„Wir helfen uns am besten selbst"

Im Gespräch mit Lehrerinnen der Bergiusschule in Frankfurt

HLZ 6/2020: Berufliche Bildung

Foto: Frauke Matthes (links) und Sonja Steppich vor dem Wandmosaik eines unbekannten Künstlers, das seit 1960 im Eingangsbereich der Bergiusschule auf die dort unterrichteten Ausbildungsberufe
verweist. (Foto: GEW)

Die Bergiusschule, die erste Berufsschule Frankfurts in städtischer Trägerschaft, wurde 1920 als Fachschule für Nahrungs-, Bekleidungs- und sonstige Berufe gegründet. Heute werden an der Schule rund 1600 Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Gastronomie, Hotelgewerbe und Ernährung unterrichtet. Das Angebot umfasst den Berufsschulunterricht in der dualen Ausbildung und die Vollzeitklassen der Berufsfachschule, der Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung und der ein- oder zweijährigen Fachoberschule sowie eine Teilzeit-Fachschule mit dem Schwerpunkt Produktentwicklung und Lebensmittelsicherheit. 

HLZ-Redakteur Harald Freiling sprach mit Frauke Matthes, Mitglied im Schulpersonalrat, und Sonja Steppich, die als Abteilungsleiterin Nahrungsgewerbe Mitglied der Schulleitung ist. Frauke Matthes und Sonja Steppich verbindet nicht nur die GEW-Mitgliedschaft und eine lange gemeinsame Zeit an der Bergiusschule, sondern auch eine ähnliche berufliche Biografie. Beide haben als Ökotrophologinnen lange außerschulische Berufserfahrungen im Qualitätsmanagement einer Großküche, in der Erwachsenenbildung oder in der Verbraucherberatung gesammelt, bevor sie als Quereinsteigerinnen in den Schuldienst kamen. 

HLZ: Die Idee zu diesem Gespräch entstand bei einem Treffen der Landesfachgruppe berufsbildende Schulen der GEW. Frauke sprach dort zwei Themen an, die zwar in aller Munde sind, aber doch nur selten mit den berufsbildenden Schulen in Verbindung gebracht werden: die Inklusion und die Notwendigkeit eines sprachsensiblen Fachunterrichts.

Steppich: Inklusion ist für die Lehrkräfte der beruflichen Schulen eigentlich nichts Neues, denn sie sind tatsächlich „Schulen für alle“. Junge Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen gehören bei uns schon immer dazu. 

Matthes: Trotzdem hat sich etwas verändert. Durch den Bewerbermangel auf dem Ausbildungsmarkt stellen die Betriebe auch solche Jugendlichen ein, die früher durch das Raster gefallen wären. 

Steppich: Dazu kommt ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein, das Engagement von Betrieben und Berufsberatung, so dass Inklusion nicht mehr vor der Berufswelt Halt macht und dass Jugendliche mit Handicaps auch eine Chance auf eine Berufsausbildung außerhalb der Berufsbildungswerke haben.


Sonja Steppich: „Inklusion ist für uns in der Berufsschule nicht neu.“ 

HLZ: Wie seid ihr auf diese neuen Aufgaben vorbereitet?

Steppich: Ich habe jetzt in einer Teilzeitklasse drei Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Hören, zwei sind gehörlos und werden im Unterricht von Gebärdendolmetschern begleitet, eine Schülerin hat ein Cochlea-Implantat. Für den Übergang von der Förderschule stand uns eine Lehrerin der Schule am Sommerhoffpark zur Seite. Das war für mich sehr hilfreich, denn ich bekam wichtige Hinweise für die Unterrichtsvorbereitung, die Raumakustik und anderes. Aber dann waren meine Kolleginnen und Kollegen und ich doch auf uns gestellt. Wir fallen als berufsbildende Schulen aus allen Regelungen zur sonderpädagogischen Förderung heraus, deshalb gibt es auch keine Zuweisung von Förderschullehrkräften an unsere Schule. Selbst die Teilnahme an den Sitzungen der inklusiven Schulbündnisse mussten wir uns erst erkämpfen. 

Matthes: Eine solche Unterstützung bei der Übergabe, wie Sonja sie beschreibt, gibt es auch nur für Jugendliche mit Sinnesbeeinträchtigungen und körperlich-motorischen Einschränkungen. In allen anderen Fällen bekommen wir nicht einmal eine Information und auch die Akten bleiben bei den abgebenden Schulen. Das kann im Sinn eines möglichen Neustarts auch vernünftig sein, aber es erschwert doch unsere Arbeit.

Steppich: Das, was du sagst, gilt auf jeden Fall für die duale Ausbildung. Bei den Vollzeitangeboten ist das anders, da gibt es Übergabekonferenzen mit den Lehrkräften der allgemeinen Schulen und wir bekommen auch die Schülerakte. Aber hier müsste dringend nachgebessert werden. Auch bei der Gewährung eines Nachteilsausgleichs gelten wir als Schule der Sekundarstufe II und müssen diesen dann erst beim Schulamt beantragen.


Frauke Matthes: „Kleinere Klassen, das würde uns wirklich helfen.“

HLZ: Was würde euch denn helfen, der schwierigen Aufgabe gerecht zu werden?

Matthes: Auf jeden Fall eine Senkung des Klassenteilers. Wir haben in der Teilzeitberufsschule eine Klassenobergrenze von 30 Schülerinnen und Schülern. Nur zum Vergleich: In einer Werkstätte für behinderte Menschen liegt sie bei 8. Die Klassengröße ist ja nicht nur dann ein Riesenproblem, wenn Jugendliche mit Beeinträchtigungen in der Klasse sind, sondern auch auf Grund der großen Heterogenität. Die Fachoberschule für Ernährung und Hauswirtschaft hat eine andere Zusammensetzung als eine FOS-Klasse für Bankkaufleute…

Steppich: … und gleichzeitig führen sie zum selben Abschluss, zur Fachhochschulreife. Und in der Bäckerei-Klasse sitzt der Bäcker-Azubi ohne Hauptschulabschluss neben dem Sohn des Besitzers einer Bäckereikette, der später mal den Betrieb übernehmen soll. Wir sind wie eine Integrierte Gesamtschule, aber ohne die Aufteilung in Leistungskurse und mit derselben Prüfung für alle. Aber du hast gefragt, was uns helfen würde. Natürlich wäre die Unterstützung durch Förderschullehrkräfte, die im Unterricht dabei sind, sehr hilfreich. Die Gebärdendolmetscher in meinem Unterricht sind unverzichtbar, auch wenn ich mich erst einmal daran gewöhnen musste. Aber das ist keine fachliche Begleitung, die mir bei der Gestaltung unseres Unterrichts hilft. Anders als in den allgemeinen Schulen gibt es auch keine Teilhabeassistenzen, denn viele unserer Schülerinnen und Schüler sind über 18 und haben keinen Anspruch nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Es gibt die Förderung durch die Maßnahmenträger, aber die geht oft an uns vorbei.

HLZ: Würde es euch denn helfen, wenn ihr an eurer Schule eine Förderschullehrkraft einstellen könntet?

Steppich: Ja sicher, aber die müsste man erst einmal finden….

Matthes: … und eine einzige Förderschullehrkraft könnte  auch nicht alle Förderschwerpunkte abdecken. Also stellen wir uns den Herausforderungen. Wir wissen: Wir können das!

HLZ: Hat diese Haltung auch etwas mit euren persönlichen Berufsbiografien zu tun?

Steppich: Ja, das glaube ich schon. Ich konnte es mir nie aussuchen, wo und mit welchen Menschen ich arbeiten möchte. Wenn man in einer Schule arbeitet, die von angehenden Köchinnen und Köchen, Bäckerinnen oder Metzgern besucht wird, dann ist man mit vielen jungen Menschen konfrontiert, die mit Begeisterung bei der Sache sind, aber auch mit vielen gebrochenen Biografien oder – mal vorsichtig gesagt – mit Berufen, die nicht ganz oben auf der Wunschliste stehen. Und da ich lange in unterschiedlichen Berufsfeldern gearbeitet habe, kenne ich die Realität in diesen Bereichen sehr gut.

Matthes: Vor allem wissen wir als Lehrerinnen an einer Berufsschule, dass wir uns die Schülerinnen und Schüler nicht aussuchen können. Deshalb fragen wir uns auch nicht, ob ein Schüler mit einer Behinderung jetzt hierher gehört oder nicht. Dasselbe gilt für Jugendliche, die nach Deutschland geflüchtet sind oder als Seiteneinsteiger nur geringe Deutschkenntnisse haben. Deshalb möchte ich gern auch noch auf das Thema Sprache kommen, das mir sehr am Herzen liegt. Auch da sind wir ziemlich auf uns selbst gestellt. Dabei geht es nicht um den Spracherwerb in den InteA-Klassen…

Steppich: … die wir an unserer Schule gar nicht haben….

Matthes: … sondern um die Schülerinnen und Schüler, die mit intensiver Unterstützung durch ihre Betreuerinnen und Betreuer und ganz viel eigenem Engagement eine Ausbildungsstelle in der Gastronomie gefunden haben, obwohl sie erst drei oder vier Jahre in Deutschland leben. Wir sollen sie dann auf die IHK-Prüfung vorbereiten, die auf diese Faktoren überhaupt keine Rücksicht nimmt…

Steppich: .. immerhin will die IHK Frankfurt die Benutzung eines einsprachigen deutsch-deutschen Wörterbuchs jetzt zulassen, aber auf die Ausgestaltung der bundesweit einheitlichen Prüfung hat sie offensichtlich auch keinen Einfluss. 

Matthes: Und gerade in der Fachsprache sind die Schwierigkeiten immens. Ich nehme einmal mein Fach PoWi. Wenn ich mit den Jugendlichen rede, kommen wir gut zurecht. Aber bei den Multiple-Choice-Fragen in der IHK-Prüfung tun sich dann Probleme auf, die gar nicht in der Sache begründet sind, sondern ausschließlich in der Sprache…

Steppich: … mit verschachtelten Nebensätzen oder einer doppelten Verneinung, mit neuen Begriffen statt den bekannten Operatoren.

HLZ: Auch hier die Frage: Was hilft euch, mit diesen Sprachproblemen umzugehen?

Steppich und Matthes  (aus einem Mund): Vor allem die Fragen der Schülerinnen und Schüler, die fragenden Augen…

Matthes: Auch hier haben wir uns schon ein Stück weit selbst geholfen. Viel gebracht hat mir eine Fortbildung zum sprachsensiblen Fachunterricht, auch die Unterstützung durch die ausgebildeten DaZ-Lehrkräfte an unserer Schule, mit denen wir gemeinsam Unterrichtsmaterialien überarbeiten.

Steppich: Zum Teil tun die Betriebe etwas, finanzieren auch Nachhilfekurse. Wir bieten jetzt eine Klasse mit erweitertem Berufsschulunterricht an, die Schülerinnen und Schüler haben dann 16 statt 12 Stunden, also zwei ganze Berufsschultage.

HLZ: Wie ist die Resonanz?

Steppich: Zurzeit noch sehr verhalten. Viele Betriebe reagieren reserviert, wenn es um zusätzliche Freistellungen für die Schule geht. Und auch die Jugendlichen sehen das zum Teil als Degradierung an.

Matthes: Wir dürfen neben den Sprachschwierigkeiten nicht vergessen, welche anderen Probleme viele unserer Schüler mit sich herumtragen. Viele Traumata bleiben uns verborgen. Eine Schülerin hat mir erst nach einigen Monaten gesagt, dass sie erst anfing zu stottern, als neben ihr eine Bombe explodierte. Wir haben Schülerinnen und Schüler, die drei Wochen vor der Abschlussprüfung die Aufforderung zur freiwilligen Ausreise bekommen, die mit der Volljährigkeit ihren Platz im Wohnheim verlieren und auf der Straße stehen. Das können und dürfen wir nicht ignorieren. Und gleichzeitig gibt es mir auch Kraft, zu erleben, wie sich diese jungen Menschen durchbeißen, mit welcher Ernsthaftigkeit sie bei der Sache sind.

Steppich: Da werden doch andere Probleme wieder kleiner und erträglicher…

HLZ: Ich danke euch für das Gespräch und die lebendigen Einblicke in eine Schulform und einen nicht allen bekannten Arbeitsalltag. Und viel Erfolg und Kraft für den Beruf und die Durchsetzung unserer gewerkschaftlichen Forderungen.


Das Gespräch fand vor der Corona-Pandemie statt. Insolvenzen bedrohen auch die Auszubildenden gerade in der Gastronomie. Auch bei den beruflichen Perspektiven nach der Pandemie sind die Schülerinnen und Schüler von Frauke Matthes und Sonja Steppich einmal mehr nicht auf der Gewinnerstraße....