Im Gespräch: Digitale Hochschulen

mit Prof. Dr. Holger Horz und Prof. Dr. Ursula Birsl

HLZ 11/2020: Digitale Hochschule

Die Digitalisierung an Hochschulen und Schulen führt auch in der GEW zu kontroversen Diskussionen und Einschätzungen. Die Fragen der HLZ zur digitalen Lehre während Corona und zu den langfristigen Folgen beantworteten Prof. Dr. Holger Horz, Professor für Psychologie und Leiter der Akademie für Lehrerbildung und Bildungsforschung, und Prof. Dr. Ursula Birsl, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Die Fragen stellte Tobias Cepok.

Herr Horz, welche Vorteile sehen Sie in der aktuell digital stattfindenden Lehre?

Holger Horz: Der wesentliche Vorteil besteht aus meiner Sicht in der Möglichkeit zu einer differenzierteren und breiteren Auseinandersetzung mit den bildungsrelevanten Inhalten und Lernprozessen. Bemerkenswert ist, dass die Gestaltung der Digitalisierung nun so an Wichtigkeit gewonnen hat. Seit 20 Jahren arbeite ich zu diesem Thema und es fand trotz seiner langfristigen Bedeutung eher begrenzten Anklang. Die Corona-Katastrophe zwingt uns nun zu drastischen Veränderungen und wir sollten sie nutzen, um praktische Erfahrungen zu sammeln, beste Wege zu finden und Möglichkeiten zu entwickeln, wie wir Präsenzlehre im Sinne des Blended Learning didaktisch gewinnbringend für alle mit digitalisierten Formen des Lernen verknüpfen können. Für die Hochschulen, aber auch die Schulen, sehe ich aus wissenschaftlicher Perspektive drei zentrale Stärken des digitalen Lernens: Erstens können wir Adaptivitätspotenziale erschließen, also zusätzliche Möglichkeiten für den individualisierten Unterricht, indem Studierende ihr Lernen selbst stärker steuern, in individueller Geschwindigkeit und Zeit. Auch differenziertere, kompetenzorientierte Prüfungen werden möglich. Zweitens gewinnt die Organisation: Wir können Schulen und Hochschulen effizienter organisieren, flexiblere Unterrichtszeiten festlegen und die Raumverwaltung optimieren. Drittens erzwingt eine gute Digitalisierung Kooperation und Austausch zwischen den Lehrenden. Nicht jeder muss alles neu erfinden. Insgesamt kann die Digitalkompetenz aller an Bildung Beteiligten steigen, ebenfalls können Studierende eigenständig und kritisch die Evidenzbasiertheit und Glaubwürdigkeit von Wissen besser überprüfen. Aber wir müssen aufpassen, dass die Reflexions- und Diskursfähigkeit nicht auf der Strecke bleibt. Aktuell lernen wir insbesondere durch digitale Angebote sehr schnell, was Unsicherheit im Wissenskanon bedeutet: Das möchte ich als Chance verstehen, auch wenn manche eher Risiken sehen.

Frau Birsl, worin sehen Sie Nachteile der gegenwärtigen Lehre ohne Präsenz?

Ursula Birsl: Lassen Sie mich zuerst mit einem Vorteil beginnen. Die Erfahrungen, auch im Austausch mit den Studierenden, des vergangenen Semesters haben tatsächlich gezeigt, dass die Aufzeichnung von Vorlesungen für die Studierenden den Vorteil haben kann, dass sie sie immer wieder stoppen oder auch zurückspulen können, wenn die Aufmerksamkeitsspanne abnimmt oder etwas nicht sofort verständlich war. Aber selbst hierbei stößt die Digitalisierung bereits an ihre Grenzen, weil Nachfragen nicht sofort geklärt werden können. Und es gibt Vorlesungsformate, wie beispielsweise in der Mathematik, bei denen Formeln gemeinsam an der Tafel entwickelt werden. Es bedarf selbst in solchen frontalen Formaten wie einer Vorlesung eines Austausches und unmittelbarer Rückkoppelung mit den Studierenden. Es macht einfach einen Unterschied, wenn ich an der Mimik und Gestik der Studierenden sehe, ob etwas verstanden wurde oder ich über ihre Köpfe hinweg rede. Digitale Formate brauchen immer auch ergänzende Präsenzveranstaltungen. Besonders schwierig sind mündliche Prüfungen in einer Videoschalte. In Seminaren per Videokonferenz kommen selten kontroverse Diskussionen auf, von denen gerade auch Wissenschaft lebt. Bei größeren Seminaren muss ohne Kamera gearbeitet werden, damit die Leitung nicht zusammenbricht. Wir sehen uns also nicht, wenn wir sprechen. Das Digitale kann nie die unmittelbare Begegnung, das Face-to-Face und den direkten persönlichen Austausch ersetzen. Die digital gestützte Lehre hat also auch eine Kehrseite. Wir haben versucht, Veranstaltungen relativ „präsenzartig“ zu simulieren und sind dabei schnell an die Grenzen gestoßen. Die Studierenden haben vor allem die soziale Interaktion und die direkten Kontakte untereinander vermisst.

Darf ich noch zwei weitere Nachteile nennen? Erstens hat sich gezeigt, dass nicht alle Studierenden materiell so ausgestattet sind, dass sie mit entsprechenden Endgeräten teilnehmen können und teilweise auch in Regionen leben, auch hier in Marburg und Umgebung, in denen der Internetzugang nicht ausreicht. Wir haben Fälle, in denen Studierende nur auf öffentlichen Plätzen über freies W-LAN Veranstaltungen folgen können. Auch war die Infrastruktur der Universität während des Lockdowns nicht als Alternative zugänglich. Zweitens verändert - zu Ende gedacht – die Digitalisierung der Lehre die Kultur der Universität und des (Hochschul-)Politischen. Wenn Studierende nicht mehr direkt in Kontakt treten, wie sollen sich Fachschaften bilden und Interessenvertretungen initiiert werden? Wie sollen politische Hochschulgruppen Mitglieder finden? Wie können Studierende aktive Mitglieder einer Zivilgesellschaft werden, wenn die Hochschule als Ort der Begegnung entfällt? Studium ist nicht nur Lernen und Reflexion, sondern auch eine Bildungserfahrung und ein neuer Lebensabschnitt.

Herr Horz, wohin wird sich die digitale Lehre aus Ihrer Sicht noch entwickeln?

Holger Horz: Sicher ist, dass wir nie wieder ganz zum Unterrichten in der Zeit vor Corona zurückkehren werden. Frühere Lernformen werden nicht in Gänze ersetzt werden und ich sehe auch nicht die Gefahr, dass die Hochschule als Ort der Bildung entfallen wird. Aber der digital unterstützte Unterricht wird breiter und modularer. Die Geschwindigkeit unserer Interaktionen wird noch weiter zunehmen. Dabei treibt mich die Sorge vor der Vergrößerung des Digital Gap um: Soziale Ungleichheiten vertiefen sich sowohl innerhalb unserer Gesellschaft als auch zwischen Gesellschaften im internationalen Rahmen. Der Zugang zum Digitalen und die Teilnahme an dieser Entwicklung vergrößern die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd.

Was müsste die Politik tun, um die Entwicklung in Ihrem Sinne zu unterstützen?

Holger Horz: Die Landespolitik beginnt nur sehr langsam, alle Bildungsteilnehmer*innen als Akteure wahr- und ernst zu nehmen. Die Politik sollte weniger auf die „Bedenkenträger“ hören, sondern rational überlegen, was über alle Phasen hinweg nützlich ist und dies dann umsetzen. Keiner wird die Entwicklung zurückdrehen. Wir müssen dabei Anforderungen an Lehrende formulieren, aber Lehre muss sich auch lohnen und der Quereinstieg in Schule und Hochschule muss attraktiver werden. Zeit und Möglichkeiten sich weiterzubilden, dürfen keine Lippenbekenntnisse mehr sein. Dafür bedarf es gesetzlicher Rahmenbedingungen, einen Willen aller Akteure, aber auch jeder Menge Geld. Digitale Kompetenzzentren sind schön und gut, aber das Land muss ernsthaft Geld in die Hand nehmen. Zehn bis 15 Prozent der Haushalte des Kultus- und des Wissenschaftsministeriums sollten für den digitalen Wandel in der Bildung eingesetzt werden und zwar von vorschulischen Einrichtungen bis zu den Universitäten. Ich nenne nur als Stichwort Dänemark. Dort sollten wir hinschauen. Über eine Dekade hinweg wurde in allen Bildungsbereichen in Hardware und die Fähigkeiten des Personals investiert und die Digitalisierung positiv gestaltet.

Frau Birsl, was kann die Politik tun, um weitere negative Folgen der Pandemie abzufedern?

Ursula Birsl: In Hessen hatten wir keine so einschränkende Hochschulpolitik wie in manchen anderen Bundesländern. Zumindest die akademische Selbstverwaltung konnte in Hybridform fortgeführt werden, und die Hochschulen hatten gewisse Gestaltungsspielräume. Vor dem Hintergrund des Verlaufs der Pandemie würde ich es als zu weitgehend empfinden, wenn man den Hochschulen nun gänzlich die Rückkehr zur Präsenz ermöglicht, daher ist das ständige Prüfen und die behutsame, aber schrittweise Rückkehr zur Präsenzlehre der richtige Schritt. Doch dort, wo Präsenz mit Hygienekonzepten möglich sein kann, muss diese in sehr verantwortungsvoller Weise angegangen und von den Lehrenden getragen werden. Hier bräuchten wir von Seiten des Landes finanzielle Unterstützung, um ausreichend personelle und infrastrukturelle Ressourcen einzusetzen, die Räume besser präparieren und den Zugang zu Lehrveranstaltungen besser organisieren zu können. Bislang finde ich die finanzielle Unterstützung von Studierenden etwa im Rahmen des BAföG vollkommen unzureichend. Es ist in Teilen der Politik einfach noch nicht angekommen, dass die soziale Frage der Digitalisierung in der universitären Bildung und Ausbildung durchschlägt.

Tobias Cepok: Vielen Dank für das Gespräch.

Fotos: Holger Horz (Foto von Uwe Dettmar) | Ursula Birsl (Foto von Wolfgang Koch)