Einführung verpflichtender Vorlaufkurse im Schulgesetz

Stellungnahme der GEW Hessen zum Gesetzentwurf

August 2020

Stellungnahme der GEW Hessen zum Gesetzentwurf der Fraktion der CDU und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Elftes Gesetz zur Änderung des Hessischen Schulgesetzes bezüglich der Einführung verpflichtender Vorlaufkurse im Schulgesetz

Beschluss des Geschäftsführenden Vorstands vom 12. August 2020

Die GEW Hessen geht grundsätzlich davon aus, dass die Bildungseinrichtung für Kinder vor Einsetzen der regulären Schulpflicht die Kindertagesstätte ist. In Deutschland besteht Schulpflicht. Mit ihr ist aber zugleich auch das Recht des Kindes auf schulische Bildung garantiert. Die GEW lehnt die Zurückstellung von Kindern von der Schulpflicht aus ganz prinzipiellen Gründen ab. Neben grundsätzlichen demokratischen Rechten des einzelnen Kindes wird auch sein Recht auf inklusive Bildung durch eine Rückstellung gebrochen und das Kind bereits im Schuleingangsalter unzulässig als förderbedürftig „markiert“.

Die GEW sieht auch keinen pädagogischen Nutzen darin, die Schulpflicht vorzuziehen und Vorlaufkurse verpflichtend zu machen. Wie oben beschrieben, ist aufgrund eines nicht näher spezifizierten Merkmals wie „erforderliche Sprachkompetenz für eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht der ersten Klasse der Grundschule“ die Ungleichbehandlung ein großes Problem unter dem für die Bildungsbiografie des Kindes so gravierenden Aspekt der Schulpflicht. Die GEW sieht in der Änderung des Schulgesetzes einen erheblichen rechtlichen Eingriff in die Rechte des Kindes, der schon aufgrund der geringen Anzahl von Kindern, die es betrifft, die im Gesetzesentwurf mit 692 Kindern angegeben wird, nicht gerechtfertigt erscheint.

Die GEW empfiehlt, wie dies auch im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan vorgesehen ist, stärker auf Beratung und institutionelle Kooperation zwischen Kindertagesstätte und Grundschule zu setzen. Hier können organisatorische Überlegungen angestellt werden, wie man die Kinder am besten erreicht und Eltern als Partner für die zusätzliche sprachliche Förderung eines Vorlaufkurses gewinnt.

Die GEW vermisst eine Analyse der Gründe, warum Eltern ihre Kinder nicht am Vorlaufkurs teilnehmen lassen wollen und vermisst ebenso den Einbezug von wissenschaftlicher und praxisbezogener Expertise.

Es geht bei dem Gesetzesentwurf um Kinder, die zum Zeitpunkt der Anmeldung und bei der Sprachstands-Erhebung durch die Grundschule etwa eineinhalb Jahre vor ihrem regulären Schuleintritt stehen.

Viele Kinder dieses Entwicklungsalters sind durchaus in der Lage, die erforderlichen Sprachkenntnisse in eineinhalb Jahren im deutschsprachigen Umfeld einer Kindertagesstätte zu erwerben. Treten dabei Schwierigkeiten auf, so können diese verschiedene Ursachen haben, wie z.B. soziale Benachteiligung, psychosoziale Entwicklungsstörungen, Sinnes- oder andere Beeinträchtigungen oder schwierige familiäre Verhältnisse.

Diese Kinder benötigen dann umfassende Unterstützungsangebote und ihre Probleme sind nicht durch einen Vorlaufkurs im Sinne eines schulischen Sprachkurses zu beheben. Warum sollte im Vorlaufkurs in der Schule gelingen, was ganzheitlicher in der Kita gelingen kann?

Durch den vorgelegten Gesetzesentwurf wird die Rolle der Schule als bewertende und über die Bildungsbiografie der Kinder entscheidende Institution noch verstärkt. Damit einher geht die Gefahr, dass die guten und gelingenden Beispiele der Kooperation von Grundschulen und Kitas zurückgedrängt werden. Es gibt inzwischen viele Einrichtungen, die vor Ort tragfähige Formen der Sprachförderung durch Vorlaufkurse in Kooperation von Lehrkräften und Sozialpädagogischen Fachkräften entwickelt haben. Der Gesetzesentwurf geht davon aus, dass die sprachliche Entwicklung der Kinder in diesem Entwicklungsalter als schulische Verpflichtung besser gelingt, als in der für diese Kinder zuständigen Bildungseinrichtung, der Kita, führt allerdings keinerlei inhaltliche Begründung dafür an.

Dem steht der hessische Bildungs- und Erziehungsplan (BEP) entgegen, der ausführlich beschreibt, mit welchen Bildungs- und Erziehungszielen Sprachförderung in der Kita erfolgen soll und wie die sprachliche Entwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder dokumentiert wird. Der Bildungs- und Erziehungsplan definiert für die Bildungsarbeit in der Kita eine Sprachförderung die auf ein „sprachliches (auch mehrsprachliches) Selbstbewusstsein“ ausgerichtet ist. Dabei differenziert und umfasst er über 20 verschiedene Fähigkeiten unterschiedlicher Kompetenzbereiche. Beim Übergang in die erste Klasse der Grundschule kann daran angeknüpft und auf den in der Kindertagesstätte entwickelten Kompetenzen aufgebaut werden. Um diese Praxis zu unterstützen und zu entwickeln, gibt es seit vielen Jahren Fortbildungsangebote für Tandems von Grundschulen und Kindertageseinrichtungen. Diese guten Ansätze leiden allerdings seit einigen Jahren unter dem politisch hausgemachten Lehr- und Fachkräftemangel an Grundschulen wie auch in Kindertageseinrichtungen.

Aus den gemeinsamen Fortbildungen von Grundschulen und Kitas zum BEP und der jeweiligen Zusammenarbeit beim Übergang haben sich pädagogische Konzepte für Vorlaufkurse im Sinne einer Vorlaufphase entwickelt, die in der Kita beginnt und die beim Übergang in die erste Klasse nahtlose Unterstützung des einzelnen Kindes sicherstellt und Kinder mit Problemen in der Sprachentwicklung durchgängig erfolgreich begleitet. Der Vorlaufkurs kann nach § 49 der Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses nicht nur an der Grundschule stattfinden, sondern „im Einvernehmen mit dem jeweiligen Träger auch an einem anderen Ort (z.B. Kindertagesstätte)“ durchgeführt werden.

Wenn Bildungseinrichtungen die Vorlaufkurse in Kooperation von Sozialpädagogischer Fachkraft und Lehrkraft in der Kita anbieten, gelingt es ihnen „ihr professionelles, kooperatives Handeln bezogen auf das einzelne Kind (zu) intensivieren“ und befördert die „Kommunikation und Austausch mit dem Kindergarten als gleichberechtigtem Partner mit eigenem Bildungsauftrag“, wie es im Bildungs- und Erziehungsplan vorgesehen ist. Wo dies in der Praxis erprobt worden ist, sind positive Erfahrungen und Effekte zu verzeichnen.

Die GEW sieht es deshalb als sinnvoll an, diesen Weg der Kooperation der Bildungseinrichtungen zu stärken und weiterzuentwickeln, statt auf die Verpflichtung von Vorlaufkursen zu setzen.

Es hat keinen Sinn, Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld und ihren vertrauten Beziehungen herauszulösen, um sie für zwei Stunden in einer neuen Gruppenzusammensetzung, deren einziges Sprachvorbild die Lehrkraft ist, zu „beschulen“.

Bei Kindern im Schuleintrittsalter geht man wissenschaftlich fundiert und fachlich unbestritten von einem synthetischen Spracherwerb aus, d.h. das Kind eignet sich die Sprache unbewusst an, indem es Gehörtes mit den Erfahrungen verbindet, die es mit Personen, Gegenständen und Handlungen macht.

Bei Kindern, die eine Kita besuchen, sind dies die anderen Kinder, die Sozialpädagogischen Fachkräfte und die täglichen Abläufe dort. Nimmt man sie jedoch aus der Kita heraus, um sie dem Vorlaufkurs in der Schule zuzuführen, reduziert man ihre Möglichkeiten zum altersgemäßen Spracherwerb, statt sie zu fördern. Kommen die Kinder nach zwei Schulstunden zurück in ihre Kitagruppe, fehlt ihnen das gemeinsam Erlebte und sie haben es schwer, wieder in die Abläufe zu finden, sich in die Gruppe zu integrieren, mitzusprechen und miteinander zu sprechen. Die Erfahrung zeigt darüber hinaus, dass wenn die Vorlaufkurse als gemeinsame Kooperation von Lehrkräften und Sozialpädagogischen Fachkräften in der Kita stattfinden, sie von den Eltern gut angenommen werden und fast alle Kinder erreicht werden. Dieser Ansatz hat neben den pädagogischen Vorteilen für die Entwicklung der Kinder auch den ganz pragmatischen Vorteil, dass die Eltern ihr Kind nicht mehrfach zwischen den Bildungseinrichtungen hin- und herbringen müssen und so den ganzen Vormittag über beschäftigt sind. Das Personal der Kindertagesstätten kann dies nicht leisten. Für berufstätige Eltern ist es also schlichtweg nicht möglich, ihr Kind zum Vorlaufkurs in die Schule und nachher wieder in die Kita zurückzubringen. Manche Eltern, die nicht auf die umfassende Betreuung durch die Kindertagesstätte angewiesen sind, bringen die Kinder nach dem Vorlaufkurs gar nicht mehr in die Kita zurück oder schicken sie gleich nur noch zum Vorlaufkurs in die Schule, weil sie die Schule vielleicht per se für lehrreicher halten und sich dieser Institution unterordnen. Für die Kinder bedeutet dies, dass sie deutlich weniger Zeit im deutschsprachigen Umfeld verbringen und damit Lernchancen vertan werden.

Auch wenn ein Kind keine Kita besucht, was in Einzelfällen leider immer noch vorkommt, hinterfragt die GEW grundsätzlich, ob eine Zurückstellung vom Schulbesuch und eine Verpflichtung zum Vorlaufkurs im Sinne einer vorgezogenen Schulpflicht sinnvoll sind.

Es wäre an der Zeit, das von der Kultusministerin Wolff propagierte „Nur wer Deutsch kann, kommt in die 1. Klasse“ konsequent zu überwinden und statt dessen rechtzeitig bei der Schüleranmeldung darauf hinzuwirken, dass das Kind in eine Kita aufgenommen wird, um mit anderen deutschsprachigen Kindern zusammen zu spielen und zu lernen. Dabei ist Beratung und ein organisatorisches Entgegenkommen sicher der bessere Weg als eine gesetzliche Verpflichtung.

Kommen Kinder erst kurz vor Schuleintritt nach Deutschland, bietet die erste Klasse ebenfalls für sie ein für den Spracherwerb günstiges Lernumfeld, wenn sie dabei durch zusätzliche Sprachfördermaßnahmen (Intensivkurs) unterstützt werden. Der Anfangsunterricht ist so konzipiert, dass die Kinder z.B. durch das Prinzip der Anlauttabelle, mit der inzwischen fast alle Lese- und Schreiblehrgänge arbeiten, permanent neue Wörter kennenlernen.

Auch in den anderen Fächern wie Mathematik, Sport, Musik und Kunst kann sich das Kind von Anfang an mit seinen Neigungen und besonderen Fähigkeiten im Klassenverband einbringen. Die Arbeitsaufträge im Unterricht der ersten Klasse sind konkret und durch Symbole unterstützt und der Unterrichtsalltag ist durch Rituale und Wiederholungen geprägt und insofern ideal zum Lernen und zum Deutschlernen von und mit anderen Kindern. Bindet die Lehrkraft darüber hinaus die in der Klasse vorkommenden Herkunftssprachen ein, profitieren alle Kinder von der heterogenen Lerngruppe, die Sprachgewandten ebenso wie die Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist und die daher einsprachig aufwachsen.

Kommunikation und soziales Miteinander sind der Motor für die Sprachentwicklung. Eine Erhöhung der Stundenzuweisung für die Bildung kleiner Klassen und zusätzlicher unterstützender Intensivkurse könnte eine schulische Struktur schaffen, in der die Kinder häufiger und intensiver sprechen und Gehör finden, und somit die Qualität der Sprachförderung für alle Kinder anheben.

Die Zeitschrift Schulverwaltung (SchVw HE/RP 4/2016) empfiehlt im Artikel „Spracherwerb durch Integration – Integration durch Spracherwerb“ ebenfalls die direkte Einschulung in die Regelklasse für den Grundschulbereich, auch wenn die Kinder „nicht über die für den Schulbesuch erforderlichen deutsch Sprachkenntnisse verfügen“, wie es im Verordnungstext heißt. In diesem Artikel werden nicht nur Kultusminister Lorz und der damalige Sozialminister Grüttner zitiert, sondern auch namhafte Bildungsforscher.

Die GEW sieht es als dringend erforderlich an, sich grundsätzlich von einer einzelne Kinder ausgrenzenden Vorgehensweise zu verabschieden und sich schrittweise einem inklusiven Bildungssystem zu nähern, das mit individueller Förderung Ernst macht und die nötigen Ressourcen schafft unter Einbeziehung der Expertise der Fachpraxis und neueren Erkenntnissen der pädagogischen Forschung. Die rechtlichen Strukturen müssen konsequent an den Anforderungen der UN-Konvention ausgerichtet werden, statt immer noch darauf zu setzen, einzelne Kinder vom Besuch des allgemeinen Bildungsangebots auszuschließen.

Beschluss des Geschäftsführenden Vorstands vom 12. August 2020