In guter Verfassung?

100 Jahre VHS: Volkshochschulen damals und heute

HLZ 12/2019: Erwachsenenbildung

Jubiläen können zu Idealisierungen verleiten. Wer kennt es nicht von Familienfeiern, wo Reden auf den Jubilar leicht ins Rosarote abdriften können und Zwischentöne nur in Nebensätzen erkennbar sind? So anders ist das nicht, wenn sich Institutionen feiern und feiern lassen. 2019 begingen die rund 900 Volkshochschulen in Deutschland ihren 100. Geburtstag. Dazu gab es im Februar einen Festakt in der Paulskirche mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle und der Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbands (dvv) Annegret Kramp-Karrenbauer, eine Festschrift in 100 Geschichten von vielen Prominenten und im September Jubiläumsfeiern der örtlichen Volkshochschulen u.a. mit einer Langen Nacht der Volkshochschulen.

Nicht ohne Distinktion und Dünkel

Diese Öffentlichkeit ist den Volkshochschulen ohne Zweifel zu gönnen. Allzu oft werden publizistisch ihre Leistungen abgewertet. Ich habe Hochschullehrende erlebt, die betonen, dass man an der Uni doch nicht auf „Volkshochschulniveau“ unterrichte. Noch 2013 beschrieb ein Autor in der angesehenen Wochenzeitung ZEIT viele Volkshochschulen als Orte „für Hausfrauen, die sich in Töpferkursen selbst verwirklichen wollen“, für „Althippies“, die „ihre kruden Esoteriktheorien“ verbreiten, und von „sogenannten Lehrern, die selbst auch nicht viel mehr können“. Man fragt sich bei solchen Abwertungen, in welcher Welt Autoren leben, die sich so etwas ausmalen. Imagestudien zeigen, dass das schlechteste Image über die VHS bei den Menschen besteht, die selbst noch nie eine solche besucht haben, für die Bildung ohne Distinktion und ohne Dünkel eher nicht denkbar ist. Umso wichtiger, dass es solche Orte gibt, die niedrigschwellig für die Vielfalt der Bevölkerung angelegt sind und viele alltägliche Lerninteressen und -bemühungen ohne große Zulassungsvoraussetzungen für kleines Geld unterstützen! Wenn es die Volkshochschulen nicht gäbe, müsste man sie heute erfinden.

Volkshochschulen: Nicht erst nach 1919

Der dvv datiert die Gründung der Volkshochschulen auf das Jahr 1919, „in dem die Weimarer Verfassung mit dem Artikel 148 eine große Gründungswelle der Volkshochschulen auslöste“. Der Artikel „verankerte das Volksbildungswesen und somit den Gedanken der Weiterbildung in der Verfassung“ (1). Allerdings ist gegenüber einem solchen Gründungsmythos, der auch von heutigen Interessenlagen, politischer Lobbyarbeit und Marketing beeinflusst wird, Vorsicht geboten. Da Geschichte fortlaufend interpretiert wird und Akzentsetzungen erfährt, sollten Balance und Differenzierung nicht verloren gehen. Auch wenn die Geschichte der Volks- und Erwachsenenbildung an dieser Stellen nicht im Detail nachgezeichnet werden kann, sei darauf hingewiesen, dass das Vorbild für die deutschen Volkshochschulen die dänische folkehøjskoler war. Die ersten Gründungen 1844 basierten auf den pädagogischen und theologischen Ideen von Nikolai Grundtvig (1783-1872). 1905 und 1906 wurden in Tingleff und Albersdorf ähnliche Volkshochschulen in Schleswig-Holstein gegründet. Vorbild war eine „Heimvolkshochschule“, in der kleine Gruppen erwachsener Bauern oder Arbeiter ähnlich wie in einem Internat über Monate hinweg unterrichtet wurden. Via Wien gab auch die englische University Extension Movement wichtige Impulse. Das öffentliche Vortragswesen trug als Frühform wissenschaftlicher Weiterbildung dazu bei, Wissen über die Universitäten hinaus in der Breite der Bevölkerung zu popularisieren. Während sich die deutschen Universitäten als Institutionen gegenüber einer solchen Öffnung zurückhaltend bis widerständig verhielten, waren einzelne Hochschullehrer engagiert dabei. Die Volkshochschule ist partiell somit auch das Resultat einer mangelhaften Öffnung der Hochschulen.

1879 wurde in Berlin als erste eigene Institution die Humboldt-Akademie gegründet. 1890 folgte der Frankfurter Bund für Volksbildung, so dass die VHS Frankfurt 2015 ihr 125-jähriges Jubiläum feierte. Ab 1896 folgten Volkshochschulen zumeist in Süddeutschland (siehe Karte), so dass zahlreiche Volkshochschulen bereits deutlich vor 1919 bestanden. Motoren dieser Entwicklung waren oft private Initiativen – heute würde man sagen: der Zivilgesellschaft – aus dem Bürgertum, der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Von den Obrigkeiten im Kaiserreich wurden diese Aktivitäten misstrauisch beäugt; eine staatliche Unterstützung war fern. Dies änderte sich mit dem erwähnten Artikel 148 der Weimarer Verfassung, wonach „das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, (…) von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden“ soll (Absatz 4). Die Autorinnen und Autoren des Grundgesetzes haben 1949 leider versäumt, dies zu wiederholen (2).

Noch vor dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung im August 1919 wurden auch in Hessen neue Volkshochschulen gegründet. So berichtet Stadtarchivar Peter Engels über die Vorbereitungen zur Gründung einer Volkshochschule in Darmstadt:
„Im Juli 1919 bildete sich ein Arbeitsausschuss, der die Gründung einer Volkshochschule vorbereitete. Auf einen Aufruf in der Tageszeitung meldeten sich nicht weniger als 88  Lehrer, Architekten, Pfarrer, Ärzte, Schriftsteller, auch einige Professoren der Technischen Hochschule. Für das erste Trimester wurde ein Arbeitsplan mit 22 Arbeitsgemeinschaften, sechs Vortragsreihen und einigen Einzelvorträgen entworfen.“ (3)

Ähnliche private und gemeinschaftliche Bemühungen gab es nach der Revolution von 1918 auch in anderen Städten. Nach einer Liste des dvv geben auch die Volkshochschulen in Gießen, Offenbach, Kassel und Wetzlar sowie im Schwalm-Eder-Kreis und im Werra-Meißner das Jahr 1919 als ihr Gründungsjahr an. Aber auch nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung, die der Erwachsenenbildung Verfassungsrang zusprach, lebten die Volkshochschulen oft von kärglichen öffentlichen Mitteln und vor allem durch ehrenamtliches Engagement. Bis heute steht einem kleinen Kern von Vollzeitbeschäftigten eine immense Zahl frei- oder nebenberuflich tätiger Dozentinnen und Dozenten zur Seite. Auf eine hauptamtliche pädagogische Kraft kommen heute rund 50 frei- oder nebenberufliche Lehrkräfte. Unter solchen Bedingungen zu arbeiten, nötigt viel Respekt ab und nur wenige Menschen, die in anderen Bildungsbereichen arbeiten, würden so arbeiten wollen. Hier war die VHS schon 1919 nicht in guter Verfassung und sie ist es auch 2019 nicht.

Das Zusammenspiel von privaten, gemeinschaftlichen Initiativen aus dem Bürgertum und der Arbeiterbewegung einerseits und administrativem Handeln des Staates bei der Gründung der Volkshochschulen andererseits könnte man - neudeutsch formuliert – als einen Prozess beschreiben, der sich wechselseitig beeinflusste und sowohl Top-Down als auch Bottom-Up strukturiert war. Die Bestätigung dieser Hypothese bedürfte einer quellenbasierten Prüfung. Forschungen zur Geschichte der Volkshochschulen werden allerdings vor allem von der Erwachsenenpädagogik und von Freizeithistorikerinnen und -historikern gestemmt, genuin historische Forschungen haben Seltenheitswert. Ob der Forschungsgegenstand professionellen Historikerinnen und Historikern nicht attraktiv genug ist? Es wäre erfreulich, wenn zum nächsten VHS-Jubiläum mehr historische Forschung vorliegen würde.

Was 100 Jahre überdauert hat...

Den Volkshochschulen und ihrem Verband ist zuzugestehen, 2019 als ihr Jubiläumsjahr zu feiern. Die Retroperspektive auf 100 Jahre VHS gilt als Symbol des Erfolgs im Sinne institutioneller Dauerhaftigkeit, legitimiert die Gegenwart und signalisiert Zukunftsfähigkeit: Was 100 Jahre überdauert hat, das sollte auch die nächsten 25, 50 oder 100 Jahre existieren und nachgefragt werden. Dabei sollte man aber auch die Brüche nicht verschweigen: In der NS-Zeit wurden viele Volkshochschulen geschlossen oder fern von ihren Leitideen gleichgeschaltet. Auch die Volkshochschulen in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR hatten unter den Bedingungen dieser Diktatur eine andere Verfasstheit.

1919 war keine Stunde Null. Es brauchte nicht nur die Mitglieder der verfassungsgebenden Nationalversammlung, sondern viele engagierte Frauen und Männer in den vorherigen Dekaden, um die Volkshochschulen in Deutschland flächendeckend zu gründen. Dies gilt aber nicht nur für 1919, sondern auch für 2019 und hoffentlich für die nächsten 100 Jahre. Die Leserinnen und Leser der HLZ könnten überlegen, was sie für ihre VHS an ihrem Wohnort tun könnten, um zum Beispiel die Kommunalpolitik im Interesse der Volkshochschulen positiv zu beeinflussen, Kooperationen zu suchen oder Fördervereine vor Ort zu gründen. In der Geschichte war man vielleicht aktiver als heute.

Bernd Käpplinger, Professor für Weiterbildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen


(1) www.volkshochschule.de/kurswelt/100-jahre/index.php
(2) Erst ab den 70er Jahren wurde die Förderung der Erwachsenenbildung in allen Bundesländern – mit Ausnahme von Hamburg und Berlin – durch Landesgesetze geregelt.
(3) vhsonline.darmstadt.de/programm1_2019.pdf