Weniger ist mehr

Zum Einsatz digitaler Medien in der Grundschule

HLZ 1/2019: Digitalisierung und Schule

Das Schlagwort Digitalisierung ist in aller Munde. Verschieden ist, was darunter verstanden wird, aber sicher ist, dass Digitalisierung zum Leben der Kinder gehört wie Straßenverkehr, Pusteblumen und Pommes. Dem muss die Grundschule Rechnung tragen. Kinder müssen lernen, wie sie sich in einer immer digitaler werdenden Welt angemessen bewegen und zurechtfinden können. Technisch können die meisten Kinder Smartphones, Spielkonsolen und PCs bedienen.

Den Computerraum brauchen Grundschulen, damit Kinder im Klassenverband lernen können, wie sie sich geschützt in einem Netzwerk bewegen und wie sie verantwortungsvoll mit ihren und den Daten anderer umgehen. Was passiert mit den Filmchen, in denen ich tanze, Fußball spiele oder Quatsch mache, die ich auf Youtube hochlade? Meine Freunde und Freundinnen haben Spaß daran, sie anzugucken, aber wer sieht sie sonst noch? Sagte man Kindern früher, sie sollen sich nicht von Fremden ansprechen lassen, geht es heute darum, sich nicht von jedem anschauen zu lassen, denn nicht jeder Follower ist ein freundlicher Mensch.
Digitale Medien üben einen starken Reiz auf die meisten Kinder aus. Ihr übermäßiger Gebrauch führt dazu, dass Kinder sich weniger bewegen, weniger rausgehen, weniger direkt mit anderen sprechen. Dies wirkt sich negativ auf das Lernen und ihre Gesundheit aus. Kinder im Grundschulalter lernen die gegenständliche Umwelt mit ihren Sinnen und ihrer Motorik kennen und verstehen.

Beziehung, Bindung und Kommunikation mit anderen ist der Motor für ihre Lernprozesse. Dies kommt beim computergesteuerten Lernen zu kurz, wie folgende Beobachtungen verdeutlichen sollen: Zwei Jungen spielen das beliebte Strategiespiel Pushy, das in den gängigen Lernwerkstätten enthalten ist. Es gibt Ansätze von Miteinander, Tipps, die einer dem anderen gibt, aber es geht schnell und hektisch zu, für Kreativität ist kein Raum. Der Verlierer ist am Ende frustriert, das Aggressionspotenzial ist aufgeladen und die beiden haben einige Mühe, wieder zu einem freundschaftlichen Miteinander zu finden. Das Konkurrieren ist im Spiel angelegt. Spielen die Jungen hingegen im Sand, kann man beobachten, wie sie kooperieren. Sie bauen einen Tunnel, sprechen miteinander über Strategien, probieren etwas aus und entwickeln und diskutieren weitergehende Ideen. Ihr Forschergeist ist wach, die Kinder sind kreativ und fühlen sich wohl. Die gemeinsame Lernerfahrung ist wegbereitend auch für weniger offene Unterrichtsgegenstände.

Die Bedeutung von Bindung und Beziehung führte mir ein Mädchen deutlich vor Augen. Sie arbeitete mit einem Lernprogramm, in dem sie Wörter Bildern zuordnen musste. Sie liebte dieses Format, allerdings bestand sie darauf, dass ich ihr bei der Arbeit zuschaute. Der Smiley beim richtigen Klick reichte ihr nicht als Bestärkung und außerdem wollte sie mir erzählen, was sie sich zu den Bildern dachte. Dabei verließ sie selbstverständlich die Denkmuster, die das Lernprogramm vorgab. Ohne den Beziehungsaspekt bleibt der Einsatz von Lernprogrammen flach wie der Bildschirm und bei vielen Kindern für den Lernerfolg annähernd wirkungslos.
Die Arbeit mit Stiften, Papier, Schere, Büchern und anderen Materialien ist lebendiger und tiefgreifender, weil die Kinder sich mit anderen austauschen können, weil sie zuschauen können, wie andere Kinder bei der Lösung einer Aufgabe vorgehen, weil die Arbeitsschritte langsam erfolgen. 

Dienlich für den Lernprozess ist der Computer im Grundschulunterricht aus meiner Sicht hauptsächlich beim Schreiben freier Texte. Die einzelnen Schritte bei der Textbearbeitung werden für die Kinder sichtbar und können nacheinander selbstständig bearbeitet werden. Die fertigen Texte können von anderen Kindern gelesen werden. Das stärkt die Kommunikation untereinander, bereitet Freude und entschädigt für die Mühe beim Überarbeiten. Für die Unterrichtspraxis ist es daher hilfreich, wenn in jedem Klassenraum zwei oder drei Computer vorhanden sind, die in die tägliche Arbeit einbezogen werden können. Mehr geht schon allein aus Platzgründen nicht, denn Lese- und Bauecke, Platz für Gruppenarbeit und Kreisgespräche gehen vor.

Grundschule muss gerade im Zeitalter der Digitalisierung ein Gegengewicht setzen und sollte lerntheoretische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse im Fokus behalten. Digitalisierung ist kein Nürnberger Trichter und Individualisierung noch keine Inklusion. Internetbasierte Lernstands­erhebungen wie quop suggerieren, man könne Unterricht so steuern und passgenau auf den nächsten programmierten Lernschritt des  Kindes abstimmen. Lernen ist jedoch ein komplexer und selbstbestimmter Prozess und funktioniert nicht nach trivialen technokratischen Kausalitäten.

Eine Schülerin sagte einmal über ihre Lehrerin, sie sei „lebensfreundlich“. Diese baute mit ihnen ein Insektenhotel, bepflanzte ein Beet, presste Apfelsaft und begriff Schule als Lebensraum, den sie mit den Kindern gestaltete. Lesen, Schreiben und Rechnen kamen dabei nicht zu kurz. Seien wir also lebensfreundlich und geben wir den Kindern Raum für Bewegung, Kreativität und soziale Erfahrungen in der Gemeinschaft! So geht Lernen.

Susanne Hoeth

Susanne Hoeth ist Grundschullehrerin in Frankfurt und zusammen mit Karin Hämmelmann Vorsitzende der Landesfachgruppe Grundschule der GEW Hessen.