50 Jahre IGS in Hessen

HLZ 11/2019: 50 Jahre IGS in Hessen

Kommentar

In dieser HLZ ist viel über die Anfangsjahre der Integrierten Gesamtschulen in Hessen zu lesen, auch über Ursula Dörger. Anfang der 80er Jahre hat sie als Gesamtschuldezernentin im Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (HIBS) den Weg der IGS Kassel-Waldau zu einer „Offenen Schule“ mitgestaltet, den Weg von einer eher fächerorientierten Organisation zu einer pädagogisch strukturierten Teamschule des gemeinsamen Lernens. Bis heute orientieren sich neue wie alte IGS an dieser Entwicklungsarbeit (S.12-13). 1988 kam die Reformschule Kassel dazu, die als Schule für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 mit einer jahrgangsübergreifenden Lernorganisation bundesweit eine neue Generation von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen prägte.

Nach einem aktuellen Bericht des Kultusministeriums gibt es endlich wieder einen durchgängigen Trend aller Integrierten Gesamtschulen zur Binnendifferenzierung, mindestens in den Jahrgängen 5 und 6 auf die Fachleistungsdifferenzierung zu verzichten. Daneben sind es vor allem die Integrierten Gesamtschulen im ländlichen Raum, die an der tradierten A-B-C-Differenzierung der Ursprungsjahre festhalten. Erfreulich ist der frische Schwung, mit dem sich die Kollegien der neuen Integrierten Gesamtschulen vor allem in Frankfurt mit jahrgangsübergreifenden Strukturen, Projektarbeit und selbständigem Lernen auf den Weg machen.

Eher dramatisch stellt sich die Situation in Wiesbaden dar. Die Auflösung der Hauptschulen, ein Ausweis des Scheiterns des gegliederten Schulsystems, nötigt die Integrierten Gesamtschulen zur Aufnahme von Schülerinnen und Schülern, die aus Realschulen und Gymnasien „abgeschult“ wurden. Dies belastet die ohnehin nicht einfache Arbeit der IGS zusätzlich, gefährdet die bisherige Akzeptanz in der Bevölkerung und überfordert die Kollegien zum Nachteil der Kinder. Gleichzeitig werden - vorgeblich unabweisbar – in Wiesbaden und Frankfurt neue Gymnasien geplant. Die IGS wird so in die Hierarchie des selektiven Schulsystems gezwängt, um den Gymnasien die Abschulung zu ermöglichen und die Auslese zu sichern!

Inklusive Bildung geht nur in einer inklusiven Schule für alle! Hier müssen wir ansetzen und die klare Trennung der Systeme einfordern! In einem ersten Schritt müssen sich alle Schulen den sozialen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen. Abschulungen, die in Hessen vornehm als „Querversetzung“ bezeichnet werden, müssen unterbleiben: Jede Schule führt die aufgenommenen Schülerinnen und Schüler zu allen Abschlüssen!

Die eklatante Benachteiligung der Kinder aus benachteiligenden Verhältnissen ist ein verfassungswidriger Zustand und eine wesentliche Ursache für die Spaltung der Gesellschaft und deren Vertiefung.

Der propagierte „Elternwillen“ ist eine fadenscheinige, von allen Parteien bemühte Monstranz, die verdeckt, dass sie sich dem Gestaltungsauftrag verweigern. Politik ist jedoch nicht dem Schutz des „White Privilege“, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet und muss sich aus der unheiligen Allianz mit den Privilegierten, die zu Lasten aller anderen geht, befreien. Wir müssen den Auftrag der öffentlichen Schule stärken, die bestmögliche Entfaltung und das demokratisch wertschätzende Miteinander für alle Kinder sicherzustellen. Jede und jeder ist eigen, ist einzig und gleich an Rechten, getragen von der Gemeinschaft und dieser gleichermaßen verpflichtet. Wir alle müssen die Integrierten Gesamtschulen bestärken, diese Aufgabe selbstbewusst anzunehmen, und sie dabei politisch massiv unterstützen.

Gerd-Ulrich Franz

Gerd-Ulrich Franz ist Bundesvorsitzender der GGG (Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.). Er war von 1988 bis 2012 Schulleiter der IGS Kastellstraße in Wiesbaden und von 1982 bis 2008 Mitglied des Landesvorstands der GGG Hessen.