Möglichkeiten und Probleme einer komplexen Schulform

Berufsbildende Schulen

HLZ 6/2020: Berufliche Bildung

 

Rund zwei Drittel der Jugendlichen eines Jahrgangs besuchen im Laufe ihrer Schulkarriere eine berufsbildende Schule. Im Schuljahr 2019/2020 waren dies 165.790 Jugendliche (siehe Tabelle). Das berufsbildende Schulsystem ist aufgrund seiner Komplexität und Differenziertheit für Jugendliche, Eltern und auch für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen nur schwer durchschaubar. Andererseits bietet es für junge Menschen eine Fülle von Bildungsgängen, die ihnen wichtige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen (können). Auffallend sind das hohe Maß an Durchlässigkeit, aber auch ein beträchtliches Potenzial von „Auffangbecken“, „Warteschleifen“ und „Ausweichpfaden“. Im Folgenden werden die vielfältigen Bildungsgänge kurz skizziert und die darin enthaltenen Chancen und Probleme beschrieben.

Grob können die Bildungsgänge der berufsbildenden Schulen in vier Bereiche unterteilt werden: das „Übergangssystem“, die Berufsausbildung im dualen System, die Studienqualifizierung und die Weiterbildung.

I. Übergangssystem

Das Wort „Übergangssystem“ setzen wir deshalb lieber in Anführungszeichen, weil es weder ein System ist noch einen Übergang in die berufliche Ausbildung oder Arbeitswelt garantiert. In der Summe besuchen rund 19.300 Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2019/20 Schulformen des „Übergangssystems“. Hierzu gehören

  • die einjährigen Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung für Schülerinnen und Schüler ohne oder mit einem schwachen Hauptschulabschluss. Ziele des Berufsvorbereitungsjahrs (BVJ), von PuSch B (Praxis und Schule), der Maßnahmen der Arbeitsagentur oder von „Jugendliche ohne Arbeit“ (Sonderklassen) sind das Nachholen des Hauptschulabschlusses (HSA), eine praxisorientierte Einführung in verschiedene Berufsfelder sowie letztlich ein gelingender Übergang in Arbeit, Ausbildung oder weiterführende Bildungsgänge.
  • das einjährige Berufsgrundbildungsjahr (BGJ), das nur noch von 317 Schülerinnen und Schülern besucht wird. Es vermittelt eine berufliche Grundbildung in einem Berufsfeld mit hohem Praxisanteil und soll in einer daran anschließenden betrieblichen Ausbildung als erstes Ausbildungsjahr angerechnet werden. Da diese Anrechnung kaum funktionierte, wird diese Schulform seit dem Schuljahr 2011/12 nur noch in Ausnahmefällen gestattet.
  • die zweijährige Berufsfachschule zum mittleren Abschluss (BFS). Sie baut auf dem HSA auf und vermittelt neben dem Realschulabschluss (RSA) eine berufliche Grundbildung in einem Berufsfeld. Die Anrechnung auf eine anschließende duale Berufsausbildung wurde fast immer verweigert. Mit dem RSA werden aber weitere schulische Bildungswege (FOS, BG, HBFS) eröffnet oder auch bessere Chancen für einen Ausbildungsplatz im dualen System erworben.
  • die einjährige Höhere Berufsfachschule in den Fachrichtungen Wirtschaft und Ernährung. Eingangsvoraussetzung ist der RSA. Weiterführende Abschlüsse sind nicht vorgesehen. Diese Schulform wird ab 2021 nicht mehr angeboten.
  • die Berufsfachschule zum Übergang in Ausbildung (BÜA), die als Schulversuch an 20 Schulen seit dem Schuljahr 2017/18 erprobt wird und die genannten Schulformen des „Übergangssystems“ zusammenführen soll. Hier soll auch der HSA oder der RSA möglich sein. Vorrangig soll sie aber einen möglichst schnellen Übergang in die duale Berufsausbildung ermöglichen. Dazu sollen die Schülerinnen und Schüler im großen Umfang berufliche Orientierung erfahren und unterschiedliche Berufsfelder kennenlernen. Ob die Übertragung des Schulversuchs in modifizierter Form auf weitere Schulen wie vorgesehen ab dem Schuljahr 2020/21 möglich sein wird, ist unter Corona-Vorzeichen abzuwarten.

Für zugewanderte junge Menschen ohne Deutschkenntnisse gibt es an berufsbildenden Schulen die InteA-Klassen (Integration durch Anschluss und Abschluss), die in bis zu zwei Jahren Grundkenntnisse der deutschen Sprache und eine Berufsorientierung vermitteln sollen. Außerdem kann der HSA oder der RSA erworben werden.

Die Berufsbildungswerke (BBW) Nordhessen (in Bad Arolsen und Kassel) und Südhessen (in Karben) bieten über 1.000 jungen Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen berufliche Erstausbildungen und berufsfördernde Maßnahmen an. 

Fazit: Trotz großer Anstrengungen und individueller Entwicklungsmöglichkeiten führt das „Übergangssystem“ bei einem nicht geringen Teil der Jugendlichen zu Frustrationen und Enttäuschungen. Die Warteschleifen führen dazu, dass das Eintrittsalter in eine duale Berufsausbildung inzwischen bei fast 20 Jahren liegt. Die GEW favorisiert deshalb das „Hamburger Modell“, das vielen Jugendlichen mit flankierenden Unterstützungen und in hoher Kooperation mit den Betrieben eine Berufsausbildung ermöglicht. Angesichts der hohen Kosten des „Übergangssystems“ ließe es sich nahezu kostenneutral finanzieren. Ob der Schulversuch BÜA als hessischer Weg hier zu einer Verbesserung beiträgt, ist fraglich.

Schülerzahlen an den öffentlichen beruflichen Schulen Hessen

Schulformen

2009/

2010

2011/

2012

2013/

2014

2015/

2016

2017/

2018

2019/

2020

Berufsschule

108.895

105.004

102.146

98.080

96.695

97.791

BGJ Vollzeit

1.729

243

116

99

85

75

BGJ Teilzeit

494

480

304

251

232

242

BVJ

1.257

1.716

1.755

2.166

2.331

2.634

BFS 2-j. zum

mittleren Abschluss

12.573

11.104

10.342

10.156

8.266

7.086

BÜA

 

 

 

 

2.359

3.266

BFS 3-3,5-j.

Berufsabschl.

378

732

1.009

998

937

885

HBFS 1-jährig

1.833

1.337

1.076

1.057

737

595

HBFS 2-j. Ass. Ausb.

7.167

7.423

7.769

7.548

6.799

6.354

Fachschule Vollzeit

5.729

7.304

8.226

7.976

7.447

7.015

Fachschule Teilzeit

4.117

4.031

4.407

4.583

4.188

3.799

FOS Vollzeit

20.794

21.464

21.919

21.289

19.724

17.235

FOS Teilzeit

177

188

125

80

53

43

Sonderklassen

5.809

5.102

4.759

4.098

3.674

3.610

EIBE, PuSch B

2.684

2.872

2.857

1.068

731

663

Berufl. Gymnasium

12.668

14.494

14.924

15.538

14.513

13.362

Berufsbildungswerk

1.168

952

955

1.013

1.064

1.135

Alle berufsbilden-den Schulen

187.472

184.446

182.689

176.000

169.835

165.790

Zahlen: Zuweisungserlasse des HKM; Bearbeitung: Ralf Becker, Stand: 19.12.2019

 

II. Berufsausbildung im dualen System

Die Teilzeitberufsschule im dualen System der Berufsausbildung (BS) ist „die Berufsschule“ im Wortsinn des Schulgesetzes und das Hauptbetätigungsfeld der berufsbildenden Schulen. Zurzeit werden in Hessen 97.791 junge Menschen in 2, 3 oder 3 ½ Jahren in rund 350 Berufen zur Kammerprüfung und zur „Berufsfähigkeit“ geführt. Grundlage ist ein Ausbildungsvertrag zwischen den Auszubildenden und dem Ausbildungsbetrieb, rechtliche Basis ist das Berufsbildungsgesetz. 

In der Berufsschule werden in der Regel zwölf Wochenstunden Unterricht erteilt, davon acht fachbezogen und vier in allgemeinbildenden Fächern. Während der Berufsausbildung können in der Berufsschule alle allgemeinbildenden Abschlüsse bis zur Fachhochschulreife nachgeholt werden. 

Das duale System hat sich in der jüngeren Vergangenheit als recht flexibel und anpassungsfähig erwiesen. So konnten in den meisten Berufen in kurzer Zeit die digitalen Erfordernisse in den Unterricht integriert werden. Die GEW erinnert aber immer wieder an strukturelle Schwächen: 

  • die Abhängigkeit der Ausbildungsplätze von einzelbetrieblichen Entscheidungen und von konjunkturellen und strukturellen Entwicklungen (HLZ S. 22f.) 
  • die mangelnde Ausbildungsqualität in vielen Bereichen und Betrieben
  • hohe Abbrecher- und Durchfallquoten von jeweils rund 20 Prozent  
  • die unzureichenden Anschlussmöglichkeiten an tertiäre Bildungssysteme

Aber auch hier hat sich in letzter Zeit einiges getan. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände konnten gemeinsam durchsetzen, dass Meisterinnen und Meister oder Fachschulabsolventinnen und -absolventen Zugang zu allen Hochschulen haben und dass Menschen mit Berufsabschluss ohne Abitur unter bestimmten Voraussetzungen studieren dürfen.

Infolge einer massiven Ausbildungskrise in den 80er Jahren wurden die Assistentenberufe geschaffen. In vollschulischen Ausbildungsgängen kann man – aufbauend auf dem Realschulabschluss - in der Höheren Berufsfachschule (HBFS) in zwei Jahren einen Berufsabschluss mit staatlicher Prüfung erwerben. Durch Zusatzunterricht kann zudem die allgemeine Fachhochschulreife erworben werden.

Auch in der 3- oder 3,5-jährigen Berufsfachschule (BFS) kann an einigen wenigen Schulen ein Berufsabschluss für Berufe erworben werden, die dual kaum angeboten werden.

III. Studienqualifizierende Schulformen

In den berufsbildenden Schulen gibt es zwei studienqualifizierende Schulformen.

  • Die Fachoberschule (FOS) baut auf dem RSA auf und vermittelt die „allgemeine Fachhochschulreife“. Diese ermöglicht seit neuestem nicht nur das Studium an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften (früher Fachhochschule), sondern auch das Studium in vielen Bachelorstudiengängen der Universitäten. In der zweijährigen Form A müssen die Schülerinnen und Schüler im ersten Jahr ein entsprechendes betriebliches Praktikum an drei Tagen in der Woche absolvieren. Voraussetzung für den Besuch der einjährigen Form B ist eine abgeschlossene einschlägige duale oder vollschulische Berufsausbildung. Die FOS ermöglicht es jungen Menschen, ohne den „Königsweg“ Abitur bzw. über eine Berufsausbildung zum Studium zu kommen.
  • Das Berufliche Gymnasium (BG) führt wie die Gymnasiale Oberstufe (GO) in drei Jahren zur allgemeinen Hochschulreife. Im Unterschied zur GO legt man sich von vornherein mit zehn Wochenstunden auf eine Fachrichtung (z. B. Technik, Wirtschaft oder Sozialwesen) fest und damit auch auf ein Leistungsfach. 

IV. Weiterbildung

Obwohl allenthalben lebensbegleitendes Lernen gefordert wird, findet Weiterbildung nur in äußerst geringem Maße in staatlicher Verantwortung statt. Die GEW fordert seit langem eine stärkere staatliche Verantwortung für das System der Weiterbildung. Die Fachschulen (FS) sind die Weiterbildungsschulform der berufsbildenden Schulen. Aufbauend auf einer beruflichen Erstausbildung und Berufspraxis absolvieren derzeit rund 10.000 Studierende diese berufliche Weiterbildung zur Vorbereitung auf mittlere Führungspositionen vornehmlich in Technik und Wirtschaft. Sie wird entweder zweijährig in Vollzeitform oder vierjährig berufsbegleitend in Teilzeitform angeboten. 

An den Fachschulen für Sozialpädagogik findet die Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher statt. Sie dauert drei Jahre, die ersten beiden Jahre in Vollzeit in der Schule und ein drittes Praxisjahr in einer Einrichtung. Seit neuestem gibt es die Form der Praxisintegrierten Ausbildung (PIA). Hier erhalten die zukünftigen Erzieherinnen und Erzieher einen Ausbildungsvertrag an einer Einrichtung. Die Ausbildungsinhalte werden praxisbegleitend und in Teilzeit an einer Fachschule vermittelt. Voraussetzung für den Besuch der Fachschule ist ein mittlerer Abschluss und der Abschluss der Höheren Berufsfachschule (HBFS) für Sozialassistenz. 


Ralf Becker und Carsten Leimbach 
Fachgruppe berufsbildende Schulen der GEW Hessen