten den überwiegend fachfremd erteilten Unterricht, den Wegfall der fachdidaktischen Fort- und Weiterbildung durch das Kultusministerium sowie die „strukturelle“ Benachteiligung des Faches Politik und Wirtschaft. Politische Bildung werde an den Rand gedrängt und habe kaum noch Raum an hessischen Schulen. Es fehle zudem an Zeit, sich mit politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Das gefährde den Auftrag der Schulen zur Demokratieerziehung. So ist es dann auch kein Wunder, wenn sich nach einer Untersuchung der Otto-Brenner-Stiftung im Jahr 2019 ein Viertel der deutschen Jugendlichen „einen starken Führer“ wünscht, „der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss.“ 

Mindestens zwei Stunden pro Woche

Längerfristig ist eine Ausweitung des Politikunterrichts auf mindestens zwei Stunden pro Woche in allen Klassen der beruflichen Schulen anzustreben. Kurzfristig gilt es, mit der knappen Zeit so umzugehen, dass die aktuellen Kontroversen strukturell erfasst werden können.

Auch die Shell-Jugendstudien bestätigen, dass das politische Verständnis der Schülerinnen und Schüler bereits bei den Grundlagen, erst recht aber in Bezug auf Zusammenhänge sehr dünn ist. Deshalb ist eine sorgfältige didaktische Abwägung vorzunehmen. Leider ist jedoch von weiteren Einschränkungen für einen kritischen Politikunterricht auszugehen: Bei Unterrichtsausfall steht das Fach Politik eher zur Disposition als der Fachunterricht. Aus Sorge, parteiisch zu wirken, tendieren Lehrkräfte oft dazu, die Ausgewogenheit zu übertreiben, sodass letztlich bei den Schülerinnen und Schülern das Gefühl bleibt, dass prinzipiell „alle Seiten“ irgendwie recht haben. Zugespitzte politische Zusammenhänge werden aus diesem Grund eher gemieden. Stattdessen werden solche Themen ausgewählt, bei denen man gesellschaftlich nicht so leicht aneckt. Auch weichen Lehrkräfte, sofern möglich, gern auf Themen aus, bei denen ein Vorverständnis auf Seiten der Schülerinnen und Schüler bereits vorhanden ist. Die Ausrichtung des Unterrichts auf reproduzierbare Ergebnisse führt leicht dazu, dass die Emotionalität auf der Strecke bleibt und Schülerinnen und Schüler eher angelernte Wissenshäppchen erwerben, als dass sie sich einen Standpunkt mit entsprechendem Handlungswillen erarbeiten.

Mein Fazit: Es sollten Materialien oder Hinweise entwickelt bzw. benutzt werden, die ein didaktisch wichtiges Thema (Schlüsselthema, exemplarischer Zusammenhang, sich wiederholendes Muster politischer Abläufe) auch emotional erschließen, damit es zu einer Haltung oder Haltungsveränderung kommen kann. Filme, Clips oder eben „Narrative“ eignen sich dafür besonders.

Narrative entwickeln und nutzen

Das Wort „Narrativ“ ist inzwischen ein häufig benutzter Begriff. Thomas Piketty hat der „Erzählung“ zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit sein ganzes neues Buch „Kapital und Ideologie“ gewidmet. Über „Leistungsträger“ und „Sozialschmarotzer“ gibt es jede Menge solcher Narrative oder Erzählungen, die dafür sorgen, die tatsächlichen Sachverhalte in ihr ideologisches Gegenteil zu verwandeln und in den Köpfen der Bevölkerung zu verankern. 

Die Steuerhinterzieher, die ihr Geld in Steuer-„Oasen“ (!) oder in den Steuer-„Paradiesen“ (!) parken, die Manager von Autofirmen, die eine betrügerische Software in Autos zu verantworten haben, die Finanz-„Investoren“, die ganze Banken ins Wanken bringen, sie alle sind „Leistungsträger“, weil ihre Leistungen selbstredend ihrem Spitzeneinkommen entsprechen. 

Es sind letztlich relativ wenige Grundmuster, die in der öffentlichen Debatte immer wieder benutzt werden. Doch für diese Narrative gibt es genügend Gegenerzählungen. 2011 hat sich die GEW vor der Volksabstimmung zum staatlichen Kreditaufnahmeverbot in die Hessische Verfassung (Neusprech: „Schuldenbremse“) das Narrativ der „Generationengerechtigkeit“ vorgenommen. Sie wurde von den Befürwortern des Verbots ausgiebig bemüht, weil Schulden die jüngere Generation übermäßig belasteten. Die GEW und viele andere wiesen demgegenüber darauf hin, dass aufgrund des Verschuldungsverbots Investitionen unterbleiben und die Infrastruktur verfällt, was keinesfalls „generationengerecht“ ist! Und auch das Wort „Schuldenbremse“ ist falsch, weil es Schulden nicht bremst, sondern zu Privatisierungen und Schattenhaushalten führt.

Solche Grundmuster herauszuarbeiten und schlüssig zu kontern - und das mit dem knappen Zeitbudget -, scheint mir dringend notwendig, weil sich nur so herrschende Paradigmen - wenn überhaupt - überwinden lassen. Beispiele gibt es genug. Stellvertretend seien hier nur die folgenden Veröffentlichungen erwähnt:

  • Kai Eicker-Wolf und Patrick Schreiner: Märchen des Neoliberalismus (Beiträge im Magazin „Lunapark21“ unter www.lunapark21.net)
  • Daniel Baumann und Stephan Hebel: Gute-Macht-Geschichten. Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen können. Westend-Verlag 2016.
  • Ulrike Herrmann: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind. Westend-Verlag 2019

Herbert Storn