Raus aus dem Elfenbeinturm!

Konzepte aus der Wissenschaft für die Praxis

HLZ 2022/5: Wir gegen den Klimawandel

Der öffentliche Diskurs über eine nachhaltige Ausgestaltung der Welt im 21. Jahrhundert nimmt trotz der andauernden Corona-Pandemie und des Angriffs Russlands auf die Ukraine weiterhin einen beachtlichen Raum ein. Die „Jahrhundertsommer“ der letzten Jahre sowie globale und vermehrt auch lokale Naturkatastrophen wie 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erhöhen auch in Deutschland die Aufmerksamkeit für das Thema. Eindringliche Appelle, die Umwelt zu schützen und die allgemeine Lebensqualität zu verbessern, rücken auch dank des Mutes von Greta Thunberg und der Aktionen der glokalen Bewegung Fridays for Future (FFF) eine Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) verstärkt in den Fokus.

FFF fordert nicht nur, „das Klima zu retten“, sondern Nachhaltigkeit in Politik und Gesellschaft zum Leitmotiv zu machen. Was aber bedeutet Nachhaltigkeit ganz konkret? Nachhaltigkeit ist ein abstrakter Begriff, der weit über Umwelt, Klima und Ressourcenschutz hinausgeht. Die 17 Nachhaltigkeitsziele bzw. Sustainable Development Goals (SDG) wurden unter der Ägide der Vereinten Nationen entwickelt und sollen die Lebensqualität in einer transnationalen Weltgesellschaft langfristig verbessern und sichern. Auf dem Weg zu konkreten Konzepten bedarf es wissenschaftlicher und praktischer Expertise, um politisch angemessen zu reagieren und umfassende globale Reformen einzuleiten.

Bildung für nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeit als Konzept betrifft die Dimensionen Zeit und Raum: across time and space. Entscheidungen im Sinne einer globalen und Generationengerechtigkeit dürfen nicht nur im Hier und Jetzt getroffen werden. Vielmehr sollten immer auch die Interessen der heranwachsenden und der zukünftigen Generationen berücksichtigt werden, und zwar global. Diesem Gedanken folgt auch die Verfassungsänderung von 1994, mit der die Verantwortung des Staates für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen wurde. 2002 wurde der Tierschutz ergänzt, so dass Artikel 20a GG jetzt folgenden Wortlaut hat:

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Insofern ist eine feste Institutionalisierung des Nachhaltigkeitsgedankens im Bildungssystem unerlässlich. Die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) haben die Engagement Global gGmbH als öffentliches Unternehmen des Bundes mit der Entwicklung eines Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung für die Sekundarstufen I und II beauftragt, „um BNE mit globaler Perspektive fest in der Schule und im Unterricht zu verankern“ (https://www.engagement-global.de). Die verschiedenen Fachgruppen bieten einen diskursiven Raum für den Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, um innerhalb eines demokratischen Prozesses die Umsetzung einer holistischen BNE in der schulischen Bildung in den Ländern, die für Bildungsbelange zuständig sind, verbindlich festzulegen.

Für die Praxis: Die Scientists 4 Future (S4F)

Die Scientists for Future (S4F) unterstützen die Anliegen von FFF von Seiten der Wissenschaften aufgrund der klaren Faktenlage. Ihr „wissenschaftlicher Aktivismus“ macht es sich zur Aufgabe, Fakten aufzubereiten, durch neue Formen der Wissenschaftskommunikation an die Gesellschaft zu vermitteln und „den Elfenbeinturm“ zu verlassen. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen insbesondere in den Bildungssystemen und deren Curricula verankert werden. Es lohnt sich also, die Webseite der S4F mit umfassenden und faktenbasierten Klimainformationen zu besuchen (https://schule.scientists4future.org). Mehrsprachige Sketchnotes können helfen, BNE im Unterricht und für andere Bildungsanlässe möglichst effizient umzusetzen, differenziert für alle Lernenden und nicht nur für die, die sich bei FFF engagieren und oft sozial privilegiert sind. Die Verankerung von BNE in den Schulen soll dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche nicht dieselben Fehler machen wie ihre Eltern und Großeltern. Ein „Weiter so“ würde das Ziel der Bundesregierung, die Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen, akut gefährden.

KISS: Das ist die Kurzform für das „Klima in der Schule Symposium“, bei dem die S4F-Fachgruppe Schulen seit 2021 ein kostenloses Angebot unter anderem für Lehrkräfte bereitstellt, um dem großen Bedarf an Fort- und Weiterbildungskonzepten gerecht zu werden und den Austausch aller Menschen, die sich im Bereich BNE engagieren, zu ermöglichen. An über 100 Workshops, Paneldiskussionen und Vorträgen nahmen im März 2021 im Rahmen einer digitalen Fortbildung rund 1.000 Menschen teil. Zu Gast waren u.a. FFF-Sprecherin Luisa Neubauer, renommierte Fachwissenschaftler wie Professor Volker Quaschning und Professor Harald Lesch und zahlreiche in der Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung tätige Personen und Institutionen. Einige Vorträge findet man auf der Homepage und im YouTube-Kanal von S4F. KISS 2.0 ist in Vorbereitung und wird am 16. und 17. September 2022 erneut in digitaler Form stattfinden (siehe Kasten). Dann geht es unter anderem um den Stand von BNE in den verschiedenen Bundesländern und um Möglichkeiten und Wege der Veränderung.

Goethe-Universität Frankfurt: The Blue Planet

Die interdisziplinäre Expertise der S4F fließt angesichts der wissenschaftlichen Komplexität hinsichtlich Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit auch in die didaktische Forschung der Universitäten ein. Ein Beispiel ist das Projekt The Blue Planet der Goethe-Universität Frankfurt (www.theblueplanetproject.de), das von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) gefördert wird und digitale Lehr- und Lerneinheiten für das mehrsprachige Umwelt- und Nachhaltigkeitslernen in den Sekundarstufen I und II entwickelt. Dazu gehört auch eine Fortbildungsreihe für Lehrkräfte zum mehrsprachigen Nachhaltigkeitslernen. Die fachübergreifenden Lehrmaterialien aus den didaktischen Abteilungen des Englischen, der Sozialwissenschaften und der Biologie werden auf einer digitalen Lernplattform gebündelt. Diese umfasst mehrsprachige Texte, multimodale Lerninhalte, Aufgabendossiers, Best-Practice-Beispiele sowie Übungen zum Thema Nachhaltigkeit. Das Projekt reagiert damit zum einen auf die akute Nachfrage von Schulen im Bereich Digitalisierung, zum anderen auf den Mangel an tragfähigen analogen und digitalen BNE-Konzepten für den Unterricht. The Blue Planet an der Goethe-Universität ist für den Zeitraum von April 2021 bis September 2022 konzipiert. Die entwickelten Einheiten sollen als Open Educational Resources (OER) dauerhaft für den bilingualen Schulunterricht zur Verfügung gestellt werden.
Dabei ist nicht alles so einfach, wie es erscheint: So geht es vielen Lehrkräften, wenn sie Unterricht zum Thema Nachhaltigkeit planen, so geht es auch mir. Soll ich Verzicht lehren, auch wenn ich selbst kein Vegetarier bin und auch fliege? Soll ich zur Teilnahme bei FFF oder gar zum zivilen Ungehorsam ermuntern? Ist der Aufruf, die Welt zu retten, ein Verstoß gegen das Überwältigungsverbot im Beutelsbacher Konsens?

Eine holistische Nachhaltigkeitsdidaktik befindet sich noch in den Kinderschuhen. The Blue Planet hat es sich jedoch zum Ziel gemacht, nicht nur die SDG 13 bis 15 im Umweltbereich (Klimaschutz, Leben unter Wasser und Leben an Land) in den Blick zu nehmen, sondern alle SDG. Exemplarisch tun wir das mit dem Thema Artenschutz, da auch der Schutz der Tiere im Grundgesetz verankert ist und einen passenden Zugang zu der Lebenswelt von Jugendlichen bietet. Die digitale Plattform enthält Angebote, die das Thema interaktiv je nach Wissensstand und Fertigkeiten vertiefen. Der Diagnose und dem Handeln der Lehrkräfte kommt eine zentrale Rolle zu, denn Lernen ist bekanntlich kein Selbstläufer: BNE wird nur durch das intrinsisch motivierte, engagierte Handeln vieler Lehrkräfte in den Schulen erfolgreich sein.

Bedrohung der Arten, Klimawandel, Armut und Ungleichheit: Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kennen keine Grenzen, und sie können nur durch Kommunikation innerhalb einer transnationalen Zivilgesellschaft gemeistert werden: Unity in Diversity. Damit wächst auch der Bedarf nach sprachsensiblem und mehrsprachigem Unterricht zur Gestaltung einer Welt, in der gesellschaftliche Einsprachigkeit immer mehr zur Ausnahme wird, die Erstsprachen der Lernenden aber als produktive Ressource geschärft werden müssen. Deshalb sollen die Materialien zum Artenschutz auch zum Fremdsprachenlernen ermuntern – und das gilt besonders für Englisch als globaler Lingua Franca des 21. Jahrhunderts. Insofern will das Projekt neue Standards setzen, um dem sinnvollen europäischen Ziel der Plurilingualität, der Beherrschung von mindestens zwei Fremdsprachen neben der eigenen Erstsprache, Rechnung zu tragen.

So revolutionär die Ideen der S4F, von The Blue Planet und vergleichbarer Initiativen sind, so sehr verhindern institutionelle Rahmenbedingungen „einen noch größeren Wurf“: In einem stark bürokratisierten System der „Bewertungsschule“ mit Vergleichbarkeit statt Individualisierung als zentralem Paradigma sind von unten initiierte Veränderungsprozesse besonders langwierig. Der gewünschte Whole School Approach als Teil der Philosophie der S4F und The Blue Planet verfolgt deshalb einen holistischen Ansatz mit Nachhaltigkeit als fest verankertem oberstem Bildungsziel. The Blue Planet hat dazu einen bundesweiten Online-Projekttag entwickelt. Er soll eine andere Feedback- und Bewertungskultur im Rahmen der progressiven transcurricularen Didaktik erfahrbar machen und zugleich die Qualität nachhaltiger schulischer Bildung verbessern. Die teilnehmenden Klassen erhalten Anregungen für Klausurersatzleistungen, um die Lehrkräfte, die weiterhin als Folge der Corona-Pandemie im Übermaß in Anspruch genommen werden, in ihrem Tagesgeschäft zu entlasten.

Dr. Subin Nijhawan


Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Amerika- und Englandstudien der Goethe-Universität Frankfurt und arbeitet in Kooperation mit der Abteilung Didaktik der Sozialwissenschaften am Projekt The Blue Planet. Er unterrichtet Englisch und PoWi in Frankfurt und engagiert sich bei den S4F. Er ist einer der Gruppenleiter des Facharbeitskreises Sozialwissenschaft/Politische Bildung für die Erweiterung des Orientierungsrahmens Globale Entwicklung auf die Gymnasiale Oberstufe im Auftrag von Engagement Global gGmbH.

KISS Klima-Symposium 2022
Das zweite „Klima in der Schule Symposium“ (KISS 2.0) findet am 16. und 17. September 2022 statt. Es soll Lernende, Lehrende und Forschende aus allen Bildungseinrichtungen zusammenbringen. Infos und Anmeldung