Der mitbestimmte Algorithmus 

Anforderungen an eine „vorausschauende Arbeitsgestaltung"

HLZ 6/2020: Berufliche Bildung 

 

In der Kontroverse um die Gestaltbarkeit des Wandels von Arbeitswelten durch den Einsatz digitaler Techniken werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wieder mit bunten Marketing-Szenarien konfrontiert, die Bilder einer plötzlich hereinbrechenden digitalen Revolution zeichnen. Dabei werden technische Schlagworte und Produktbegriffe vermischt zu einer undurchdringlichen Hype-Welle, die gleichsam über Nacht darüber urteilt, wer „vorne“ ist. Die ständige Verwendung von Schlüsselworten wie Superintelligenz, Roboter, selbstfahrende Autos, HomeOffice, Künstliche Intelligenz, Cyberphysische Systeme oder Smart Glasses soll offenlegen, dass es normal sei, die eigene Übersicht verloren zu haben. Demgegenüber plädiert das 1991 gegründete gewerkschaftliche Personennetzwerk Forum Soziale Technikgestaltung (FST) mit mehr als 4.600 Frauen und Männern aus Betriebs- und Personalräten sowie Belegschaften für mehr Nüchternheit und mehr Selbstvertrauen: mehr Nüchternheit im Dschungel der Marketingsprache und mehr Selbstvertrauen in die eigene Kompetenz. 

Im Dschungel der Marketingsprache

Wir sollten uns nicht jene Erfahrungen absprechen lassen, die wir seit drei Jahrzehnten im Umgang mit digitalen Netzkulturen gesammelt haben. Schließlich waren es Kolleginnen und Kollegen, die sich seit Mitte der neunziger Jahre für alternierende Telearbeit, Mobiles Arbeiten und HomeOffice einsetzten. Der erste Tarifvertrag für mobiles Arbeiten wurde 1996 (!) unterschrieben. Da gab es das Code-Wort „Vier-Null“ noch nicht. Die erste breitflächige Nutzung mobiler Endgeräte fand ab 1997 statt: noch ohne grafische Oberflächen, aber mit Befehlseingabe. Da war Apple noch nicht vorhanden. Lernplattformen stehen seit 25 Jahren zur Verfügung. Gewerkschaftliche Blended-Learning-Angebote sind lange bekannt. Die Liste ließe sich fortsetzen. 

Aus der Perspektive des FST lässt sich mit dem netzwerk­erfahrenen „Blick hinter die Kulissen“ festhalten, dass es bei dem allergrößten Teil der heutigen Technikeinführungen in Betrieben, Dienstleistungszusammenhängen und Verwaltungen um die Implementierung von Technikentwicklungen und Organisationsmodellen geht, die seit 10, 20 oder 25 Jahren vorliegen. Es handelt sich in der Fläche um eine „nachholende Digitalisierung“ (Schröter). Die gewerkschaftliche Gestaltung dieses Nachholens ist zweifellos erforderlich, denn die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer empfinden dies ja persönlich verständlicherweise als neu. Real handelt es sich aber häufig darum, dass unter den Marketing-Floskeln von „Vier-Null“ oder „KI“ alte Inhalte in neuer Verpackung transportiert werden. Wir sollten daher überdenken, ob wir unsere Gestaltungskapazitäten nicht verstärkt auch auf jene Themenfelder erweitern, die technologisch tatsächlich neu sind. Wenden wir uns der Digitalisierung hinter der Digitalisierung zu! 

Das FST hat ein ergänzendes gewerkschaftliches Handlungsfeld identifiziert. Das FST-Thema „Der mitbestimmte Algorithmus“ fragt nach dem arbeitsweltlich Herausfordernden hinter dem „KI“-Slogan. Damit ist vor allem die Entwicklung und Gestaltung jener Software-Werkzeuge gemeint, die sich durch Anwendung selbst verändern. Es handelt sich um mathematische Systeme, die ständig neue Daten aufnehmen, diese bewerten und sie zur Grundlage der nächsten Handlungsschritte machen. Der innerakademische Diskurs spricht in der Fördermittelantragssprache vom „maschinellen Lernen“. Dabei ist der „Lern“-Begriff hierbei genauso unzutreffend wie der „Intelligenz“-Begriff in der KI-Debatte. Hier wird nicht „gelernt“, sondern es werden Daten nach mathematischen Spielregeln verarbeitet. 

Arbeitsweltliche Herangehensweise

Entscheidend für die arbeitsweltliche Herangehensweise ist dabei, dass ein nicht unwichtiger Teil dieser sich selbstverändernden Software-Systeme nach ihrem Start nicht mehr oder nur mit immensem Aufwand gestaltbar ist. Das bedeutet, dass der traditionelle gewerkschaftliche Weg des Gestaltens nach der Nutzungserfahrung und Mitbestimmung in diesem Kontext nicht mehr ausreichend erfolgreich sein wird. Die Gestaltung muss vor (!) dem Startbeginn dieser sich selbst verändernden Software liegen. Das FST spricht deshalb von der Notwendigkeit der „vorausschauenden Arbeitsgestaltung“. Der Negt‘sche Erfahrungsansatz muss überdacht und aktualisiert werden. 

Nimmt man hinzu, dass solche Systeme nicht nur für innere Abläufe in Unternehmen und Verwaltungen vorgesehen sind, wird ein neues Wirkungsfeld gewerkschaftlichen Handelns ersichtlich: Wenn solche Systeme vor allem auf die Steuerung und rechtsverbindliche Entscheidung von Wertschöpfungsprozessen in Echtzeit zwischen Betrieben, Kunden und Marktteilnehmern sowie zwischen Wirtschafts- und E-Government-Akteuren gedacht sind, bedarf es der Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung auf die Wertschöpfungsketten, um die Arbeit am Standort zu halten und der Gefahr der sogenannten Amazonisierung von Diensten (nicht nur von Produkten) zu begegnen. Diese Ausweitung der Tätigkeit von Betriebsräten und Personalräten könnte schrittweise und partiell durch die Nutzung der vorhandenen klassischen Mitbestimmung erfolgen. Dazu dient die Idee des Vorhabens „Der mitbestimmte Algorithmus“. 

Wenn ein Software-Werkzeug durch ständige Aufnahme neuer Daten aktiv ist und daraus neue rechtsverbindliche Entscheidungen in Echtzeit hinter dem Rücken des Menschen treffen kann, wird der Vorgang – vereinfacht ausgedrückt – vor allem durch zwei Arbeitsebenen geleitet: die Spielregel (Algorithmus) der Software und die Fütterung bzw. Auswertung der algorithmischen Entscheidungsprozesse. Beide Arbeitsebenen müssen der Mitbestimmung unterworfen werden. Da das Software-Werkzeug sich ständig verändern kann, reichen die drei bisherigen gewerkschaftlichen Dimensionen in Gestalt von Bundes- bzw. Landesgesetzen, Tarifverträgen sowie Betriebs- und Dienstvereinbarungen nicht mehr aus. Die arbeitsweltlichen Anforderungen und Kriterien (soziale Standards) sollten viertens unmittelbar in der Spielregel, also im Algorithmus, und im algorithmischen Entscheidungssystem verankert werden. Das Gewicht dieser Aussage wird deutlich, wenn man sich der begründeten Annahme zuwendet, dass in überschaubarer Zeit sowohl wesentliche Wirtschafts- und Arbeits- als auch Verwaltungsabläufe von dieser Art Software geprägt sein werden. 

Für einen erfolgreichen Weg zum „mitbestimmten Algorithmus“ bedarf es auf Seiten der Gestaltenden neuer Befähigungen. Es geht nicht darum, dass Kolleginnen und Kollegen aus Betriebs- und Personalräten sich in IT-Expertinnen und IT-Experten verwandeln müssen. Vielmehr müssen wir lernen, unsere Anforderungen an die IT-Seite präziser zu formulieren. Unser bloßer Wunsch, die Software solle human und ethisch sein, hinterlässt beim IT-Team nur Ratlosigkeit. Wir benötigen klare Anforderungen, die aus den expliziten und intuitiven Erfahrungswelten abgeleitet sind. 

Um die vorgeschlagene vierte Gestaltungsebene – „den mitbestimmten Algorithmus“ – operativ nutzbar werden zu lassen, sollten wir uns innerhalb der Beschäftigtenvertretungen auf eine Liste grundsätzlicher (generischer) Kriterien verständigen. Anhand dieser Kriterien kann die Frage der Implementierbarkeit und der Zulässigkeit mit Hilfe einer Checkliste geprüft und entschieden werden. Das FST hat in einem Diskurs dreißig generische (grundsätzliche) Anforderungen formuliert und zur Diskussion gestellt (siehe Leseliste: „Der mitbestimmte Algorithmus“). 

Dies bedeutet nicht, dass jeder Algorithmus vor dessen Einführung der Beschäftigtenvertretung vorzulegen ist. Das hätte die Folge, dass das Gremium über Monate blockiert wäre, da in einem Unternehmen täglich in der Regel mehrere Dutzend Algorithmen oder sogar mehr als hundert in Anwendung kommen. Per Betriebsvereinbarung kann die Abprüfung über eine solche Checkliste erfolgen. Nur in strittigen Fällen nimmt sich das Gremium der Beschäftigtenvertretung des Einzelfalles an. Grundsätzlich gilt, dass die mitbestimmungspflichtige Beratung von neu zu implementierender Software unterscheidet zwischen programmierter Software, die sich durch Anwendung nicht verändert (abgesehen von Updates und Antivirenbehandlungen), und jener „selbstlernenden“ Software, die durch große Datenmengen „trainiert“ wird. 

Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sollten wir die Fähigkeit ausbauen, in einem moderierten Aushandlungsdialog mit der IT-Seite – genannt Spezifizierungsprozess – handlungsleitend zu wirken. Dazu benötigen wir Abstraktionsvermögen und eine exaktere Vorstellung, wie wir uns eine Arbeitswelt auf der Basis gestalteter algorithmischer Entscheidungssysteme vorstellen. Mehr Mut zu konkreten Utopien und zu antizipierendem Bewusstsein! Das Forum Soziale Technikgestaltung hat in diesem Sinne ein ganztägiges Planspiel mit dem Titel „BetriebsratsArbeit auf Basis autonomer Software-Systeme (BABSSY)“ entwickelt.

Welf Schröter


Welf Schröter ist Leiter des Forums Soziale Technikgestaltung beim DGB Baden-Württemberg und seit vielen Jahre aktiv in Arbeitszusammenhängen des Referates Hochschule und Forschung des GEW-Hauptvorstandes.

Lesehinweise

Welf Schröter (Hg.): Der mitbestimmte Algorithmus. Gestaltungskompetenz für den Wandel der Arbeit. Mössingen 2019. 
Welf Schröter (Hg.): Autonomie des Menschen – Autonomie der Systeme. Humanisierungspotenziale und Grenzen moderner Technologien. Mössingen 2017. 
Welf Schröter (Hg.): Identität in der Virtualität. Einblicke in neue Arbeitswelten und „Industrie 4.0“. Mössingen 2014. 
Irene Scherer, Welf Schröter (Hg.): Latenz – Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur. Ausgabe 04/2019. Der Künstliche Mensch? Menschenbilder im 21. Jahrhundert. Mössingen 2019. 
Ein kostenfreier elektronischer Informationsrundbrief des FST kann bei schroeter@talheimer.de abonniert werden. Den Blog Zukunft der Arbeit findet man unter www.blog-zukunft-der-arbeit.de.