Hochschule für alle?

Eine Bilanz der schwarz-grünen Hochschulpolitik in Hessen

HLZ 6/2018: Hochschulen in Hessen

Eine umfassende Analyse der schwarz-grünen Hochschulpolitik in den Jahren 2014 bis 2018 von Tobias Cepok und Simone Claar erscheint im August 2018 in dem Sammelband „Verlässlich gestaltet - Perspektiven eröffnet?“ zur „Bilanz und Aussicht der Landespolitik in Hessen“. Die HLZ veröffentlicht eine stark gekürzte Zusammenfassung, die insbesondere die Bedingungen für die Studierenden und die soziale Selektivität des Hochschulzugangs in den Blick nimmt. 

Zu Beginn des Wintersemesters 2017/18 waren 260.184 Studierende an den hessischen Hochschulen eingeschrieben. 36.829 nahmen ein Studium auf, mehr als jemals zuvor in Hessen. Trotz dieses Rekords verlangsamte sich der Zuwachs an Studierenden in der vergangenen Legislaturperiode, der unter anderem auf die Verkürzung der Schulzeit und die Aussetzung der Wehrpflicht zurückzuführen war. Zur zukünftigen Entwicklung der Studierendenzahlen gibt es sehr unterschiedliche Berechnungen und Einschätzungen. Die Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) für die Jahre 2014 bis 2025 basiert auf der Vorausberechnung der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die sich mehrfach als falsch erwies. So ging die KMK in ihrer bereits korrigierten Berechnung 2014 von einem Höhepunkt der Studienanfänger im Jahr 2016 von 504.000 aus, tatsächlich jedoch nahmen über 860.000 junge Menschen 2016 ein Studium auf. Andere Berechnungen wie die der GEW und des Instituts für Hochschulforschung kommen zu deutlich höheren Studierendenzahlen, stets abhängig von den politischen Rahmensetzungen.

Zahl der Studierenden bleibt hoch

Trotz der sehr unterschiedlichen Einschätzungen kann für die Studierendenzahlen in Hessen von einem anhaltenden „Hochplateau“ ausgegangen werden, zumal Hessen innerhalb Deutschlands aufgrund seiner ökonomischen und geographischen Lage auch viele Studierende aus anderen Bundesländern anzieht. So geht die GEW Hessen davon aus, dass selbst bei vorübergehend niedrigeren Abiturientenzahlen langfristig rund 250.000 junge Menschen ein Studium in Hessen beginnen werden. 2016 nahmen rund 56,7 % eines Jahrganges in Deutschland ein Studium auf. Damit ist die Schaffung zusätzlicher Studienplätze die zentrale hochschulpolitische Herausforderung der nächsten Jahre.

Große Teile der Landesregierung, Hochschulleitungen, Gewerkschaften und Studierendenvertretungen sind sich überraschend einig, dass es nicht darum gehen kann, einen vermeintlichen „Akademisierungswahn“ zu bekämpfen, sondern die Gestaltung der Bildungsexpansion als Aufgabe der Politik anzunehmen. Allerdings hat die schwarz-grüne Landesregierung die bisherige Praxis der Beschränkung des Hochschulzugangs durch Numerus clausus und hochschuleigene Auswahlverfahren beibehalten. So sind nach wie vor alle Lehramtsstudiengänge in Hessen aufnahmebeschränkt und viele junge Menschen können ihrem Studierwunsch nicht nachkommen. Aufgrund der geringen Zahl der Absolventinnen und Absolventen ist der Lehrkräftemangel in Grundschulen auch durch die Politik mit verschuldet. Je nach Zulassungskriterien kann der Zugang zum Master nach dem Bachelorabschluss erschwert werden.

Um allen jungen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ein Studium zu ermöglichen, ist günstiger Wohnraum in relativer Hochschulnähe ein wichtiger Faktor. Nach der Wohnraumstatistik des Deutschen Studentenwerkes stieg die Zahl der Wohnheimplätze in Hessen zwischen 2014 und 2017 von 14.960 auf lediglich 15.752 (2). Es sind zwar aktuell knapp 700 Wohnheimplätze im Bau, jedoch decken diese nicht den notwendigen Bedarf ab. Die Wohnraumversorgungsquote betrug 2016/17 6,29 %, im Jahr 2014 lag sie noch bei 7,32 %. Der Bedarf liegt nach Angaben der hessischen Studierendenwerke bei rund 4.000 zusätzlichen Plätzen. In allen hessischen Universitätsstädten, insbesondere in Frankfurt, haben sich die Mietpreise deutlich erhöht und tragen ihren Teil zur sozialen Auslese an hessischen Hochschulen bei. Die soziale Infrastruktur, die für die Aufnahme eines Studiums notwendig ist, wurde von der derzeitigen Landesregierung nur zaghaft angegangen und muss deutlich intensiviert werden, damit ein Studium bezahlbar bleibt.

Öffnung der Hochschulen

In zwei kleinen Bereichen ging das Land Hessen neue Wege, die bundesweit beispielhaft für Bemühungen um die Öffnung der Hochschulen sind. Mit der Änderung des Hessischen Hochschulgesetzes (HHG) im Jahr 2017 wurde der Zugang für beruflich Qualifizierte über die von der KMK beschlossenen bundesweiten Standards hinaus geöffnet. Nun können auch Berufstätige mit einem mittleren Schulabschluss, guter Berufsausbildung (Abschluss besser als 2,5) und mindestens dreijähriger Berufserfahrung ein Studium aufnehmen – zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Doch die bisher geringe Nachfrage verweist auf Probleme bei der Einführung: Die Möglichkeit ist neu, noch relativ unbekannt und neben der notwendigen Überzeugungsarbeit sind die Rahmenbedingungen für Berufstätige das zentrale Hindernis. Abschreckend sind auch fehlende Teilzeitmodelle, die eine Berufstätigkeit neben dem Studium ermöglichen, und die Zeit der finanziellen Unsicherheit während des Studiums. 

Bundesweit einmalig ist auch das eigenständige Promotionsrecht für forschungsstarke Bereiche an den ehemaligen Fachhochschulen, nun Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW). Es eröffnet neue Möglichkeiten für Promotionen, aber auch intensivere Kooperationen zwischen den Universitäten und den HAW. Die Hürden für ein eigenständiges Promotionsrecht sind hoch. So müssen zwölf beteiligte Professuren mit jeweils 300.000 Euro an Drittmitteln sowie zahlreiche Peer-Review-Artikel nachgewiesen waren. Neben den vom Wissenschaftsministerium festgelegten Kriterien für die Forschungsstärke des Fachbereichs, die selbst einige Fachbereiche an Universitäten nicht erfüllen, liegt die eigentliche Herausforderung in der Schaffung guter Promotions- und Arbeitsbedingungen für Promovierende und betreuende Professuren. Das reicht von der Finanzierung der Promotion bis zu Labor- und Arbeitsplätzen. Insbesondere im Bereich der Sozialen Arbeit der HAWs ist es schwierig, überhaupt eine Betreuerin oder einen Betreuer für die Arbeit zu finden. Die Kooperationsvereinbarungen mit Fachbereichen benachbarter Universitäten lösen dieses praktische Problem bisher nicht. 

Mit der Verleihung des eigenständigen Promotionsrechtes wird der Weg zur Dissertation auch sozial geöffnet. Deutlich mehr junge Menschen aus „Arbeiterfamilien“ nehmen ein Studium an einer Fachhochschule auf und können über diesen Weg an wissenschaftlicher Forschung partizipieren. Dass die Verleihung des Promotionsrechts von vielen Universitätspräsidenten und dem Deutschen Hochschulverband kritisch gesehen wird, zeugt mehr vom konservativen Standesdenken der Universitäten als von Argumenten.

Ziele des Bologna-Prozesses nicht erreicht

Der Bologna-Prozess kann in Hessen in großen Teilen als abgeschlossen gelten. Die Anzahl der Studiengänge hat sich massiv erhöht, die Studienvielfalt hat sich unter Schwarz-Grün weiter ausdifferenziert, wenn auch langsamer als im letzten Jahrzehnt. Die Landesregierung hat bei der Novellierung des HHG die Kompetenzen der externen Akkreditierungsagenturen nicht angetastet, und daher bleibt der Gestaltungsspielraum der Hochschulakteure vor Ort gering. Die Grundausrichtung auf mehr Leistungs- und Prüfungsdruck ist  unverändert ein zentrales Merkmal der Studienreform. 

Zentrale Ziele des Bologna-Prozesses wie die Verkürzung der Studienzeit, die Reduzierung der Abbruchquoten, die Steigerung der internationalen Mobilität und eine stärkere Praxisorientierung wurden nicht erreicht. Nach einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung aus dem Jahr 2014 liegt die bundesweite Abbruchquote bei rund 29 % mit starken studiengangspezifischen Unterschieden und einer deutlichen Benachteiligung von Studierenden mit Migrationshintergrund mit einer Abbruchquote von 43 % (3). In den „alten“ Studiengängen Magister/Diplom lag die Abbruchquote zwischen 17 und maximal 29 % (4). Dieser bundesweiten Entwicklung hat die schwarz-grüne Landesregierung kaum etwas entgegensetzt. 

Mit der Novellierung des HHG hat die schwarz-grüne Mehrheit im Landtag auf Vorschlag der Hochschulrektorenkonferenz den Hochschulen die Möglichkeit gegeben, ein Orientierungsstudium anzubieten und Studienbewerberinnen und -bewerber zur Teilnahme an Online-Selfassessments zu verpflichten. Ob sie tatsächlich zu einer besseren Studienorientierung beitragen, ist noch unklar. Sollten sie überhaupt einen nachweisbaren Effekt haben, ist anzunehmen, dass Assessments in jeglicher Form eher eine weitere soziale Hürde bei der Aufnahme eines Studiums bilden als tatsächlich Studienorientierung zu bieten (5).

Auch bei der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern stand die Auslese der Studierenden anstelle einer sinnvollen Arbeitsweltorientierung im Fokus der schwarz-grünen Landesregierung. Mit der Erprobung des Praxissemesters für einzelne Lehramtsstudiengänge setzte sie zwar einen Beschluss der Vorgängerregierung um, betrachtete das Vorhaben aber auch dezidiert als ihr Projekt. Schon nach dem zweiten Semester ist ein viermonatiger Einsatz in der Schule vorgesehen, der die bisherigen zwei aufeinanderfolgenden Praxisphasen ersetzt. Eine Novellierung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes und damit eine Entscheidung, ob die Erprobungsphase erfolgreich war, wurde auf die nächste Legislaturperiode verschoben. Die GEW Hessen hält an ihrer Kritik insbesondere an der „frühen Situierung des Praxissemesters im Studienverlauf“ fest.

Betreuungsrelationen haben sich verschlechtert

Neben der starken Verschulung des Studiums haben sich die Betreuungsrelationen zwischen Studierenden und Lehrenden unter Schwarz-Grün weiter verschlechtert und liegen deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt. Die Kapazitätsgrenzen der Seminare und Vorlesungen werden in vielen Fällen überschritten, so dass die Lehr- und Studienqualität leidet. Insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind mit Regelgrößen von 60 Studierenden pro Seminar die Grenzen des pädagogisch Sinnvollen längst überschritten. Die Ausgaben des Landes Hessen je Studierenden liegen für die HAW auf dem Bundesdurchschnitt, für die Universitäten sogar darunter. Dies hat ebenso negative Folgen für die Arbeitsbedingungen der Lehrenden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lehrverpflichtung in Hessen, insbesondere für Professuren und Lehrkräfte für besondere Aufgaben an HAW zu hoch ist. 

Tobias Cepok und Simone Claar


Tobias Cepok ist Referent für Hochschule und Jugendbildung der GEW Hessen. Dr. Simone Claar ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel und Mitglied im Referat Hochschule und Forschung der GEW. Sie forscht zur Energiewende in Afrika.

(1) Liv Dizinger, Kai Eicker-Wolf und Michael Rudolph: Verlässlich gestaltet - Perspektiven eröffnet? Bilanz und Aussicht der Landespolitik in Hessen. Büchner Verlag Darmstadt. August 2018, 25 Euro.
(2) Wohnraum für Studierende. Statistische Übersicht 2017 des Deutschen Studentenwerkes. Berlin 2017 
(3) Ulrich Heublein u.a.: Zwischen Studienerwartung und Studienwirklichkeit. In: Forum Hochschule, DZHW, 1/2017, Hannover
(4) Ulrich Heublein: Ursachen des Studienabbruchs. In: Forum Hochschule, HIS, 2/2010, Hannover.
(5) Annette Höpfner: Self-Assessment als Studienberatung und Bewerbervorselektion. In: Helfried Moosbrugger u.a. (Hrsg.): Arbeiten aus dem Institut für Psychologie, Heft 2/2005, S. 235-246.