Big Blue Button und Co.

Ein Streitgespräch über Videokonferenzsysteme für den Unterricht

HLZ 5/2021: Digitalisierung

Die Mitglieder der AG Digitalisierung im GEW-Landesvorstand pflegen eine lebhafte Debattenkultur: bei den früher selbstverständlichen Präsenztreffen in der GEW-Geschäftsstelle oder im DGB-Haus, bei digitalen und hybriden Video-Treffen und in langen E-Mails. Die Ergebnisse der Diskussionen fließen in Stellungnahmen und Empfehlungen der GEW ein, die unter anderem hier auf der Seite Digitale Schule und deren Unterseiten dargestellt werden. Und manchmal wird es auch richtig emotional, wie in dem folgenden Mailwechsel zwischen einem Hochschuldozenten und der Lehrerin an einem Oberstufengymnasium, den wir mit ihrer Zustimmung in gekürzter Fassung veröffentlichen.

Der Kollege: "Videokonferenzsysteme im Unterricht sind pädagogisch grenzwertig. Das weiß ich auch aus der Hochschule.“

Wir sollten als Gewerkschaft das deutliche Signal formulieren, dass wir für eine Digitalisierung der Schulen sind, aber nicht erzwungen gegenüber den Lehrkräften. Wir sollten aber vor allem betonen, dass Unterricht mit Hilfe von Videokonferenzsystemen
(VK) pädagogisch wenig sinnvoll ist:

  • Die VK-Systeme sind technisch noch lange nicht ausgereift und sie befördern antiquierte Unterrichtsmodelle und Kommunikationsformen.
  • Die Übertragung von Unterricht per Video ist der unvollkommene Versuch der Überführung des Nichtdigitalen ins Digitale. Was zeitversetzt viel effizienter zu erledigen wäre, wird stattdessen in eine synchrone Sitzung gepackt, in der alle gemeinsam ihre Zeit absitzen müssen. Es entsteht viel Leerlauf, wenn man darauf wartet, dass man endlich angesprochen wird oder dass etwas Wichtiges gesagt wird.
  • Die Nutzung von VK-Systemen für Einzelgespräche zwischen Lehrenden und Lernenden und für Kleingruppen kann manchmal Sinn machen. Für andere Formen des Fernunterrichts sind bessere Methoden und Strukturen zu entwickeln und zu erproben.
  • Videokonferenzen sind einfallslos und oft nur deshalb das erste Mittel der Wahl, weil sie sich leicht anberaumen lassen.
  • Gedanken über bessere Alternativen für eine bestimmte Aufgabe finden dann nicht mehr statt.

Meine Vorbehalte speisen sich auch aus den aktuellen Erfahrungen an der Universität: 90-minütige Vorlesungen ohne Zwischenfragen mit zeitverzögertem und unterbrochenem Ton, Videokonferenzen, bei denen alle (!) Teilnehmerinnen
und Teilnehmer ihr Bild abschalten oder dieses vom Dozenten zentral abgeschaltet wird, technische Probleme beim Versenden von begleitenden Materialien, Kurse, bei denen man einzelne Teilnehmerbeiträge akustisch nur zu 30
Prozent versteht und die deshalb vom Dozenten rigoros abgebrochen werden, Diskussionen im Walkie-Talkie-Stil, die
nicht vorankommen, weil der Moderator oder die Moderatorin nicht damit klarkommt, die Diskutanten aufzurufen oder
Wortmeldungen zu bemerken und zu verwalten oder Leute zu bitten, sich kürzer zu fassen, technische Besprechungen,
um gemeinsam eine Liste durchzugehen, wer alles seinen Arbeitsbeitrag noch nicht fristgemäß eingereicht hat, und ähnlicher Schwachsinn.

Angesichts solcher Erfahrungen halte ich es auch für falsch, beim Thema VK die ganze diskursive Belastung auf
den deutschen Datenschutz zu lenken. Der steht international auch so schon unter starkem Beschuss und die entsprechende Lobby unternimmt große Anstrengungen, ihn via Brüssel zu kippen oder auszuhöhlen. Es gibt genug Stimmen, dass man den „Scheiß-Datenschutz, der alles behindert und verhindert“, endlich weg haben will. So hat der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus kürzlich gefordert, die 16 Landesdatenschutzbeauftragten abzuschaffen und ihre Aufgaben in einer zentralen Behörde zu bündeln. Selbst wenn die VK-Systeme datenschutzkonform wären, sind sie pädagogisch immer noch einfallslos und höchst grenzwertig und man benötigt dringend vernünftige digitale, gerne auch analoge Alternativen! Der kreative Input dafür muss aber von Lehrerseite kommen.

Eine Kollegin: „Ich erlebe es selbst: Videokonferenzsysteme ermöglichen Unterricht mit Sinn, Verstand und Spaß.“

Wer hat das denn gedanklich in Stein gemeißelt, dass Unterricht per VK antiquiert ist? Das gilt nach meinen Erfahrungen nur dann, wenn die Voraussetzungen für interessierte Kolleginnen und Kollegen nicht stimmen oder der Wille fehlt. Hier mal ein paar Eindrücke aus meinem Englischunterricht, aber ich könnte dir viele Beispiele meiner Kolleginnen und Kollegen geben, die VK-Systeme im Unterricht auch in anderen Fächern ähnlich – vielleicht auch noch besser – einsetzen:

Die Schülerinnen und Schüler finden im Schulportal einen Text, ein Video, ein Gedicht, eine Grafik, eine Matheaufgabe oder einen Link vor, mit denen sie sich in his or her own time, spätestens aber bis zum Beginn der VK beschäftigen sollen. Schwächeren Schülerinnen und Schülern empfehle ich, dies zur Vorbereitung auf Englisch gerne mal via Telefon, Threema-Sprachnachricht oder sonst wie mit einem Partner oder einer Partnerin zu üben. Machen sie auch! Dann treffen wir uns in der VK. Nicht immer die vollen 90 Minuten, sondern oft nur 30 oder 40 Minuten. Ich bin von Anfang an da und ansprechbar. Ich rede kurz möglichst mit allen, frage, wer Schwierigkeiten mit der Aufgabe hat, und wir erklären es uns gegenseitig. Dann kommt eine Erarbeitungsphase. Dazu arbeiten sie nach Wunsch allein oder ich teile die Lerngruppe in der VK in Breakout Rooms, denen ich beitreten, die ich belauschen oder einfach in Ruhe arbeiten lassen kann. Die Schülerinnen und Schüler wissen das, sie finden es witzig, zu spekulieren, ob ich kurz reingehört habe, und reden - jedenfalls die meisten - konsequent Englisch. Sie können aber auch im Chat um Hilfe schreien, dann komme ich um die Ecke und helfe!

So können sie Englisch auch sprechen und nicht nur lesen. Sie schreiben gemeinsam Texte, schauen oder hören
sich Trump (zum Glück nicht mehr!), Biden, Harris oder die Shakespeare Company an. Sie können Videos oder Grafiken
teilen, diskutieren, eigene Materialien hochladen, also das, was sie in der Klasse auch tun würden. Nach 20 oder 30 Minuten
sind sie – so wie es zeitlich passt - wieder im Plenum. Wir vergleichen Ergebnisse, diskutieren erneut, halten Ergebnisse
fest. Die Screenshots sind tausendmal besser als mein früheres Gekrakel auf der zu kleinen Tafel!

Ja, ab und zu fliegt bei BBB einer raus, aber selten. Alle haben Geräte, zum Teil über die Schule. Für die, deren WLAN
mies läuft, sind die Aufgaben immer so gestellt, dass sie nach drei Einlogg-Versuchen auch alleine weiter machen können:
Jeder Diskussionsauftrag ist auch ein potentieller Schreibauftrag, alle Aufträge gehen auch allein, ich muss keine extra
erstellen. Das Gesamtpaket ist schon erstmal Mehrarbeit, genauer, mehr Arbeit, keine Frage, denn ich musste mich
erst reintüfteln.

Aber es ist letztlich viel sinnvoller als das endlose Hin- und Herschicken von Aufgaben, mit denen die Schülerinnen und Schüler nicht wirklich klarkommen und die man dann noch wie blöd korrigieren muss. Hab ich im März 2020 versucht.
War Kacke! Es war ein irrer Aufwand, die Aufgaben, die die Schülerinnen und Schüler irgendwie erledigt haben, dann mit einem aussagekräftigen Feedback zu versehen. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die 150 oder 200 Schülerinnen
im Distanzunterricht fördern sollen: Da ist schon das regelmäßige Rückmelden eine unmögliche Aufgabe, wie die folgende Rechnung zeigt: Aufgabe herunterladen und lesen und kurzes Feedback schreiben macht zusammen mindestens
20 Minuten mal 150 Schülerinnen und Schüler = 3.000 Minuten oder 50 Arbeitsstunden nur für das Feedback. Und
da reden wir noch nicht von ausführlichen Korrekturen oder individueller Beratung, auch noch nicht von der Unterrichtsvor-
und -nachbereitung und der Erstellung von Materialien!

Und dann ist da die soziale Komponente des VK-Unterrichts: Wir lachen viel. Ich begrüße oft mit einem Cartoon
oder einem netten Bild. Während jemand redet, können andere im Chat Anmerkungen machen und Fragen stellen: „Could
you repeat that, didn‘t get it!“ „Super idea!“ „Disagree! I‘ve read the text differently!“ Das ist effizienter als manches Unterrichtsgespräch, weil sich oft alle beteiligen und ein „Chatgewitter“ entsteht. Der Chat oder das im Mehrbenutzermodus
verwendete Whiteboard kann als Stundenprotokoll dienen. Am Ende gibt’s allgemeine Fragen, gegenseitigen „Wir packen-
das!-Corona-Support“, auch mal Blödeleien oder die Lehrerin spielt ein Muppetvideo ein.

BBB kann für mich alles, was ein Klassenraum auch kann. Nein, manches fehlt: Cookies und Vanillekuchen, die jemand
mitbringt, weil sein Handy in der Stunde klingelte, das physische „Feeling“ für den Kurs und das „Zusammensein“, wie
man es kennt. Und die Gesichtsausdrücke, wenn ein Witz gut war, denn die Schülerinnen und Schüler können die Webcam
an- oder auslassen, wie sie wollen. Ich kann nur sagen: Für mich sind BBB, Moodle und andere nützliche digitale Tools und Systeme unverzichtbar. Dazu gibt es gute Materialien, schön in Abiturvorbereitungsordnern sortiert, auch für die Ordnungssystemschwachen. Arbeitszeit im Vergleich zum März 2020 um ein Drittel reduziert, Spaß um 90 Prozent hoch!
Wo wir das alles gelernt haben? Auf jeden Fall nicht in einer Fortbildung. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, in der wir uns stützen. Und es gibt an der Schule selbst initiierte und nicht verordnete Netzwerke von Kolleginnen und Kollegen für Kolleginnen und Kollegen. Ich weiß, ich bin in einer komfortablen Situation: Meine Schule ist gut ausgestattet und meine Schülerinnen und Schüler haben den schlimmsten Teil der Pubertät hinter sich. Es gibt Probleme. Viele. Aber nicht nur. Vielleicht sollte die GEW mal einen Leitfaden für richtig guten Digitalunterricht entwerfen?

Der Kollege: „Letztlich liegt es nicht an der Technik, sondern an der pädagogischen Professionalität.“

Ich finde es klasse, wie du damit umgehst, und es freut mich zu hören, dass du in deinem Kollegium damit nicht alleine
bist. Aber mir bleibt wichtig zu betonen, dass das Ganze nicht am Videokonferenzsystem per se liegt, sondern vor allem an der pädagogischen Professionalität, mit der jemand mit diesem Instrument umgeht und mit der er oder sie selbstverständlich auch immer einen anderen Weg finden würde, wenn es dieses Gerät nicht gäbe. Lehrer haben diese kreative Professionalität eher als andere lehrende Berufsgruppen und sie fällt auch nicht vom Himmel. Das in der Öffentlichkeit zu betonen, halte ich für immens wichtig. Deine Rechnung mit dem Feedback halte ich allerdings für falsch: Im Präsenzunterricht gibst du auch nicht jeder Schülerin und jedem Schüler regelmäßig zehn Minuten ausführliches
Feedback …

Und mit der erneuten Antwort der Kollegin, dass sie für das, was sie in einer Minute sagt, zehn Minuten tippen muss, geht
die Diskussion munter in die nächste Runde. Alles getippt, versteht sich, denn die Zeit in der Videokonferenz der AG Digitalisierung reicht für einen solchen Meinungs- und Erfahrungsaustausch natürlich auch nicht aus ...

Bearbeitung: HLZ-Redaktion

Bild: mohamed Hassan auf Pixabay