Jugendliche ohne Ausbildungsplatz

Trotz Fachkräftemangel

HLZ 6/2020: Berufliche Bildung

Die gegenwärtig alles bestimmende Corona-Pandemie wird einmal ihr Ende finden. Doch was wird aus dem gesellschaftlichen Dauerproblem der beruflichen Ausbildung? Hierzu einige Zahlen und Fakten: 

  • Im Jahr 2019 suchten trotz Fachkräftemangel 73.600 Jugendliche vergeblich einen Ausbildungsplatz. Davon hatten zwei Drittel einen mittleren Bildungsabschluss oder eine Studienberechtigung.
  • Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ging im Vergleich zum Vorjahr um 6.300 auf 525.100 zurück. 
  • Mehr als 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 25 und 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss.
  • Ein gültiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1980 sieht ein „auswahlfähiges“ Angebot an Ausbildungsplätzen nur dann gegeben, wenn auf 100 Bewerberinnen und Bewerber 112,5 freie Plätze entfallen. Im vergangenen Jahr kamen auf 100 Bewerberinnen und Bewerber lediglich 96,6 Plätze.
  • Als gesellschaftlich erforderlich gilt eine Ausbildungsquote von ca. 7 Prozent. Dieser Anteil der Auszubildenden an der Gesamtzahl der Beschäftigten wird insbesondere in Großbetrieben unterschritten. 
  • Bundesweit bleiben vor allem im Lebensmittel-, Friseur-, Hotel- und Gaststättengewerbe Lehrstellen unbesetzt. Dies liegt nachweislich an der geringen Bezahlung und den schlechten Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen.
  • Hunderttausende Jugendliche befinden sich nach dem Schulbesuch im Übergangssystem Schule-Beruf. Insbesondere Hauptschülerinnen und Hauptschüler und Migrantinnen und Migranten drehen hier Warteschleifen auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. 
  • Einzelne Branchen haben besonders hohe Abbrecherquoten, die maßgeblich auf schlechte Ausbildungsbedingungen zurückzuführen sind. Nach dem letzten Berufsbildungsbericht der Bundesregierung wurde 2017 ein Viertel der Ausbildungsverträge vorzeitig beendet.

Ausbildungspflicht: Kein neues Thema

Die Diskussion über eine Ausbildungspflicht ist nicht neu. Christian Stock, der 1946 erster hessischer Ministerpräsident wurde, forderte als SPD-Abgeordneter 1922 im Badischen Landtag, 

„daß der Industrie ein Pflichtanteil auferlegt werden muß an der Ausbildung der Lehrlinge. Wenn die großen Fabrikanten keine Lehrlinge einstellen, so muß der gesetzliche Weg beschritten werden.“

Doch auch das als „Exportschlager“ geltende duale System der Berufsausbildung mit den Lehrorten Betrieb und Berufsschule war nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen, wie die Ausbildungskrisen seit den 1970er Jahren zeigen (HLZ S.23). Viele junge Menschen werden Jahr für Jahr wegen fehlender oder mangelhafter Bildungs- und Ausbildungsbedingungen ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Doch die öffentliche Debatte wird seit 2017 mehr und mehr vom Fachkräftemangel beherrscht. Im Kern geht es dabei darum, mit billigeren und flexibleren Arbeitskräften die Wettbewerbsfähigkeit und den Standort Deutschland zu sichern. Insbesondere mittelständische Betriebe bekunden mantramäßig, dass sie keinen Nachwuchs finden und die vorhandenen Bewerberinnen und Bewerber nicht geeignet seien. Dieser Logik folgt das auf „Bestenauslese“ getrimmte „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ aus dem Jahre 2019. Mit ihm sollen Fachkräfte soweit wie möglich im Ausland „eingekauft“ werden, statt sie im Inland auszubilden. Die Schädigung der Herkunftsländer wird dabei billigend in Kauf genommen. Selbstverständlich ist es richtig, Flüchtlingen und Asylbewerbern eine Lebensperspektive zu ermöglichen, aber nicht unter dem ökonomischen Primat ihrer Verwertbarkeit, sondern aus Achtung ihrer Menschenwürde.

Die Krise der Berufsausbildung entwickelt sich im Kapitalismus aus dem Zwang zur Gewinnmaximierung. 1999 wurde ein Vertreter des Unternehmerverbandes Südhessen gefragt, warum es zu wenig Lehrstellen gibt. Seine Antwort ist heute so aktuell wie damals:

„Die Unternehmer treffen Entscheidungen in erster Linie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wenn sich die Ausbildung nicht rechnet, wird eben nicht ausgebildet!“ 

Landesschülervertretung: „Ausbildung für alle!“

Als entscheidender Vorzug des dualen Systems der Berufsausbildung gilt die pädagogisch sinnvolle Verbindung von Theorie und Praxis. Aber auch diese funktioniert unter den gegebenen Verwertungsbedingungen mehr schlecht als recht, wie auch die nicht endende Auseinandersetzung über die Qualität der Ausbildung belegt. Über die Zukunft der Jugendlichen entscheiden weniger die Parlamente als „die Wirtschaft“ und „der Markt“. Der Mensch, auch der Jugendliche, verkommt zum Kostenfaktor. Wer also demokratische Entscheidungsfreiheit für die Politik und für alle Menschen will, der muss dafür sorgen, dass die Verfügung über „die Wirtschaft“ in die Hände aller und der Parlamente gelegt wird. 

2012 legte die Landesschülervertretung Hessen ein wegweisendes „Handlungskonzept Ausbildung für alle!“ vor (www.lsv-hessen.de). Dort fordert sie vorrangig

  • ein auswahlfähiges Angebot an qualifizierten Ausbildungsplätzen,
  • eine solide gesetzliche Finanzierung der Berufsausbildung durch alle Betriebe und
  • einen Rechtsanspruch auf Ausbildung als Ausbildungsplatzgarantie.

Dieses „Handlungskonzept“ wird seither als Messlatte für eine fortschrittliche Berufsbildungspolitik angesehen, aber diese Forderungen warten noch heute auf ihre Verwirklichung. Eine entscheidende Rolle spielen hier die Gewerkschaften. In dem Maße, wie sie sich von der Ideologie der Sozialpartnerschaft vereinnahmen lassen, schwächen sie die Durchsetzungskraft der Jugendlichen und der abhängig Beschäftigten. Während der Regierung Schröder ließen sich die Gewerkschaften in das „Bündnis für Arbeit“ einbinden und seit 2015 gehören sie der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ an. Genau in diesen Zeiten des „Mitregierens“ werden von ihnen zentrale Forderungen wie die Umlagefinanzierung der Ausbildung und die Ausbildungsplatzgarantie nur noch nachlässig behandelt oder ganz von der Agenda genommen. Eine Gewerkschaft, die nur noch den Status Quo der gesellschaftlichen Verhältnisse verwaltet, wird ihrem Namen nicht gerecht! Doch bei alledem gilt: Eine Berufsausbildung ist unter kapitalistischen Verhältnissen kein Garant für einen sicheren Arbeitsplatz und schon gar nicht für ein erträgliches Einkommen. Eine Befreiung aus dieser Zwangslage erfordert letztlich die Überwindung der Lohnarbeit, sprich: des Kapitalismus.

Helmut Weick