Pädagogik und Arbeiterklasse

Studierende der TU Darmstadt demonstrieren für kritische Wissenschaft

Die Kommerzialisierung von Bildung betrifft längst nicht nur die TU Darmstadt. Schon 2015 war im Heft 1 der Zeitschrift „Kritische Pädagogik – Eingriffe und Perspektiven“ von der „Neutralisierung der Pädagogik“ zu lesen, die nicht erst seit gestern und auch nicht nur an unserem Darmstädter Pädagogik-Institut vorangetrieben wird (1). Neutralisierung bedeutet unter anderem, dass Spannungen und Konflikte nicht mehr thematisiert werden und die Pädagogik ihrer Wirksamkeit beraubt wird. Grundbegriffe, die nicht mehr dem „Zeitgeist“ entsprechen, werden preisgegeben. Dabei sind genau diese Begriffe wie Materialismus, Proletariat, Autonomie, Mündigkeit, Freiheit und Befreiung, Imperialismus und Kapital unsere Taschenlampen, um überhaupt eine klare Vorstellung der objektiven Verhältnisse und unserer subjektiven Ziele zu erhalten:

„Die verschiedenen Varianten einer kritischen Erziehungswissenschaft haben dieser Entwicklungstendenz mit den Weg geebnet, indem sie ihr eigenes Forschungsdesign von den gesellschaftlichen Grundkonflikten auf die Felder der Kultur und ästhetischen Erziehung verschoben und das Erkennen gesellschaftlicher Kräfte, Interessen und Auseinandersetzungen eintrübten.“ (2)

Dies ist vor allem das Resultat einer „feindlichen Übernahme“, der „Fremdverfügung der Großkonzerne“ über die Wissenschaft der Pädagogik (3):
„Es gibt in der bürgerlichen Gesellschaft nur einen Wert, dessen Macht alles durchdringt: der den Dingen einwohnende Tauschwert, der als Kapital die Bewegung seiner Akkumulation ist.“ (4)
Die Wissenschaft wird so zur Ware degradiert. Eine „wertfreie“ Wissenschaft gibt es nicht, vielmehr ist die Haltung der Wissenschaftler ausschlaggebend dafür, welchen Zweck und welches Ziel die Forschung hat:
„In einer Gesellschaft der Lohnsklaverei eine unparteiische Wissenschaft zu erwarten wäre eine ebenso törichte Naivität, wie etwa von den Fabrikanten Unparteilichkeit zu erwarten in der Frage, ob man nicht den Arbeitern den Lohn erhöhen sollte, indem man den Profit des Kapitals kürzt.“ (5)

Materialistische Pädagogik
Gamm fordert für die Pädagogik „Parteilichkeit als Bildungsprinzip“ (6). Sie müsse, so Koneffke, für die Arbeiterklasse Partei ergreifen, denn „eine Gesellschaft, die von der Ausbeutung der Lohnarbeitskraft lebt, ist eine Gesellschaft, die die Freiheit, die sie auf der anderen Seite allen garantiert, blockiert“ (7). Die Darmstädter Pädagogik hat jahrzehntelang über den Niedergang der Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft geforscht und nach den Ursachen und Folgen eines solchen Versagens der Pädagogik gefragt. Dabei ging sie stets von den konkreten materiellen, gesellschaftlichen und damit ökonomischen Bedingungen aus.
Sowohl für die Wissenschaft als auch für die Möglichkeit einer demokratischen Gesellschaft ist es unerlässlich, dass die Menschen zu mündigen und kritikfähigen Individuen erzogen werden. Das ist spätestens seit der Aufklärung eine Binsenweisheit. Für Gamm und Koneffke, die ihre Forschungen nach den abscheulichen Verbrechen des deutschen Faschismus aufnahmen, hieß das, herauszufinden, wie die Aufklärung so kläglich scheitern konnte. Das Studium von Marx führte zu der Erkenntnis, dass Vernunft, die sich nicht auf die konkreten materiellen Bedingungen bezieht, notwendigerweise zur Phrase verkommt und an der Wirklichkeit scheitert. Denn es „ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (8). Jegliche Theorie rechtfertigt ihre Existenz also nur durch ihre Wirksamkeit für die Praxis.

Über das Verhältnis von Vernunft und Faschismus schreibt Gamm Folgendes: „Bei der manipulierten Nichtinanspruchnahme der Vernunft handelt es sich (…) um keine neutrale Entscheidung oder um ein sonstiges beliebiges Auswahlverfahren, vielmehr wird damit der Rückfall in die Barbarei eingeleitet, die im deutschen Faschismus die bisher schlimmste Beleidigung des Menschen als Glied der Menschheit zeitigte. Wenn der Faschismus die brutalste Manifestation von Unvernunft und Aberwitz in die Zeitgeschichte eintrug, so bietet der kapitalistische Produktionsprozess die ihm korrespondierende und auslösende Szene.“ (9)

Dass der kapitalistische Produktionsprozess nicht den Regeln der Vernunft, sondern denen der Konkurrenz gehorcht, ist nach Gamm und Koneffke die Ursache des Elends. Bedient sich nämlich niemand der eigenen Vernunft, um den herrschenden Verhältnissen kollektiv etwas entgegenzusetzen, so regiert im Kapitalismus nur noch die allein übrig gebliebene Verwertungslogik des Kapitals, die vor keinem Verbrechen Halt macht, um den Maximalprofit zu sichern. Der Faschismus war für Gamm kein „eigenständiges und abgegrenztes politisches Phänomen“, sondern „ein Derivat des Kapitalismus, um bürgerliche Herrschaft zu stützen“ (10).

Waren können „mit geringeren sozialen Reibungsverlusten hergestellt werden, weil die Träger der Arbeitskraft fortan ‚gleichgeschaltet‘ sind und ihre zugestandenen Bedürfnisse sich nicht quer zu den Profitinteressen bewegen können, Lohnkämpfe füglich ausgeschlossen sind“ (11). Da sämtliche politischen Fragen von der Organisation der Produktion des materiellen Lebens ausgehen, sind progressive politische Kämpfe, die sich nicht gegen die kapitalistische Produktionsweise richten, langfristig folgenlos. So gibt man die politische Verantwortung nach den abgeschlossenen Tageskämpfen wieder an die Eigentümer der Produktionsmittel und somit an die Verwertungslogik des Kapitals ab, in der das Subjekt keine Rolle mehr spielt.

Parteilichkeit der Pädagogik
Nach diesen Überlegungen stellen wir, die Junge GEW Darmstadt, uns die Frage: Wieso ist die materialistische Pädagogik nicht in Gewerkschaften präsent? Wieso gibt es immer weniger Schulungen, in denen der grundlegende Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital erläutert wird?
Aus Kämpfen der Arbeiterklasse lernen wir: „Wissen ist Macht“. Gamm und Koneffke haben das Wissen über die Kritik der politischen Ökonomie mit Bildung in einen Zusammenhang gebracht und so den Studierenden die Theorie an die Hand gegeben, um eine wirkmächtige Praxis zu ermöglichen. So haben Studierende beispielsweise in den 70er Jahren für die Errichtung von studentischen Tutorien gestreikt. Das notwendige Verständnis von politischer Ökonomie zum Begreifen von Gamms Texten erhielten die Studierenden einerseits in den Gewerkschaften (hauptsächlich in der IG Metall), andererseits in selbstorganisierten Lesezirkeln der verschiedenen Hochschulgruppen, die es im Unterschied zu heute verstanden, sich zu organisieren. Nur durch diese ökonomischen Grundkenntnisse konnten die Studierenden die Theorie auch in die Praxis umsetzen.

Die Befreiung der Menschheit von Lohnarbeit ist die Voraussetzung für Freiheit. Diese Unterdrückung ist möglich, weil die Produktionsmittel, Betriebe und Maschinen, immer noch in privater Hand sind. Die damit einhergehende vorherrschende Konkurrenz sowohl unter den Kapitalisten als auch unter den Arbeitern steht dem Gedanken der Solidarität unvereinbar gegenüber. Solidarität ist jedoch das, was die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften sich international auf die Fahne schreiben. Es ist an der Zeit, mit diesem Anspruch ernst zu machen!

Forderungen der Jungen GEW
Deshalb fordern wir als Junge GEW Darmstadt den DGB und alle Einzelgewerkschaften dazu auf, die kritisch-materialistische Pädagogik in die Weiterbildungsangebote für ihre Referentinnen und Referenten und Tea­merinnen und Teamer verpflichtend aufzunehmen. Zur weiteren Diskussion über unsere Forderungen laden wir am 11. Mai in die GEW-Geschäftsstelle in Darmstadt ein (siehe Kasten S. 34).


(1) vgl. Bernhard, Armin: Wie man Wissenschaft ruinieren kann – Zur feindlichen Übernahme und Selbstenteignung der Erziehungswissenschaft, in: Bernhard, Armin; Bierbaum, Harald; Borst, Eva u.a. (Hrsg.): Neutralisierung der Pädagogik, Kritische Pädagogik – Eingriffe und Perspektiven, Heft 1, Baltmannweiler 2015, S. 13.
(2) ebenda, S. 20.
(3) ebenda, S. 14.
(4) Koneffke, Gernot: Wert und Erziehung (1982), in: ders., Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit, Band I: Bildungspolitische Analysen und Einsprüche, hrsg. von Harald Bierbaum & Katharina Herrmann, Baltmannweiler 2018, S. 173.
(5) Lenin, W.I.: Werke Bd.19, zit. nach: Gamm, Hans-Jochen: Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik, München 1984.
(6) Gamm, Hans-Jochen: Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik, München 1972, S. 53 ff.
(7) Gernot Koneffke in: Mut zur Kritik, Gernot Koneffke und Hans-Jochen Gamm im Gespräch über die Darmstädter Pädagogik (2004), in: Bierbaum, Harald und Euler, Peter u.a.: Nachdenken in Widersprüchen – Gernot Koneffkes Kritik bürgerlicher Pädagogik, Wetzlar 2007, S. 21.
(8) Marx, Karl: Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859), MEW Band 13, Berlin 1961, S. 9.
(9) Gamm, Hans-Jochen: Materialistisches Denken und Pädagogisches Handeln, Frankfurt 1979, S. 19.
(10) Gamm, Hans-Jochen: Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus, München 1994, S. 32.
(11) ebenda, S. 32 f.