Digitalität wird bleiben

Es kommt darauf an, was wir daraus machen

HLZ 9-10/2021: Privatisierung

In dem Beitrag „In den Niederungen des Alltags“ von Stephan Schimmelpfennig-Könen  HLZ 6/2021 (S. 26) kann man erfahren: „Digitales Distanzlernen kann nicht funktionieren.“ Der bekannte Digitalisierungskritiker Professor Manfred Spitzer wird als Autoritätsargument angeführt, „dass die regelmäßige Nutzung von Tablets und Smartphones im frühen Kindesalter zu ‚digitaler Demenz‘ führt.“ Das Fazit des Lehrers Stephan Schimmelpfennig-Könen fällt eindeutig aus: „Auch für die Schulen kann ich keinen Gewinn durch digitales Lernen erkennen.“

Es ist also alles ganz einfach: Das pandemiebegründete Digitalisierungsexperiment ist gescheitert. Man sollte es möglichst bald abhaken und komplett in die nicht-digitale Welt zurückkehren, da in der digitalen Schulwelt nichts hilfreich oder förderlich ist. Kann man es sich wirklich so einfach machen? Ich glaube nicht und möchte zu mehr Lernbereitschaft anregen, gerade auch bei Lehrerinnen und Lehrern, die sicherlich wie auch andere Berufsgruppen nie ausgelernt haben sollten.

Aus der Niederungen der Polarisierung zu den Mühen der Ebene

Es ist durchaus erfreulich, dass das große Digitalisierungsexperiment in allen Bildungsbereichen von Frühförderung über Schule und Hochschule bis zur Erwachsenenbildung in den letzten Monaten deutlich aufgezeigt hat, dass so manche Verheißungen der „Digitalisierungsprediger“ oft eher nur heiße Luft sind. Präsenz bleibt enorm wichtig und dies ist heute auch denen bewusster geworden, die das vorher unterschätzt haben könnten.

Videokonferenzen bieten Lernchancen, aber von leeren Kacheln bis zu schlechten Verbindungen in ländlichen Regionen sind die Probleme und Herausforderungen vielfältig. So mancher Lehrende fühlt sich wie ein Animateur im Dunkeln: Man weiß nur sehr begrenzt, was da bei den Menschen gegenüber (nicht) passiert. Stephan Schimmelpfennig-Könen spricht zudem absolut berechtigt Datenschutzprobleme an. Generell sind die großen Digitalisierungskonzerne die großen Krisengewinnler. Wie gehen und wie werden sie mit ihrem enormen Machtzuwachs umgehen? Demokratisch verantwortungsvoll oder machtrunken Grenzen einer Hyperökonomisierung ausreizend oder überschreitend?

Mehr als Bedienfähigkeit

Digitalisierungskompetenz ist mehr als die Nutzung der Technik und Geräte, dazu gehören Kritikfähigkeit und an manchen Stellen ein bewusstes Nicht-Nutzen oder ein bewusstes Nutzen anderer Tools. Nebenbei sei erwähnt, dass Stephan Schimmelpfennig-Könen mit seiner Aussage, auf Facebook und Instagram werde „ohne jede Rücksicht gepostet und teilweise gemobbt, was das Zeug hält“, vermuten lässt, dass er sich mit der Lebenswelt heutiger Teenager kaum vertieft beschäftigt. Schließlich ist Facebook seit einigen Jahren auf dem Weg zum „Dino“ unter den Social Media. Nur noch eine Minderheit von Teenagern nutzt heute noch Facebook.

Ein Grund, warum das Digitalisierungsexperiment in modifizierter, hybrider Form teilweise weitergeführt werden sollte, ist die Beschäftigung mit der digitalen Welt auch in der Schule. Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer müssen sich kritisch und lernend mit der digitalen Welt befassen. Es wäre naiv bis fahrlässig zu meinen, dass Schule oder Bildungseinrichtungen eine Art nicht-digitaler Schutzraum sein könnten. Nein, man muss sich mit Digitalität befassen. Die gern genutzte Phrase von den  Jungen als „Digital Natives“, eine Bezeichnung primär aus dem Journalismus und nicht aus der Wissenschaft stammend, ist an einigen Stellen Unsinn. Die junge Generation hat oft ganz bemerkenswerte digitale Kompetenzen und kann schnell lernen, aber die kritische Digitalkompetenz ist oft gering. Wenn man über beliebte Tools und Programme hinausgeht, dann ist die Fähigkeit und Bereitschaft, sich vertieft mit Digitalität zu beschäftigen, oft gering. Wer von den Jungen kann Programmiersprachen oder Algorithmen und ihre Bedeutung fehlerfrei erklären oder gar anwenden? Selbst Videokonferenzen und die Einrichtung von Software musste ich vielen meiner Studierenden anfangs basal erklären - und die Lernbereitschaft war auch bei den Jungen nicht immer groß.

Digitalität wird nicht mehr weggehen, auch wenn sich manche das wünschen mögen. Seit Senecas „Non vitae sed scholae discimus“ wissen wir, dass man in der Schule oft nicht für das Leben, sondern primär für die Schule lernt. Diese Form der paradoxen Schulkritik sollte dazu ermutigen, Schule immer wieder dem Leben öffnen zu wollen. Dazu gehört eine kritische wie konstruktive Beschäftigung mit dem Digitalen. Dies gilt im Übrigen auch für die zeitgenössische Kunst, wo schon länger Digitales in Videos oder Installationen genutzt wird, was ein Kunstlehrer wissen müsste.

So effektiv wie Sommerferien?

Systematische Reviews von Studien zu den Effekten von COVID-19 auf schulische Leistungen kommen zu ernüchternden Ergebnissen. Homeschooling sei „so effektiv wie Sommerferien“, mit diesen Worten resümierte nicht nur das ZDF das Preprint der Studie „Effects of COVID-19-Related School Closures on Student Achievement” einer Forschungsgruppe der Goethe-Universität Frankfurt (1). Die Studie bestätigt die Vermutung, dass Homeschooling erwartungsgemäß Bildungsbenachteiligungen verstärkt, sodass sozial schwächere Schülerinnen und Schüler noch stärker benachteiligt sind. Wasser auf die Mühlen von Schimmelpfennig-Könen und seiner Skepsis?

Ohne Fehler kein Lernen

Das genauere Lesen der Studie von Svenja Hammerstein und anderen zeigt jedoch noch weitere wichtige Ergebnisse. Die ausgewerteten Studien beziehen sich auf die frühe, erste Phase des Homeschoolings bzw. Distanzlernens. Hier wurden sicherlich viele Fehler gemacht, wurden doch alle Beteiligten pandemiebedingt ins kalte Wasser geworfen. Dabei wurde aber auch sehr viel gelernt. Ohne Fehler kein Lernen! Ich hoffe, die Erfahrung vieler Menschen anzusprechen, dass vieles seitdem zwar nicht optimal, aber viel besser geworden ist, technisch wie didaktisch. Viele Beteiligten haben steile Lernkurven vollzogen und manche Widerstände der Lehrenden wie Lernenden wurden abgebaut. Ich bin zum Beispiel immer noch „beeindruckt“ von einem Lehrer, der sich ein halbes Schuljahr der Digitalisierung komplett verweigert hat mit der Aussage „Mein Unterricht ist nicht digitalisierbar“ und nur Aufgabenblätter zur Heimarbeit an seine Schülerinnen und Schüler gab. Sicherlich Einzelfälle, aber eine Facette neben anderen.

Diese erste, wilde Phase des digitalen Fernunterrichts ist vorbei. Man sollte würdigen und darauf aufbauen, was viele gelernt haben und welche neuen Standards auf höherem Durchschnittsniveau es gibt. Ich hoffe jedenfalls, dass die kompletten Digitalisierungsverweigerer es zunehmend schwerer haben werden, ihre schiere Unwilligkeit, selbst noch zu lernen, pseudo-pädagogisch zu entschuldigen.

Zweitens bietet die Studie Aufschlüsse, welcher Digitalunterricht besser oder schlechter ist. Auch daran sollte man anknüpfen. Schließlich ist auch Präsenzunterricht nicht generell nur sehr gut, und es gibt natürlich auch hier immense Unterschiede zwischen den Lehrkräften. Das ist im digitalen Raum ähnlich. Manchen liegt es mehr oder weniger. Manche bekommen mehr oder weniger Unterstützung durch Schulleitung und Schulträger.

Es gilt der alte Spruch von Watzlawick: „Mit einem Hammer kann man einen Nagel in die Wand schlagen oder man kann einen Kopf einschlagen.“ Technik und Werkzeuge sind in der Regel nicht gut oder schlecht per se, sondern es kommt darauf an, was man wie damit macht. Wissenschaft und Forschung können mit Studien und Evaluationen unterstützen, um mehr solide Evidenzen jenseits von willkürlichen Erfahrungen zu sammeln. Wichtig ist, dass es unabhängige und ergebnisoffene Forschung gibt. Bei der evidenzbasierten Medizin werden viele Studien von Pharmaherstellern bezahlt und nur durch staatliche Prüfgremien validiert. Dieses System hat viele Verdienste und Stärken, aber auch viele Schwächen. Allzu leicht bestimmen die Pharmakonzerne, was an Nebenwirkungen erforscht wird und was auf den Markt kommt. Es gibt neben den großen Verdiensten eine Reihe von Skandalen in der Pharmaforschung. Im Bildungsbereich sollte sich das nicht identisch wiederholen, indem zum Beispiel Bildungsforschung von Unternehmen wie Google und Amazon oder Wirtschaftsstiftungen betrieben wird. Hier müssen wir wachsam sein und die öffentliche Verantwortung für Bildung und Forschung ganz anders als zum Beispiel in den USA verteidigen, die oft ein  Beispiel dafür ist, wie die finanzstarke Wirtschaft und private Hochschulen bestimmen, was geforscht wird.

Differenzierter und konkreter

Ich würde mich insgesamt freuen, wenn das Thema Digitalisierung und Schule differenzierter und mehr ins Detail gehend diskutiert und angegangen würde. Pauschale Generalverurteilungen der Digitalskeptiker einerseits oder die Seligsprechungen der Digitalprediger andererseits führen überhaupt nicht weiter. Bildungsdiskussionen verlieren sich nicht nur bei der Frage der Schulformen zu oft in Grundsatzdiskussionen. Das ist der Komplexität und der Bedeutung der Thematik nicht angemessen.

Stephan Schimmelpfennig-Könen ist in der AG Digitalisierung des GEW-Landesverbands. Ich frage mich, wie diese AG Digitalisierung weiter angeht und wie man sich damit präzise und wissenschaftlich unterstützt befasst. Bewegt man sich in den Mühen der Ebene oder werden eher große Reden geschwungen und bequeme Absagen erteilt? Sind Lehrerinnen und Lehrer sowie der ganze Mikrokosmos Schule lernwillig und lernfähig, um über die ersten Digitalisierungserfahrungen hinaus konstruktiv vorzugehen? Im Interesse der Schülerinnen und Schüler kann man dies nur hoffen.
Es gibt hier sicherlich sehr viele positive Beispiele, die nicht herumlamentieren, dass digitales Fernlernen nicht möglich sei, was zudem so pauschal vielen internationalen Erfahrungen mit Distanzlernen widerspricht. Weg von den Niederungen der Polarisierung hin zu den Mühen der Ebene!


Professor Bernd Käpplinger

Bernd Käpplinger ist Professor für Weiterbildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und erfährt auch dort die Höhen und Tiefen der Digitalisierung.

(1) Svenja Hammerstein, Christoph König, Thomas Dreisörner und Andreas Frey: Effects of COVID-19-Related School Closures on Student Achievement. Goethe-Universität Frankfurt 2021. Preprint: https://psyarxiv.com/mcnvk/