Unter der Coronalupe

Medienerziehung und Medienbildung im digitalen Zeitalter

HLZ 5/2021: Digitalisierung

Keine technische Entwicklung hat die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen so rasant und einschneidend verändert wie die digitalen Bildschirmmedien. Im Vergleich zum technischen Umfeld der 80er Jahre offenbart sich heute ein digitaler Quantensprung.

Eltern wie Lehrkräfte sind in dieser neuen Welt als Ratgeber, Erzieher und Kontrollinstanz dringend gefordert, aber in der Regel weitgehend überfordert, was durch die extreme Dynamik dieser Technologie noch zusätzlich erschwert wird. Während man vor wenigen Jahren noch – inzwischen abgeschaltete – Soziale Netzwerke wie SchülerVZ und Wer-Kennt-Wen im Auge haben musste, stehen heute Smartphones mit WhatsApp, Instagram, Snapchat und TikTok ganz vorn auf der medienpädagogischen Agenda.

Suchtpotenzial: Kompensation für Corona-Frust

Die Skala der digitalen Problemzonen umfasst ein weites Spektrum: Privatsphäre und Datenschutz, sexuelle Übergriffe, Hate Speech und Cybermobbing, Fake News, problematische Inhalte, exzessiver Medienkonsum und Suchtgefahr, Schadsoftware, Kostenfallen sowie Urheberrechtsverstöße. Dazu kommt, dass Eltern und Lehrkräfte angesichts der enormen Dynamik in Bezug auf angesagte Apps und Websites nur am Ball bleiben können, indem sie mit ihren Kindern bzw. Schüler:innen über dieses Thema im Gespräch bleiben. Aber genau das passiert viel zu wenig, und so ist der Großteil der Erwachsenenwelt in Sachen „Kindernet“ erschreckend uninformiert.

Anders als bei früheren technischen Neuerungen hat sich die Nutzung von Internet, Smartphones, Computern und Spielekonsolen durch Kinder und Jugendliche längst dermaßen verselbständigt, dass vielen Eltern und Lehrkräften der „Generation Kassettenrekorder“ angesichts der Mediennutzung der vermeintlichen „Digital Natives“ nur ungläubiges Staunen bleibt. Diese Bezeichnung vermittelt allerdings ein unzutreffendes Bild von der digitalen Expertise dieser Generation, denn „Medienkompetenz“ bedeutet weitaus mehr als Bedienkompetenz im Umgang mit Social Media Apps oder Videospielen.

Nur schleppend entwickelt sich die Einsicht, dass an erster Stelle ein verantwortungsvoller, kritischer und sicherheitsbewusster Umgang mit der digitalen Welt vermittelt werden muss. Die „Generation Internet“ erinnert an Goldings Roman „Herr der Fliegen“, in dem eine Gruppe von Jugendlichen auf einer einsamen Insel strandet und dort ohne Anleitung Erwachsener klarkommen muss, was dann auch gründlich schief geht.

All diese Probleme eskalieren unter Coronabedingungen: Laut einer Umfrage des IFO-Instituts reduzierte sich die tägliche Lernzeit von Schülerinnen und Schülern im Frühjahr 2020 um 3,8 Stunden auf 3,6 Stunden, während der private Bildschirmkonsum um 1,3 Stunden auf 5,2 Stunden stieg. Laut einer Erhebung der DAK nahm in diesem Zeitraum die Nutzung von Videospielen an Wochentagen um 75 Prozent zu, die Nutzung von Social Media um 66 Prozent.

Auch nach der jährlich durchgeführten JIM-Studie haben die Bildschirmzeiten im Coronajahr nochmals drastisch zugenommen: Mädchen kommen an Schultagen auf durchschnittlich 7,16 Stunden (2019: 5,25), Jungen sogar auf 7,42 Stunden (2019: 5,57). Die spontane Hoffnung, das erkläre sich durch den Onlineunterricht, erfüllt sich nicht: Von den 258 Minuten (+ 53 Minuten) täglicher Onlinezeit wurden nach Angaben der Jugendlichen nur 11 Prozent (2019: 10 Prozent) auf Informationssuche verwandt, also gerade einmal 28 Minuten – ein Plus von nur 6 Minuten gegenüber 2019! Mehr Grund zur Beunruhigung als die reinen Bildschirmzeiten geben allerdings Aussagen von Kindern und Jugendlichen, dass sie Videospiele und Social Media als Kompensation für den „Coronafrust“ brauchen – ein klassischer Mechanismus in der
Anbahnung von Suchtverhalten. Verantwortlich für die deutliche Steigerung sind hauptsächlich die Nutzung von Videospielen, mit denen Mädchen laut JIM-Studie an Schultagen 81 Minuten (+ 38) verbringen, Jungen 159 Minuten (+ 43), und der TV-Konsum: Mädchen 140 Minuten (+ 26), Jungen 135 (+ 35). Dazu kommt die Nutzung von Streamingdiensten wie Netflix im Umfang von 114 Minuten.

Die Verantwortung der Eltern

Für Eltern wurde es durch die Schulschließungen und die drastische Zunahme von Onlineunterricht deutlich schwieriger, die Bildschirmzeiten ihrer Kinder zu kontrollieren, da sich weder dauerhaft noch zuverlässig kontrollieren lässt, womit der Nachwuchs seine Bildschirmzeit verbringt: Videokonferenz Chemie oder doch (nebenbei) eine Runde Fortnite oder Among us?

Im Zuge der vermehrten Onlinezeit hat nach der JIM-Studie auch Cybermobbing deutlich zugenommen: 38 Prozent der 12- bis 19-Jährigen (2019: 31 Prozent) haben in ihrem Umfeld mitbekommen, dass jemand im Internet absichtlich fertig gemacht wurde. 29 Prozent (2019: 20 Prozent) geben an, dass falsche oder beleidigende Dinge über sie online verbreitet wurden. 11 Prozent (2019: 8 Prozent) wurden nach eigenen Angaben schon einmal „online fertig gemacht“. Das entspricht einer Zunahme von 37,5 Prozent gegenüber 2019!

Auch an meiner eigenen Schule habe ich seit Beginn des laufenden Schuljahres mit deutlich mehr digitalen Eskalationen zu tun als zuvor. Das gilt insbesondere für das heimliche Mitschneiden von Onlineunterricht, der dann in Social Media gepostet wurde. Dabei ist den Beteiligten zumeist nicht bewusst, dass es sich um klare Straftaten nach § 201 und § 201a StGB und dem Recht am eigenen Bild handelt.

Aufklärende, präventive Maßnahmen sind durch die Coro-naeinschränkungen stark beeinträchtigt. Rechtshinweise in der Einverständniserklärung zum Onlineunterricht bleiben oft wirkungslos: „Echt, das stand da drin …? Hab ich gar nicht gelesen …“ Eine Unterrichtsstunde zum Thema Datenschutz und Privatsphäre wäre weit wirksamer. Von negativen Medienerfahrungen erzählen viele Kinder und Jugendliche zu Hause lieber nichts, insbesondere wenn es sich um hochnotpeinliche Erlebnisse mit sexuellem Bezug handelt.

Dazu kommt die Befürchtung, das Smartphone abgenommen zu bekommen, was für manche die Dimension einer Amputation hat. Das betrifft keineswegs nur offensichtlich oder vermeintlich selbstverschuldete Fälle, sondern auch unangenehme Erlebnisse mit verstörenden Inhalten oder Begegnungen mit Pädophilen.

Mangel an digitalem Problembewusstsein

Eltern sind von daher gut beraten, bei Übergabe eines internetfähigen Endgeräts an ihre Kinder in einem ausführlichen Gespräch über das Internet und seine Schattenseiten klar zu machen, dass die Kinder sich bei Unsicherheiten und Problemen jederzeit vertrauensvoll und angstfrei an sie wenden können, auch wenn sie durch unüberlegtes Verhalten das Problem selbst verursacht haben sollten. In der Regel lässt sich der Schaden bei digitalen Vorfällen umso erfolgreicher verhindern oder zumindest begrenzen, je schneller Rat und Hilfe gesucht werden. Da solche Gespräche aber kaum stattfinden, bekommt nur ein Bruchteil der Elterngeneration mit, dass die schöne neue digitale Welt neben faszinierenden und nahezu grenzenlosen positiven Möglichkeiten auch vielfältige Grenzüberschreitungen in hoch problematische Bereiche eröffnet. Während Kinder an andere Technologien wie den Straßenverkehr oder die Nutzung von Werkzeugen fürsorglich unter elterlicher Anleitung und Aufsicht herangeführt werden, haben Kinder heute millionenfach unbeaufsichtigt und unaufgeklärt Vollzugriff auf das Internet. Dass dieses ein komplettes Abbild des realen Lebens darstellt und somit Minderjährigen Zugang zu allem ermöglicht, was ihnen ansonsten verwehrt wird, ist nur einer Minderheit der Eltern bewusst. Schulrelevant ist dieses Thema ohne Wenn und Aber, schon weil vielfältige negative Konsequenzen unbedarfter Mediennutzung dazu führen können, dass Schule für die Betroffenen zur absoluten Nebensache wird und die Leistungen rapide nachlassen.

Nach meiner Erfahrung als Beratungslehrer wenden sich viele Betroffene in digitalen Krisen lieber an eine medienkompetente Lehrkraft als an die eigenen Eltern. In unzähligen Fällen begannen solche Gespräche mit der Forderung: „Aber Sie müssen versprechen, es nicht meinen Eltern zu erzählen.“ Gerade in brisanten Fällen sexueller Übergriffe wird dies meist gar nicht möglich sein. Und natürlich stellt sich die Frage, was in diesen Fällen an der Eltern-Kind-Beziehung nicht stimmt.

Leider muss man sämtlichen für Erziehung und Bildung verantwortlichen Personengruppen gleichermaßen einen eklatanten Mangel an digitalem Problembewusstsein attestieren, Eltern und Lehrkräften ebenso wie Politikerinnen und Politikern. Folgerichtig gibt es meines Wissens bis heute in keinem Bundesland ein Konzept, das diese Problematik wirksam und flächendeckend angeht, obwohl Jugendliche inzwischen seit mindestens 15 Jahren online sind. Das Hessische Schulgesetz sieht vor, dass Medienkompetenz fachübergreifend unterrichtet wird. Doch da dieses Thema in der Lehreraus- und -fortbildung nicht verpflichtend belegt werden muss, steht diese Idealvorstellung für die aktuelle Lehrer:innengeneration eher nur auf dem Papier. Und auch die aktuellen Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst bringen nur überschaubare Kenntnisse in diesem Bereich mit, weil solche Inhalte im Lehramtsstudium kaum eine Rolle spielen und vor allem nicht verpflichtend implementiert sind. Das muss sich ändern!

Günter Steppich

Günter Steppich ist Lehrer an der Gutenbergschule Wiesbaden und Fachberater für Jugendmedienschutz. Vielfältige Veröffentlichungen, Materialien und weiterführende Links findet man in seinem Internet-Portal.

www.medien-sicher.de


Zum Weiterlesen

www.klicksafe.de | EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz

www.mpfs.de | KIM- und JIM-Studien 1998–2020

www.ceps.eu/ceps-publications/index-of-readiness-for-digital-lifelong-learning | CEPS-Studie „Index of Readiness for Digital Lifelong Learning“