Zwischen Starre und Aktionismus

Lehre und Forschung in Zeiten von Corona

HLZ 11/2020: Digitale Hochschule

Mit dem Blick zurück auf die letzten sechs Monate hat sich im Hochschulkontext viel und zugleich wenig geändert. Zu Beginn der Schließungen Mitte März gab es eine Mischung aus Starre und Aktionismus, und zugleich zu vielen Fragen keine Antworten: Wie soll das Sommersemester laufen? Geht digitale Lehre? Wie achtet man auf Gesundheitsschutz? Und wie können die Hochschulen auf die Schließung von Kitas und Schulen reagieren? Schnell war klar, dass Studierende und Lehrende im Sommersemester anders lernen, lehren, forschen und sich austauschen werden und müssen:

  • Eine Petition zur Verteidigung der „Präsenzlehre als Grundlage eines universitären Lebens“ fand in kurzer Zeit mehrere Tausend Unterstützer*innen. Über die Probleme und Perspektiven der digitalen Lehre während und nach Corona diskutieren Professor Holger Horz von der Goethe-Universität Frankfurt und Professorin Ursula Birsl von der Philipps-Universität Marburg.
    Interview
  • Es gab viele Debatten über ein „Solidarsemester“ oder „Nichtsemester“ für die Studierenden, über ihre finanzielle Notlage und die unzureichenden Reaktionen der Bundesregierung. Darüber berichten Kyra Beninga, die AStA-Vorsitzende der Goethe-Universität, und Nathalie Schäfer, die Bundessprecherin der Studentinnen und Studenten in der GEW.
    Nicht nur verschleppt. Unzulängliche Studienfinanzierung in Corona-Zeiten

Auch die politische Arbeit der Studierendengruppen und der zahlreichen hessischen Mittelbauinitiativen litt unter der Corona-Pandemie. Mitglieder der GEW-Studierendengruppe in Marburg und Kolleg*innen, die in Gießen, Kassel oder Marburg gegen das Befristungsunwesen kämpfen, berichten über neue Formen der Kommunikation und Organisation.

GEW-Studierendengruppe in Marburg: Lernen im digitalen Semester. Pandemie offenbart Schwachstellen des System

Die „doppelte Krise“. Zur Situation des Mittelbaus an der Justus-Liebig-Universität

UniKassel unbefristet

Verlängern oder entfristen? Hochschulen knausern bei „Corona-Verlängerungen“

Digitale Leere

Auf den ersten Blick hat sich für uns in Lehre und Forschung nicht viel geändert. Statt in Büro oder Bibliothek sitzen wir am privaten Rechner zu Hause. Man trifft sich zu Gremiensitzungen und Teambesprechungen. Die Lehre findet fast vollständig digital mit verschiedenen Programmen statt, für die die Hochschulen erst einmal neue Lizenzen erwerben mussten. Zu Beginn der Pandemie war völlig unklar, ob wir das ganze Semester online lehren und in welcher Form andere akademische Veranstaltungen stattfinden. Die technische Ausstattung im Homeoffice basierte überwiegend auf privaten Rechnern und privatem Equipment, denn der Markt war insbesondere in den ersten Wochen des Lockdowns „leergefegt“. Wer versuchte, beispielsweise eine Webcam, ein Headset oder einen leistungsfähigen Laptop zu kaufen, wurde nur müde belächelt. Auch die IT-Abteilungen und Server der Hochschulen konnten den Bedarf nicht abdecken. Vorhandene Online-Tools waren dem Ansturm oft nicht gewachsen.

Auf ein digitales Semester war niemand vorbereitet, und die Umstellung auf Online-Formate hat deutlich mehr Arbeitsstunden gebraucht, als viele Kolleg*innen eingeplant und verfügbar hatten. Wir mussten andere Wege zur Literaturbeschaffung suchen und neue didaktische Konzepte entwickeln, erproben und vermitteln. All dies hat während des Lockdowns, aber auch im Verlauf des Semesters deutlich mehr zeitliche Ressourcen gebunden, als Lehre es normalerweise tut. Immerhin hat das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) die digitale Lehre der Präsenzlehre gleichgestellt, was nicht in allen Bundesländern der Fall ist. Allerdings wäre es wünschenswert, dass die Mehrarbeit auch bei der Lehrverpflichtung berücksichtigt würde.

Das komplette Alltagsgeschäft und auch ganze wissenschaftliche Konferenzen, die nicht in das Jahr 2021 verschoben werden konnten, fanden digital statt. Der digitale Austausch ist in der Regel deutlich anstrengender, weil viele zwischenmenschliche Faktoren wegfallen und die Alltagswege von einem in den anderen Sitzungsraum fehlen, aber auch konkrete kleinere Erholungspausen.

Rahmenbedingungen für die Forschung

Die Corona-Pandemie hat von jetzt auf gleich auch die Rahmenbedingungen der Forschung verändert. Als Sozialwissenschaftlerin kann ich das eine oder andere sicherlich am Computer erledigen, aber Forschung in enger Interaktion mit Menschen, in Laboren, Museen oder Archiven - und das vielleicht auch noch im nicht-europäischen Ausland - lässt sich nicht von jetzt auf gleich ändern. Forschungsaufenthalte für einzelne Qualifikationsprojekte und ganze Forschungsprojekte mussten abgebrochen oder verschoben werden.

Momentan ist es weiterhin äußerst unwahrscheinlich, dass Forschungsaufenthalte in diesem Jahr fortgesetzt oder neu begonnen werden können. Dienstreisen werden nur in Ausnahmefällen und nur im Inland genehmigt, für das nicht-europäische Ausland bestehen weiter Reisewarnungen. Forschende werden sich auch selbst fragen, wie man beispielsweise in Brasilien mit hohen Coronafallzahlen forschen kann, ohne sich selbst oder andere zu gefährden. Und was macht die Pandemie mit der ökonomischen und politischen Situation der Länder, in denen man forscht? Auch Mediziner*innen und Psycholog*innen fragen sich, wie Forschung mit physischer Distanz gehen soll. All das erschwert die Bearbeitung der Fragestellungen und kann auch nicht immer mit neuen digitalen Methoden oder Auftragsforschung gelöst werden. Das klingt für Außenstehende vielleicht nicht so dramatisch, aber es kann bedeuten, dass begonnene Qualifikationsarbeiten komplett neu aufgestellt werden müssen und vorherige Arbeit eingestampft werden muss. Naturwissenschaftler*innen haben langfristige Versuchsreihen mit Präsenz im Labor durchzuführen, die nicht einfach zu stoppen oder zu verschieben sind. Im schlechtesten Fall muss der ganze Versuch von vorne beginnen!

Befristete Verträge verlängern!

Die Bundesregierung hat darauf mit einer Verordnung „zur weiteren Verlängerung der zulässigen Befristungsdauer nach § 2 Absatz 1 des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie“ reagiert. Danach können Arbeitsverträge auf Antrag für sechs Monate über die bisher geltende Obergrenze von sechs Jahren hinaus verlängert werden. Leider gilt dies nur für die sogenannten Landesstellen. Im Drittmittelbereich ist es unter anderem vom Geldgeber, von der Förderrichtlinie und der Laufzeit des Projektes abhängig, ob befristete Verträge pandemiebedingt verlängert werden können. In vielen Fällen müssen mit großem zeitlichen Aufwand neue Anträge und Begründungen für eine Verlängerung geschrieben werden, auch wenn der Bedarf offensichtlich ist. Ob es Verlängerungen gibt, hängt auch mit der Frage zusammen, wie sich die Wirtschaftskrise auf den Hochschulbereich auswirkt. Wird es weniger öffentliche Gelder geben? Was passiert mit den vielen befristet Beschäftigten? Und welche Auswirkungen hat der Digitalisierungsschub, der längst überfällig war, auf die Hochschulen und die Beschäftigungsverhältnisse?

Nachteile durch die Betreuung von Kindern

Viele befristet Beschäftigte sind Frauen mit Betreuungsaufgaben. Ihre Perspektiven sind besonders prekär, denn nicht alle Betreuungseinrichtungen können einen Normalbetrieb gewährleisten. Und da ist der Winter mit steigenden Erkrankungen noch nicht mitgerechnet! In einem wettbewerbs­orientierten Hochschulsystem müssen Wissenschaftler*innen mit Betreuungsaufgaben mit langfristigen Nachteilen rechnen, wenn sich in zwei oder drei Jahren herausstellt, dass die Kriterien für eine wissenschaftliche Laufbahn nicht erfüllt werden konnten. Viele Kolleginnen, aber auch Kollegen mussten ihre Anträge, Artikel und Qualifikationsarbeiten aufgrund der hohen Belastung unter anderem wegen der Lehre, fehlender Kinderbetreuung in den Kitas und zusätzlicher Aufgaben im Homeschooling verschieben oder ganz verwerfen. Die Idee der Arbeitgeber, in unserem Fall des Landes Hessen, dass das Homeoffice ein Betreuungsangebot darstellt, ist weit entfernt von jeglicher Realität von Kinderbetreuung und Homeschooling. Viele werden nicht nur mit den Publikationen und Anträgen ein Problem haben, sondern haben ein Minus-Deputat aus dem Sommersemester, das sie in den kommenden Jahren „nachholen“ sollen. An einigen Hochschulen wird versucht, diese Nachteile durch finanzielle Unterstützungen für Lehre und Forschung zu kompensieren. Aber nicht alles ist delegierbar und am Ende fehlt vor allem die Zeit für die Qualifizierung und für Forschung und Lehre. Da hilft auch eine Kann-Verlängerung, die der Bund beschlossen hat, wenig.

Positive Effekte

Allerdings registriere ich nicht nur an meinem Arbeitsplatz auch positive Veränderung der Arbeit:

  • Wir überdenken die persönliche Praxis von Forschung und Lehre, verlassen die Komfortzone und wagen neue Schritte.
  • Auch formal sind plötzlich neue Arbeitsformen möglich: Das Homeoffice für wissenschaftliche Beschäftigte und Pilotprojekte für mobiles Arbeiten von Verwaltungsangestellten werden von Hochschulen genutzt und ausgebaut.
  • Gleichzeitig ändern sich auch unsere Arbeitsformen und der Austausch untereinander und prekär beschäftigte Wissenschaftler*innen müssen nicht mehr so viel pendeln.

Als GEW müssen wir die Themen Mehrarbeit, Überstunden und Überforderung durch die Digitalisierung weiter im Blick behalten, insbesondere im bevorstehenden Hybridsemester, das sicherlich nochmal deutlich mehr von den Beschäftigten und Studierenden abverlangt. Die Pandemie bringt mich dazu, gerade jetzt mehr denn je für gute Arbeit in der Wissenschaft, für Entfristungen und Zukunftsperspektiven zu kämpfen. Gemeinsam sind wir stark!

Dr. Simone Claar

Dr. Simone Claar ist Mitglied im Leitungsteam der GEW-Bundesfachgruppe Hochschule und Forschung und im Referat Hochschule und Forschung der GEW Hessen. Sie ist Post-Doc mit den Forschungsschwerpunkten Kapitalismus und Energiewende in Afrika.

Perspektiven für das Wintersemester

Wissenschaftsministerin Angela Dorn stellte Ende September ein „mit den Hochschulpräsidien abgestimmtes Konzept“ vor, wonach das Wintersemester 2020/2021 als Hybridsemester in einer Kombination aus Präsenz- und Online-Lehre stattfinden soll. Priorität bei der Wiederaufnahme des Präsenzbetriebs haben Veranstaltungen im ersten Semester und für Studierende in der Abschlussphase sowie im Laborbetrieb, im künstlerischen und musischen Bereich, bei Projektarbeiten und im Sport. Die Organisation des Präsenzanteils im Lehr- und Prüfungsangebot erfolge unter „Berücksichtigung der Personenzahl der Lehrveranstaltung in Abstimmung mit den vorhandenen Raumgrößen und Lehrkapazitäten“, die Verantwortung für die Umsetzung liege bei den Hochschulen.

Simone Claar, die mit Wolfgang Richter-Girard das Referat Hochschule und Forschung im GEW-Landesvorstand leitet, verwies auf die hohe Mehrbelastung der Beschäftigten durch den Doppelbetrieb, auf überbesetzte und zu kleine Büros und die unzureichende technische Ausstattung für das mobile Arbeiten und die Arbeit im Home Office: „Wir erhalten die Rückmeldung, dass Beschäftigte Probleme sehen, dass sie auf allen Verkehrswegen der Hochschule die Maskenpflicht durchsetzen sollen und sich nur mit einer bestimmten Zahl von Personen gleichzeitig in Büros aufhalten dürfen.“

Foto: alexl, istock.com