Gleichberechtigte Lernchancen

Von der Versuchsschule zum „Normalfall“

HLZ 11/2019: 50 Jahre IGS in Hessen

Am Anfang der Gesamtschulbewegung in Hessen, die vor allem auch von der GEW getragen und vorangetrieben wurde (HLZ S.8), stand die soziale Utopie von mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit und einem Ende der frühen Auslese. Alfred Harnischfeger, von 1977 bis 1983 Landesvorsitzender der GEW Hessen, wurde 1984 Schulleiter der Integrierten Gesamtschule in Kelsterbach, die er bis 2010 leitete. Er skizziert am Beispiel der IGS Kelsterbach die Entwicklung der letzten Jahrzehnte und die Herausforderungen für die Zukunft.

Über alle Parteigrenzen hinweg entschieden die Kelsterbacher Stadtverordneten 1970, nicht nur die Schulträgerschaft zu behalten, die in dieser Zeit fast überall an die Kreise abgegeben wurde, sondern auch die bestehende Haupt- und Realschule in eine IGS umzuwandeln. Kultusminister Ludwig von Friedeburg übergab 1972 die neue Schule ihrer Bestimmung.

Gerade in einer Stadt wie Kelsterbach mit einem sehr hohen Anteil an Kindern nichtdeutscher Herkunft war die Schulform IGS entscheidend für die Chance, gleichberechtigt an den gesellschaftlichen Errungenschaften Anteil zu haben. Die IGS trat mit einem ganzheitlichen Anspruch an, alle Potenziale der Schülerinnen und Schüler zu fördern und neben den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen wie Intelligenz und Begabung insbesondere auch die Fähigkeiten zur Selbststeuerung (Motivation, Frustrationstoleranz, Durchhaltevermögen, vorausschauende Planung und Selbsteinschätzung) zu stärken. Das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen war für die IGS immer auch das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Biografien, unterschiedlicher Herkunft und Religion.

Für die IGS Kelsterbach erwies sich die Beibehaltung der Schulträgerschaft als Glücksfall. Die gute Ausstattung der Schule mit Klassen- und Fachräumen eröffnete Freiräume für neue Lernwege im Rahmen eines ganzheitlichen Bildungskonzepts. Die zusätzlichen personellen Ressourcen machten die Schule schon früh zu einer Ganztagsschule mit besonderer Prägung. Bereits Anfang der 90er Jahre wurden drei Stellen für Schulsozialarbeit geschaffen. Die zusätzlichen personellen Ressourcen, die der Schulträger zur Verfügung stellte, machten es möglich, schulbezogene Konzepte der Prävention und Förderung umzusetzen. Inklusive pädagogische Konzepte waren die Antwort auf die traditionell schwierige Ausgangslage der Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft.

Zum Beispiel: Die IGS Kelsterbach

Die ursprüngliche Annahme, dass Sprachdefizite von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund spätestens in der nächsten Generation kein Thema mehr sein würden, wich der Erkenntnis, dass Deutsch als Bildungssprache ein zentraler Schlüssel zum Bildungserfolg ist - und das nicht nur im Fach Deutsch, sondern in allen Fächern. Auf veränderte Lebenswirklichkeiten in den Familien, im Alltag der Schülerinnen und Schüler und beim Medienkonsum reagierte die IGS Kelsterbach wie andere Gesamtschulen unter anderem mit der Verankerung des Doppelstundenprinzips anstelle der klassischen 45-Minuten-Stunde. Dazu kamen längere Pausen und Lernzeiten zur Erledigung von Hausaufgaben und zur individuellen Förderung. Durch diese Formen „selbstständiger“ Arbeit wurden Potenziale aktiviert, die sich mit einer lehrerzentrierten Stoffvermittlung und dem Delegieren von Hausaufgaben an die Familien nicht erreichen ließen. Die Kinder und Jugendlichen da abzuholen, wo sie in ihrer Entwicklung stehen, und ihnen eine Perspektive geben, das ist bis heute die größte Herausforderung.

Diese innovative und gleichzeitig inklusive Schulentwicklung ist auch zehn Jahre nach der Umwandlung der IGS Kelsterbach in eine gebundene Ganztagsschule noch nicht abgeschlossen. Vielleicht formulieren wir die Ziele der IGS heute in einer anderen Sprache. Doch mit dem Leitmotto „Kein Kind darf zurückgelassen werden“ und dem Anspruch, dass für jede und jeden „eine passende Anschlussmöglichkeit nach der Klasse 10“ gefunden werden muss, befinden wir uns immer noch in bester Übereinstimmung mit den Zielen der Gründungszeit.

Das Ziel, gleichberechtigte Lernchancen zu schaffen und Lernziele aus der Sicht von Kindern zu formulieren, ist die größte Änderung zum traditionellen Lehrauftrag der Schule von früher. Schulen, die diesen Ansatz als entscheidende Herausforderung annehmen, schaffen ein offenes Lernklima. Sie geben die Möglichkeit, Fragen zu stellen, lassen individuelle Lösungswege zu und gestatten, Fehler zu machen. Lernorte mit Rückzugscharakter und Differenzierungsräume fördern das individuelle Lernen. Lehrkräfte und Assistenzen zur Lernbegleitung sorgen für die effektivere Nutzung von Lernzeiten und Wochenplänen.

Die Integrierten Gesamtschulen in Hessen haben unterschiedliche Wege gesucht und gefunden. Sie sind von Reform- und Modellschulen auch in der Fläche zu „ganz normalen“ Schulen geworden, die akzeptiert werden und aus der hessischen Bildungslandschaft nicht mehr wegzudenken sind. Sie haben Veränderungen angestoßen, die längst von den tradierten Schulen des dreigliedrigen Schulsystems übernommen wurden. Sie sind aber wegen ihrer pluralistischen Schülerstruktur niemals wirklich „über den Berg“. Und auch bei den notwendigen Veränderungen der Lehrerrolle haben sie noch einen weiten Weg vor sich, um das Expertenwissen der Lehrkräfte mit dem auszubalancieren, was die Schülerinnen und Schüler mit- und einbringen. Ob der Weg zum „Lerncoach“ der richtige ist, wird sich zeigen.

Vielleicht gelingt es eines Tages, über eine Bildungsreform auch mehr gesellschaftliche und politische Partizipation und Mitbestimmung zu erreichen, weil mehr Menschen in der Schule gelernt haben, welches ihre Rechte sind und wie man sie durchsetzt. Wir werden sehen.

Alfred Harnischfeger