Die „doppelte Krise“

Zur Situation des Mittelbaus an der Justus-Liebig-Universität

HLZ 11/2020: Digitale Hochschule

 

Als die Beschäftigten der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) am 9. Dezember 2019 ihre Arbeit beginnen, scheint noch alles halbwegs normal. Klar, die Mailprogramme funktionieren nicht und auch die Website ist nicht erreichbar, aber temporäre Ausfälle können in einem so umfassenden Netz wie dem einer großen Universität vorkommen. Doch langsam beginnt sich Unsicherheit breitzumachen, als die JLU durch die Sozialen Medien unter dem Hashtag #JLUoffline über einen „schweren IT-Sicherheitsvorfall“ informiert: Wie kann ich Kontakt mit Kolleg*innen, Studierenden oder Kommiliton*innen aufnehmen? Sind meine Forschungs- und Studiendaten, die eigene jahrelange Arbeit, sicher?

Dezember 2019: JLU ist offline!

In einem Videostatement ruft JLU-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee schließlich am 13. Dezember den „digitalen Notstand“ aus: Keine digitalen Kommunikationsmöglichkeiten, keine digitalen Lehr- und Lerninhalte, Ungewissheit, ob alle Forschungs- und Studiendaten gerettet werden können - die JLU wurde Opfer eines Cyberangriffs. Kurz vor Weihnachten wird die E-Mail-Kommunikation rudimentär wiederhergestellt, Anfang Januar 2020 folgen die Lernplattformen. Bis alle Netzlaufwerke und mit ihnen alle Forschungs- und Studiendaten wieder erreichbar sind, dauert es mehrere Monate.

Letztlich sind infolge des Cyberangriffs alle Arbeitsbereiche an der JLU mit einer erheblich erhöhten Arbeitsbelastung bis zur Kapazitätsgrenze konfrontiert. Dabei sind es vor allem die Beschäftigten im Mittelbau als Lehrende und Betreuende, die den von der Universitätsleitung ausgerufenen „Gießen Spirit“ umsetzen und neben den Kolleg*innen des Hochschulrechenzentrums dafür sorgen, dass den Studierenden und der Universität möglichst wenig Nachteile aus der Ausnahmesituation entstehen. Dieser immense zeitliche Mehraufwand ist mit individueller Qualifikations- und Forschungstätigkeit nicht vereinbar - diese tritt entsprechend in den Hintergrund.

März 2020: Alles muss online!

Nur wenige Wochen, nachdem eine vermeintliche Normalität in den Universitätsalltag an der JLU einkehrt, erfordert die Corona-Pandemie erneut eine völlige Umstellung der Lehrtätigkeit und Arbeitsorganisation: Von „Alles ist offline!“ hin zu „Alles muss online!“. Da zunächst unklar ist, wie lange die pandemiebedingten Einschränkungen und damit der „Basisbetrieb“ andauern werden, muss Anfang April ein Lehrprogramm zusammengestellt werden, welches sowohl digital als auch als ein eventuell später beginnendes Präsenzangebot umgesetzt werden kann. Dies bringt die Lehrenden, denen nicht nur das Know-How, sondern teils auch die technischen Voraussetzungen fehlen, an ihre Belastungsgrenze: Als primäre Ansprechpersonen für Studierende, für die die Unsicherheiten der zweiten Krise ebenso belastend sind, erhöht sich der Betreuungsaufwand trotz vorlesungsfreier Zeit enorm. Dieser immense zeitliche Mehraufwand ist mit individueller Qualifikations- und Forschungstätigkeit nicht vereinbar; sie tritt erneut in den Hintergrund.

Mit Corona erhöht sich jedoch nicht nur die rein zeitliche Belastung. Forschungstätigkeiten sind auch deswegen massiv eingeschränkt, weil die notwendigen Kontaktbeschränkungen die Weiterführung laufender Forschungsvorhaben häufig beschneiden; Tagungen und Reisen, Hauptförderer des wissenschaftlichen Austauschs, finden wenn überhaupt nur eingeschränkt statt; Bibliotheken sind teils nur mit erheblichen Einschränkungen benutzbar.

So wie Corona als Brennglas die bisher bestehenden gesamtgesellschaftlichen Probleme und Ungleichheiten sichtbar macht, so zeigt auch die „doppelte Krise“ an der JLU die schwierige Position des Mittelbaus im akademischen Betrieb deutlich auf. Als Beschäftigte der Universität sind wir gefordert, akademische Lehre und Forschung zur eigenen Qualifizierung zu verbinden. Die gängige Befristungspraxis und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) mit einer Höchstdauer von fünf (sechs) Jahren zur eigenen Qualifikation sorgen dabei für zeitlichen Druck. Da der Großteil der akademischen Lehre vom Mittelbau und externen Lehrbeauftragten getragen wird, sind wir die Ansprechpersonen für Studierende und setzen die Studierendenorientierung der Universität um, oft auf Kosten unserer eigenen Qualifikationszeit. Zusätzliche Krisen wie #JLUoffline oder Corona können im Rahmen des WissZeitVG nicht kompensiert werden. Die mittlerweile mögliche Verlängerung um sechs Monate nach Einzelfallprüfung ändert hieran wenig. Das WissZeitVG, zumindest in seiner jetzigen Form, muss reformiert, wenn nicht gar abgeschafft werden. Der Weg dahin kann für den Mittelbau nur in gegenseitiger Solidarität und Zusammenschluss bestehen.

An der JLU hat die „doppelte Krise“ zumindest eine positive Folge: Mit der Gründung der Initiative just-unbefristet Anfang diesen Jahres, der Artikulation unserer spezifischen Position an die Universitätsleitung und einem universitätsweiten digitalen Vernetzungstreffen im Sommer hat der Aufbau einer aktiven Mittelbauinitiative an der JLU krisenbefeuerte Fahrt aufgenommen.

Teresa Streiß und Vera Weingardt

Teresa Streiß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pädagogik des Jugendalters. Vera Weingardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Einstieg mit Erfolg“ an der Professur für Psychologische Diagnostik der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Beide engagieren sich in der Mittelbauinitiative just-unbefristet an der JLU und in der GEW für mehr unbefristete Beschäftigung.

Umfrage: Arbeitsbedingungen an Hochschulen

Die Mittelbauinitiative Darmstadt Unbefristet führt gemeinsam mit  GEW und ver.di Hessen eine Umfrage zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeitsbedingungen an den hessischen Hochschulen durch. Beschäftigte der hessischen Hochschulen sind aufgerufen, noch bis Ende November 2020 an der Umfrage teilzunehmen:

https://www.unipark.de/uc/CoronaUmfrage/