Die Offene Schule

Von der IGS Kassel-Waldau zum Reformschulkonzept

HLZ 11/2019: 50 Jahre IGS in Hessen

Der Euphorie der IGS-Gründerjahre folgte eine schnelle Ernüchterung, die insbesondere der schlechten personellen Ausstattung der Gesamtschulen geschuldet war. Die GEW formulierte ihre Forderungen auf mehreren Gesamtschulkongressen. Kultusminister von Friedeburg (SPD) wies die GEW in einem Brief vom 2. Mai 1973 darauf hin, dass die Bedingungen der „in jeder Hinsicht optimal ausgestatteten Modellschulen“ nur „sehr eingeschränkt“ auf die IGS als Regelschule übertragbar seien (1). 1970 verlor die SPD ihre absolute Mehrheit im Landtag, der neue Koalitionspartner FDP setzte einen Errichtungsstopp für neue Integrierte Gesamtschulen durch. Der Gesamtschulkongress der GEW am 27.11.1976 zog unter der Überschrift „Konsolidierung der hessischen Gesamtschulen“ eine „kritische Zwischenbilanz“. Die nach der Aufhebung des Errichtungsstopps durch die zweite sozialliberale Koalition 1978 entstehenden neuen Integrierten Gesamtschulen konzentrierten sich auf die innere Entwicklung. Das Konzept der „Offenen Schule“ sollte die Probleme überwinden, die sich aus der rigiden Differenzierung in Fachleistungskurse und der schieren Größe der Schulen ergaben. Achim Albrecht skizziert diese Entwicklung am Beispiel der Offenen Schule Kassel-Waldau (OSW).

Die Gesamtschule Waldau wurde 1971 in Kassel als eine der ersten Integrierten Gesamtschulen in Hessen gegründet. Sie liegt in der Plattenbausiedlung Waldau, die in den 60er-Jahren neben das alte Dorf Waldau gesetzt worden war, ein paar hundert Meter von der Siedlung weg auf dem billigsten Acker direkt an der Stadtgrenze. Bis Mitte der 70er-Jahre verfolgte das SPD-regierte Kassel für die allgemeinbildenden Schulen ein Stufen-Schul-Konzept: viele Grundschulen, mehrere Integrierte Gesamtschulen – wie in Hessen üblich ohne eigene Oberstufe – und einige wenige gymnasiale Oberstufen. Dieser Plan blieb politisch stecken. Zwei eigenständige Gymnasien wurden zum reinen Oberstufengymnasium mit den Jahrgängen 11 bis 13. Eines ist die in den 60er-Jahren als reformpädagogisch arbeitendes Gymnasium im Kasseler Osten gegründete Herderschule, bis heute die für die Gesamtschule Waldau zuständige gymnasiale Oberstufe. Sie liegt eine gute Viertelstunde mit dem Bus entfernt, was die personelle Verflechtung durch die Teilabordnung von gymnasialen Lehrkräften bis heute erschwert.

Der Neubau der IGS Waldau erfolgte wie bei vielen hessischen Gesamtschulen in mehreren Bauabschnitten. Schule fand so viele Jahre lang auf und neben der Baustelle statt. Jedes Jahr kam ungefähr ein Dutzend neuer Lehrerinnen und Lehrer dazu, frisch von den Unis und Studienseminaren. Wir wollten die Schülerinnen und Schüler fördern, nett zu ihnen sein und alles, was sonst im naiven Verständnis von Berufsanfängerinnen und -anfängern denkbar ist. Die meisten Waldauer Kinder und Jugendlichen hatten darauf aber gar keinen Bock. Die sozialen Probleme im Stadtteil Waldau wuchsen und wer an den sozialen Aufstieg seines Kindes glaubte, schickte es sowieso auf ein Kasseler Gymnasium oder „wenigstens“ auf eine der traditionellen Realschulen. Das galt auch für Lehrerinnen und Lehrer, für den Arzt und den Pfarrer sowieso, mit entsprechenden Werbeeffekten. Die sechszügig angelegte Schule in einem Waschbetonbau mit fensterlosen Fluren halbierte nach und nach ihre Schülerschaft – eine Folge der Konkurrenz des traditionellen Schulwesens und der sinkenden Kinderzahl im Stadtteil.

Auch gegen die durch die Kultusministerkonferenz oktroyierte ABC-Differenzierung in den „Hauptfächern“ fanden wir anfangs kein funktionierendes pädagogisches Konzept. Da herrschte eine ganze Menge pädagogisches Chaos. Das junge Kollegium, zu 95 Prozent GEW-Mitglieder, war trotz aller Probleme hochmotiviert, schaffte es, nicht aufzugeben. 1978 kam unsere große Chance: Die FDP schrieb die Gründung von vier „Offenen Schulen“ in die Koalitionsvereinbarung. Niemand wusste so recht, was das sein sollte. Es war und ist das Verdienst von Dr. Klaus Lindemann, dem damaligen Schulleiter, einige Kolleginnen und Kollegen zusammenzutrommeln und mit ihnen Ideen für einen reformpädagogisch begründeten Neuanfang der Schule zu formulieren. Unterstützung fand er ausgerechnet bei der FDP-Politikerin Ruth Wagner, der späteren Landesvorsitzenden der FDP (1995 bis 2005) und Wissenschaftsministerin (1999 bis 2003). Die Gymnasiallehrerin, in den Jahren 1969 bis 1975 sogar stellvertretende Landesvorsitzende des Philologenverbands, setzte sich stundenlang mit Kolleginnen und Kollegen der Schule zusammen, um ein Konzept und die erforderlichen personellen und räumlichen Bedingungen zu schreiben. Als „Mutter“ der „Offenen Schule“ bezeichnete Professor Rolf Messner bei der 30-Jahrfeier der OSW jedoch Ursula Dörger (siehe Kasten), die in der Offenen Schule „die ideale Verwirklichung einer integrierten Gesamtschule“ sah. Das SPD-geführte Kultusministerium stand eher abseits, doch schließlich durchschlug der SPD-Finanzminister Hans Krollmann den gordischen Knoten und sagte die Finanzierung der notwendigen Umbaumaßnahmen zu. 1983 wurde die IGS Waldau  in „Offene Schule Waldau“ mit dem Status einer „Versuchsschule“ des Landes Hessen umbenannt.

Es entstand eine IGS als Ganztagsschule besonderer pädagogischer Prägung mit einem eigenen Tagesrhythmus und einem offenen Anfang, mit konsequent und achtsam durchgehaltenen festen Regeln und Ritualen, einer sechsjährigen Verantwortung von Jahrgangsteams von Klasse 5 bis Klasse 10 und verbindlicher Teamarbeit. Sechs Jahre gemeinsames Aufwachsen, Lernen und Leben wurden der Kern des pädagogischen Ethos der Waldauer Lehrerschaft. Nach und nach wurde die ABC-Differenzierung in den Hauptfächern mit einer langen Übergangszeit mit zwei Kursniveaus (G und E) zurückgedrängt. Inzwischen baut die Schule jede äußere Leistungskursdifferenzierung zugunsten binnendifferenzierter, integrierter und individualisierter Unterrichtsformen ab. Ein eigenes Fach für die systematische, schrittweise Aneignung von Methoden des selbständigen Lernens („Freies Lernen“) wurde eingeführt und in den letzten Jahren ausgeweitet. Schon vor über 20 Jahren begann die Schule, Kinder mit Behinderungen aufzunehmen, und setzte durch, dass Sonderpädagoginnen mit fester Stelle an der Schule arbeiten und die Jahrgangsteams ergänzen und bereichern.

Der Abbau von Stellen für die „Versuchsschulen“ begann noch unter den von der SPD gestellten Kultusministern, so dass die CDU ab 1999 daran nahtlos anknüpfen konnte. Dennoch hat die Schule an ihrem Konzept keine Abstriche vorgenommen, sondern vieles weiter entwickelt. Dazu gehören die Einführung eines integrierten naturwissenschaftlichen Unterrichts, ein besonderes Konzept für einen  Religionsunterricht für alle, das insbesondere mit Unterstützung der evangelischen Landeskirche, aber auch der katholischen Kirche, bis heute praktiziert wird, die  Einführung von Bläserklassen, die Gestaltung von drei „Kompaktwochen“ im Schuljahr, an denen der reguläre Stundenplan ausgesetzt wird, und ein verbindliches Bio-Mittagessen für alle 900 Schülerinnen und Schüler der Schule. Das sind nur einige Stichworte für eine Schule, deren Arbeit 2006 mit dem zweiten Platz des Deutschen Schulpreises und mit einer Reihe weiterer wichtiger Auszeichnungen belohnt wurde.

Für die Waldauer Kinder gibt es eine feste Aufnahmezusage. Für die „freien Plätze“ (rund 50 Prozent der Gesamtschülerzahl) bewerben sich Eltern aus ganz Kassel für ihre Kinder. Seit über 25 Jahren müssen viele wegen des großen Andrangs abgelehnt werden. Soziale Mischung prägt das Erfolgsbild der Schule, der nun durch eine grundlegende Sanierung und – hoffentlich – Erweiterung der Gebäude ein neuer Entwicklungsschub bevorsteht.

Achim Albrecht

Achim Albrecht wurde 1977 GEW-Kreisvorsitzender in Kassel und 1980 Bezirksvorsitzender in Nordhessen. Von 1984 bis 1996 war er hauptamtlicher stellvertretender GEW-Bundesvorsitzender, von 1997 bis 2011 Pädagogischer Leiter an der Offenen Schule Waldau. Nach seiner Pensionierung war er fünf Jahre Lehrbeauftragter für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Kassel.

(1) vgl. dazu in dieser HLZ Seite 10-11, weitere Dokumente >> Fachgruppe Gesamtschulen rechte Spalte