Der Bologna-Prozess ist gescheitert

Aber nicht nur einmal, sondern immer wieder

HLZ 4/2015: Studieren in Hessen

Im Sommer letzten Jahres wurde der 25. Jahrestag der Bologna-Deklaration begangen. Mit diesem Dokument vereinbarten im Sommer 1999 29 europäische Bildungsminister im italienischen Bologna nichts Geringeres als die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums. Mittlerweile nehmen 47 Staaten an diesem Projekt teil. Die Ziele waren anfangs ehrgeizig: Die europäische Vergleichbarkeit von Studiengängen und Studienleistungen sollte gefördert, Mobilitätshindernisse für ein Auslandsstudium sollten beseitigt, die Studiengänge auf ein einheitliches Konsekutivmodell (Bachelor, Master) umgestellt und das Bewertungssystem für studentische Leistungen (Credit Points) vereinheitlicht werden. Ungeachtet dessen, dass mittlerweile fast alle traditionell einphasigen deutschen Studiengänge (Diplom, Magister, Staatsexamen) auf das BA-/MA-Modell (außer Medizin und Jura) umgestellt sind, der Bologna-Prozess also verwaltungstechnokratisch voranschreitet, hat dieser von Anfang an hierzulande überwiegend Negativschlagzeilen, Unlustgefühle und Proteste produziert. Vorläufiger Höhepunkt war der Bildungsstreik 2009, anlässlich dessen an einem einzigen Tag bundesweit über 200.000 Studierende auf die Straße gingen, um gegen die faktische Nicht-Studierbarkeit der neuen Studienkonstruktionen zu protestieren. Zeitgleich zum 25. Jahrestag kam die Kritik auch von höchstoffizieller Seite: Der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, erklärte mit seiner gleichzeitigen Autorität als Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in mehreren Reden und Artikeln den Bologna-Prozess für „gescheitert“.

Negativschlagzeilen, Unlustgefühle und Proteste

Immer wieder wurden dieselben Kritikpunkte genannt: Der Bologna-Prozess habe eine Überreglementierung und Verschulung des Studiums gefördert, würde dieses als „permanente Prüfung“ strukturieren und somit ein unproduktives Lernen für das Kurzzeitgedächtnis im Hinblick auf die nächste Prüfung (Bulimie-Lernen) – und damit ein ebenso schnelles Vergessen – fördern anstatt den Erwerb einer selbstständigen wissenschaftlichen Urteilsfähigkeit im Sinne der bisherigen Bildungstradition („Bildung durch Wissenschaft“). Und die Plätze für die zweite Studienphase (MA) würden im Verhältnis zur ersten künstlich knapp gehalten und mit Zulassungsbeschränkungen bewehrt werden. Geht man davon aus, dass ein Masterabschluss in etwa dem traditionellen deutschen Diplom entspricht, läuft dies auf eine administrative Absenkung des durchschnittlichen studentischen Qualifikationsniveaus hinaus.

Auffällig ist dabei, dass so gut wie nie die Frage nach den Ursachen dieses permanenten Scheiterns gestellt wird. Machen die Verantwortlichen an den einzelnen Hochschulstandorten einfach nur Fehler? Als die Politik durch den Druck des Bildungsstreiks 2009 zum Reagieren gezwungen war, tauchte in den Pressemeldungen von HRK und Bundesbildungsministerium auffällig oft die – offenbar abgestimmte – Formulierung auf, in der Umsetzung von Bologna seien „handwerkliche Fehler“ gemacht worden. So sollte die Verursachung der „Fehler“ auf eine personale und lokale Dimension abgeschoben werden. Die Frage nach der Verantwortung der „großen“ bildungspolitischen Ebene wird jedoch bis heute ebenso ausgeklammert wie die nach den Strukturen des Hochschulsystems, die möglicherweise solche Fehlentscheidungen begünstigen. Entpolitisierung nennt man das.

Also stellen wir die Frage einmal anders: Hängt das ständige Verfehlen einer Studienreform möglicherweise mit der aktuellen Aufstellung der Hochschulen insgesamt zusammen, etwa mit dem neuen Leitbild der „unternehmerischen Hochschule“, das seit Ende der 90er Jahre schrittweise in den Landeshochschulgesetzen durchgesetzt wurde? Das neue Leitbild hat zunächst Managementstrukturen an der Spitze der Hochschule gestärkt und die akademische Selbstverwaltung drastisch geschwächt. Vor allem hat es mit diesen Strukturen zu einer Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den Hochschulen, vor allem um die Einwerbung zusätzlicher Finanzen, beigetragen. Die Frage lautet also: Wie wird in dieser Wettbewerbsorientierung ein qualitativ hochwertiges Studium und eine gelungene Studienreform bewertet? Die Antwort: überhaupt nicht! Der Wettbewerb zwischen den „unternehmerischen Hochschulen“ wird vorrangig auf dem Feld der sogenannten Spitzenforschung ausgetragen. Es zählen Zuwächse bei den Drittmitteln oder Erfolge in Forschungssonderprogrammen wie der Exzellenzinitiative. Die Qualität des Studiums – die Studienbedingungen insgesamt – sind dabei völlig außerhalb der Betrachtung. Das Ganze spielt sich ab vor dem Hintergrund, dass die Grundfinanzierung für die gesetzlichen Aufgaben der Hochschulen, einschließlich des Studiums, seit mehr als zwei Jahrzehnten eingefroren ist. Natürlich hat es nominelle finanzielle Zuwächse gegeben, aber nicht im Verhältnis zur gesellschaftlichen Beanspruchung der Hochschulen, etwa zur Nachfrage nach Studienplätzen. Das spiegelt sich in der permanenten Verschlechterung der Betreuungsrelation von Studierenden im Verhältnis zum wissenschaftlichen Personal wider.

Das Leitbild der „unternehmerischen Hochschule“

Stagnation hier, erhebliches Wachstum über Wettbewerbe dort. In den zurückliegenden zehn Jahren haben sich Drittmitteleinnahmen um 100 Prozent (auf 6,3 Mrd. Euro) gesteigert. Das Gros dieser Mittel konzentriert sich allerdings an ganz wenigen Spitzenuniversitäten. Die strukturellen Folgen dieser Disproportion: In Studium und Lehre muss ständig gespart werden; gleichzeitig sind die Hochschulen mangels anderer Finanzierungsmöglichkeiten gezwungen, sich an diesen Wettbewerben zu beteiligen, um ihre chronische Unterfinanzierung immerhin ein wenig zu kompensieren. Erfolge im Wettbewerb tangieren folglich die Studienbedingungen überhaupt nicht oder – das kommt verschlimmernd hinzu – negativ.

Wie das? Der ständige Zuwachs der Drittmittel begann etwa Mitte der 80er Jahre. Seitdem weisen Kritiker dieser Entwicklung immer wieder darauf hin, dass Drittmittel auch eine indirekte (und problematische) Verteilungswirkung auf die Grundfinanzierung der Hochschulen haben. Drittmittel wirbt etwa nur ein Fachbereich ein, der über eine attraktive Mindestausstattung an Infrastruktur verfügt. Diese Mindestbedingungen müssen häufig durch die jeweilige Hochschulleitung, deren Aufgabe es ist, „Forschungsprofile“ zwecks Einwerbung zusätzlicher Finanzen zu schaffen, erst hergestellt werden. In der Regel kann diese dabei nicht auf zusätzliche Finanzen des Landes zurückgreifen. So bleibt nur der Weg der Umverteilung aus anderen Haushaltspositionen der jeweiligen Hochschule. Eine Möglichkeit ist die Einsparung von Mitteln für Lehre und Studium. Das muss man nicht einmal als subjektive böse Absicht unterstellen, dennoch wird eine Art objektives Interesse an einer Verbilligung des Studiums gefördert: durch eine administrative Verkürzung der Durchschnittsstudienzeit, eine Verknappung der Masterstudienplätze oder Einsparungen beim Lehrpersonal (Stellenstreichungen, Neubesetzungssperren, Vergabe befristeter Lehraufträge). Wenn man aber nun immer mehr Studierende mit immer weniger Personal dirigieren muss, begünstigt dies den Ausbau von Kontrollmechanismen, kurz: die Überreglementierung, Verdichtung und Verschulung des Studiums.

Vor dem Hintergrund solcher durch Unterfinanzierung geschaffener „Sachzwänge“ werden viele Ungereimtheiten des Bologna-Prozesses deutlicher. Die deutschen hochschulpolitisch Verantwortlichen haben etwa nie klar begründet, an welchem der unterschiedlichen internationalen Modelle des zweiphasigen Studiums sie sich eigentlich orientieren. In den skandinavischen Ländern entscheiden die Absolventinnen und Absolventen der ersten BA-Phase selbst, ob und wann sie ein Masterstudium aufnehmen. Wenn sie es wollen, bekommen sie auch einen Studienplatz. Im angelsächsischen Bereich hingegen sollen strenge Auswahlverfahren den Übergang zum Master als Elitenselektion zugunsten einer Minderheit organisieren. In Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zu Bologna aus dem Jahre 2003 wurde dann plötzlich und unvermittelt – d. h. ohne jegliche Begründung – der Bachelor als „Regelabschluss an deutschen Hochschulen“ definiert, ergo der Master als die Ausnahme. Für die BA-Phase legte die KMK eine Bandbreite von 6 bis 8 Semestern fest, definierte aber gleichzeitig eine Höchstgrenze beider Studienabschnitte von 10 Semestern. Da es aber kaum zweisemestrige grundständige Masterstudiengänge gibt, führte dies dazu, dass nahezu ausschließlich auf 6 Semester angelegte BA-Studiengänge angeboten wurden. Auch so verkürzt man völlig planlos die Studienzeit.

Die Ergebnisse sind bekannt: Eine bildungspolitisch und gesellschaftlich ausgewiesene qualitative Studienreform, um die sich einzelne Akteure vor Ort durchaus redlich bemühten, wurde immer wieder vom bildungsökonomischen Motiv konterkariert, den Bologna-Prozess vor allem für Einsparungen zu nutzen. Dass die so zustande gekommenen Studienkonstruktionen in ihrer gesellschaftlichen und wissenschaftsdidaktischen Relevanz kaum ausgewiesen waren, muss nicht eigens begründet werden. Das ist die Folge einer Verselbständigung betriebswirtschaftlichen Denkens.

Deutlich ist somit, dass eine bessere „handwerkliche“ Gestaltung der neuen Studiengänge kaum etwas bewirkt, solange sich an den geschilderten Rahmenbedingungen nichts ändert. Künstliche und willkürliche Studienzeitbegrenzungen gehören abgeschafft. Die Grundfinanzierung der Hochschulen muss orientiert an der Zahl der Studierenden deutlich erhöht werden. Schließlich müssen die gesetzlichen Aufgaben von Studium und Lehre in der akademischen Selbstverwaltung deutlich gestärkt werden, etwa durch einen Ausbau der Mitbestimmung von Studierenden und wissenschaftlichem Mittelbau. Das alles sind Schritte zur Überwindung der „unternehmerischen Hochschule“.

Torsten Bultmann

Torsten Bultmann ist politischer Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi).


Torsten Bultmann zum 60. Geburtstag

Als Festschrift zum 60. Geburtstag von Torsten Bultmann, dem Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), erschien im Juli 2014 der Sammelband „Die unternehmerische Hochschule - Zwischen Bildungsanspruch und Standortsicherung“ (254 Seiten). Der Band widmet sich der Analyse der aktuellen Situation an den Hochschulen. Ausgangspunkt ist der Begriff der „standortgerechten Dienstleistungshochschule“, mit dem Bultmann den Hochschulumbau charakterisierte. Auch der Widerstand gegen die Umgestaltung der Hochschulen ist Thema des Buchs.

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