Etikettenschwindel

Wie Hessen weiter die Statistik der Lehrkräfte verfälscht | HLZ Juni 2024

Der Etikettenschwindel geht weiter. Wer den jährlichen Bericht der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Einstellung von Lehrkräften studiert, reibt sich verwundert die Augen. In den ostdeutschen Bundesländern lag der Anteil der 2023 neu eingestellten Lehrkräfte, die keine grundständige Lehrerausbildung mit einem ersten und zweiten Staatsexamen haben, zwischen 53,4 Prozent in Sachsen-Anhalt und 26,0 Prozent in Thüringen, in Berlin waren es 20,6 Prozent und in Baden-Württemberg immerhin noch 13,7 Prozent. Um Hessen scheint der Mangel an ausgebildeten Lehrkräften aber einen großen Bogen zu machen, denn hier lag der Anteil der Seiteneinsteiger oder Quereinsteiger gerade einmal bei 2,6 Prozent. (1)


Befristete Aushilfslehrkräfte statt Qualifikationsangebote

Tatsächlich liegt dieser Diskrepanz ein einfacher Taschenspielertrick zugrunde, der den Mangel an voll ausgebildeten Lehrkräften genauso verschleiert wie den Anteil der Unterrichtsstunden, die durch Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger erteilt werden. Nach der Definition der KMK handelt es sich bei den im Einstellungsbericht als „Seiteneinsteiger“ aufgeführten Lehrkräften um Kolleginnen und Kollegen, „die in der Regel über einen Hochschulabschluss, nicht jedoch über die erste Lehramtsprüfung verfügen“ und ohne Vorbereitungsdienst in den Schuldienst eingestellt werden. Sie werden unbefristet eingestellt und erhalten berufsbegleitend im Rahmen eines landesspezifischen Qualifizierungsangebots „über ihre fachlichen Kenntnisse hinaus eine pädagogische Zusatzqualifikation“.


Hessen bietet solche Programme zur Qualifizierung und Weiterbildung nur in ganz begrenztem Umfang an und stellt stattdessen in großer Zahl sogenannte Vertretungs- oder Aushilfslehrkräfte mit befristeten TV-H-Verträgen ein, die sich schlecht bezahlt und ohne jede Unterstützung von Jahresvertrag zu Jahresvertrag hangeln und trotzdem das volle Pensum und alle wesentlichen dienstlichen Aufgaben einer Lehrkraft erledigen müssen. Im besten Fall finden sie Kolleginnen und Kollegen, die ihnen – zusätzlich zum ausgefüllten Normalarbeitstag – den Einstieg erleichtern. Im schlimmsten Fall dürfen sie die Arbeiten machen, die das „Stammkollegium“ aus mehr oder weniger guten Gründen verweigert. Steigt der Bedarf an einer Schule, wird der Vertrag auch im laufenden Schuljahr aufgestockt, sinkt er, gibt es den nächsten Änderungsvertrag. Die Qualifikation für das jeweilige Fach wird kaum überprüft, für die Erteilung der erforderlichen „Unterrichtserlaubnis“ gibt es keine Kriterien. Die Fiktion, eine andere Lehrkraft zu vertreten, ist der arbeitsrechtliche Hebel für die Befristung nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz. In Wahrheit wird ein Bedarf gedeckt, der durch voll ausgebildete Lehrkräfte nicht abgedeckt werden kann.


Angst macht wehrlos

Die Angst der Betroffenen, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird, macht wehrlos, so dass sie oft genug selbst auf arbeitsrechtliche Ansprüche wie die Bezahlung der Mehrarbeit von der ersten Stunde an oder auf den Ausgleich des Lebensarbeitszeitkontos verzichten. Selbst die deutlichen Verbesserungen, die mit der neuen tarifvertraglichen Entgeltordnung des TV EGO-L-H erkämpft wurden, haben offensichtlich viele Lehrkräfte mit einem befristeten TV-H-Vertrag nicht in Anspruch genommen – aus Sorge, ein Antrag auf Überleitung könne ihnen zum Nachteil gereichen. So waren es vor allem die TV-H-Beschäftigten, die in der Regel mit dem Rechtsschutz der GEW eine Entfristung durchgesetzt haben und jetzt im Rahmen der Entgeltordnung nach drei, vier oder fünf Beschäftigungsjahren und mit dem Nachweis von Fortbildungen immerhin um bis zu vier Entgeltgruppen höher eingestuft wurden.


Besonders knauserig ist das Kultusministerium, wenn es um Informationen zur Zahl der Lehrkräfte ohne Lehramt und die Verteilung auf die Schulformen und Regionen geht. An den grundsätzlichen Befunden aus der Zeit vor der Coronapandemie dürfte sich wenig geändert haben:
•    Besonders hoch war der Anteil der Lehrkräfte ohne Lehramt an den Grundschulen und den Integrierten Gesamtschulen, besonders niedrig an den Gymnasien.
•    Während der Anteil in den Grundschulen im landesweiten Durchschnitt bei rund 10 Prozent lag, betrug er in den Schulamtsbezirken Frankfurt, Offenbach und Groß-Gerau/Main-Taunus rund 20 Prozent. Der hohe Anteil von Lehrkräften ohne Lehramt korreliert eindeutig mit der Sozialstruktur der Region, insbesondere mit dem Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und dem Anteil der Familien mit Hilfe zum Lebensunterhalt. (2)


Quereinsteigerprogramme in Hessen

Auch Hessen hat in den letzten Jahren einige Programme für Quereinsteiger aufgelegt. Rechtsgrundlagen sind das Hessische Lehrkräftebildungsgesetz (HLbG) und die entsprechende Durchführungsverordnung (HLbGDV). In der Regel wird der Hauptpersonalrat Schule an der Ausgestaltung der Maßnahmen beteiligt.


Eher unspektakulär ist der Quereinstieg in den Vorbereitungsdienst nach § 37 HLbGDV, der für Mangelfächer auch nach einem Masterstudiengang ohne pädagogische Studieninhalte den Einstieg in das Referendariat und damit den Zugang zu einem Lehramt ermöglicht. Sehr viel aufwändiger ist der Quereinstieg in den Schuldienst nach § 3 Abs. 7 HLbG und § 53ff. HLbGDV: Hier sollen Kolleginnen und Kollegen mit einem Hochschulabschluss ohne Referendariat berufsbegleitend so ausgebildet werden, dass sie eine einem Lehramt gleichgestellte Qualifikation erwerben. Nach erfolgreicher Prüfung können sie auch verbeamtet werden und genauso bezahlt werden wie die Kolleginnen und Kollegen mit einer grundständigen Ausbildung.


Die Konditionen wurden bedarfsorientiert immer wieder geändert. Inzwischen gibt es für die Grundschulen auch den Zugang über den Bachelorabschluss sowie für Lehrkräfte mit einer im Ausland erworbenen Ausbildung die Möglichkeit, das zweite Fach berufsbegleitend zu erwerben. Besonders hoch ist der Anteil der gleichgestellten Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger an den Beruflichen Schulen: Der Quereinstieg in den hessischen Schuldienst in den beruflichen Fachrichtungen Elektrotechnik, Metalltechnik oder Informatik ist schon lange ein relevanter Zugang zum Lehrberuf.


Geändert wurden die Dauer der Maßnahmen, die Zahl der Anrechnungsstunden für die berufsbegleitende Weiterbildung, die Fächer und die Vertragskonditionen. Angebote gibt es für alle Schulformen mit Ausnahme der Gymnasien. Es ist davon auszugehen, dass die Angebote zukünftig vor allem für den Bereich der Haupt-, Real- und Gesamtschulen ausgebaut werden müssen. Einen Überblick über die aktuell laufenden Maßnahmen bietet das Hessische Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen auf seiner Homepage. (3)


Viele kreative Abkürzungen

Die vielen kreativen Abkürzungen für die Quereinsteigerprogramme – von QuiS, QuEM über QuEMI und QuiSGS bis AMHR – dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Vergleich zur Beschäftigung von Vertretungslehrkräften nur einen Bruchteil des Bedarfs decken. Zwischen 2018 und 2022 gab es gerade einmal 570 Personen, die einen Quereinstieg absolviert haben, davon 86 für das Lehramt an beruflichen Schulen, 193 für das an Förderschulen und 291 an Grundschulen. Mitgezählt werden hier auch die Kolleginnen und Kollegen, die bereits über ein Lehramt verfügten, in der Regel das Lehramt an Gymnasien, und zusätzlich das Lehramt für Grundschulen erworben haben, um ihre Einstellungschancen zu verbessern (Landtagsdrucksache 20/11144). Am 21. Juli 2023 waren 220 Personen in Weiterqualifizierungsmaßnahmen, 73 Stellen im Grundschulbereich befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch im Verfahren (Landtagsdrucksache 20/11145). Zum selben Zeitpunkt gab es 7.662 Lehrkräfte ohne Lehramt, die im Rahmen einer Unterrichtserlaubnis arbeiten, davon 3.052 an Grundschulen, 2.328 an Haupt-, Real- und Gesamtschulen, 912 an Förderschulen und 1.370 an Beruflichen Schulen (Landtagsdrucksachen 20/11144, 20/9626 und 20/6696).


Was bringt der Koalitionsvertrag?

Neue Ideen zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels sind im Koalitionsvertrag von CDU und SPD Mangelware. Die Koalition will „mit innovativen Ideen für den Beruf der Lehrkraft“ werben und die Einstiegshürden für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger abbauen, auch durch die „Ein-Fach-Lehrkraft“. Man setzt auf schon bisher eher wirkungslose „Stellengewinne über Pensionärinnen und Pensionäre“, die frühere Rückkehr von Lehrkräften aus der Elternzeit oder Verlängerung der Dienstzeit. Insbesondere will man „pensionierte Lehrkräfte und akademisches Personal aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich (…) für den Unterricht in MINT-Fächern“ gewinnen. Einen Lichtblick gibt es für „entsprechend vorqualifizierte" Vertretungslehrkräfte, für die der „berufsbegleitende qualifizierende Quereinstieg“ ausgebaut werden soll.


(1) KMK-Einstellungsbericht für 2023, S. 9
(2) Harald Freiling: Kostengünstige Vertretungsverträge statt berufsqualifizierender Seiteneinstiege – eine Problemskizze am Beispiel des Landes Hessen. In: Die Deutsche Schule 112. Jahrgang, Heft 4/2020, S. 428-438
(3) kultus.hessen.de/schuldienst/einstellung-in-den-schuldienst > Quereinstieg