Schöne neue Bildungswelt? 

Einführung einer hessenweiten Lernplattform

HLZ 1/2019: Digitalisierung und Schule

Das Hessische Kultusministerium berichtete am 19. September 2018 per Pressemitteilung, es habe sich in den zurückliegenden Wochen und Monaten auf den Weg gemacht, eine benutzerfreundliche digitale pädagogische Lern- und Arbeitsplattform zu entwickeln und aufzubauen. Das neue Schulportal solle als geschlossene Plattform für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler Möglichkeiten des Austauschs bieten, als Lernplattform genutzt werden können, Lehrkräfte bei der Unterrichtsorganisation durch Funktionen zur Raumplanung und Vertretungsplanung unterstützen und Selbstlernangebote für Schülerinnen und Schüler bereit halten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Kultusministerium mit dieser Mitteilung im Vorfeld der Landtagswahl noch einmal Aktivität beim Mega-Thema Digitalisierung dokumentieren wollte. So zeigt auch der Blick in die spärlichen mitgelieferten Hintergrundinformationen, dass sich das Projekt offenbar noch in der Anfangsphase befindet. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob diese Ankündigung nicht tatsächlich große Potenziale für die schulische Bildung mit sich bringt.

Unter einer Lernplattform ist nach der Definition von Wikipedia „ein komplexes Content-Management-System, das der Bereitstellung von Lerninhalten und der Organisation von Lernvorgängen dient“, zu verstehen. Weiter heißt es dort: „Aufgabe einer web-basierten Lernumgebung ist, die Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrenden zu ermöglichen. Sie fungiert als Schnittstelle zwischen Bildungsanbieter und lernender Person.“ 

Lernplattformen seien abzugrenzen gegenüber Bildungsinhalten, die über das Internet angeboten werden und durch die üblichen Webpräsenzen oder -portale. Als Vorteile einer Lernplattform werden die Entlastung im Lehrbetrieb, die Regelung des Informationsflusses, die Vereinfachung des Lernens und die Übernahme zahlreicher Verwaltungsaufgaben genannt. 

Es gibt bereits unterschiedliche Angebote, die ohne spezielle Kenntnisse im Programmieren genutzt werden können. In der Regel lassen sich Lernplattformen über den Browser ohne die Installation einer speziellen Software nutzen. Es ist allerdings zwingend erforderlich, sich in die jeweilige Plattform mit ihren Anwendungen einzuarbeiten. Lernplattformen ermöglichen grundsätzlich das Tracking, also die exakte Nachverfolgung der Aktivitäten der Nutzerinnen und Nutzer auf dieser Plattform. Es gibt sowohl kommerzielle Anbieter wie auch Open-Source-Projekte. Bei der verbreiteten Lernplattform Moodle handelt es sich um ein solches Open-Source-Angebot, das von der Gemeinschaft der Nutzerinnen und Nutzer selbst weiterentwickelt wird. Moodle wurde zuletzt 2017 über ein Projekt der Lehrkräfteakademie, das auch die Schulung der Lehrkräfte beinhaltete, an hessische Schulen gebracht (1).

Lernplattformen ermöglichen es unter anderem, Materialien wie Arbeitsblätter, Texte oder Audiodateien zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus ist es möglich, für Arbeitsgruppen ein Diskussionsforum einzurichten oder Lernfragen zu stellen. Somit ergänzen und erweitern sie die pädagogischen Möglichkeiten des Unterrichts im Klassenraum und des selbständigen Arbeitens der Schülerinnen und Schüler nicht unerheblich. Gerade in Bezug auf das selbständige Arbeiten, etwa bei der Wiederholung von Lerninhalten oder bei Gruppenarbeiten, können Lernplattformen sinnvoll eingesetzt werden.

Big Data in der Bildung

Im Rahmen des so genannten Blended Learning wird so das digitale Lernen mit dem analogen Lernen verknüpft. Darüber hinaus werden inzwischen unter den Schlagwörtern Learning Analytics, Educational Data Mining oder Big Data in der Bildung auch ganz neue IT-gestützte Möglichkeiten diskutiert. Dabei geht es darum, von den Lernenden durch die Nutzung digitaler Medien generierte Daten im großen Umfang zu erfassen, zu verknüpfen und für die Analyse von Lernprozessen zu nutzen. Es ist offensichtlich, dass solche Ansätze den Kern erfolgreichen Lernens – die unmittelbare Interaktion mit den Lehrkräften und anderen Lernendenden – zu unterminieren drohen. Auch stellt sich die Frage nach einem möglichen Missbrauch der Daten. Nicht zuletzt die von den Fraktionen des Hessischen Landtags für die Enquetekommission Bildung benannten Sachverständigen haben in ihren Stellungnahmen sehr deutlich gemacht, dass es bislang keine gesicherten empirischen Erkenntnisse für bessere Bildungserfolge durch digitale Bildung gibt. Vielmehr weisen sie ausdrücklich auf die mit dieser verbundenen Risiken hin: neue Risiken für Bildungserfolge durch erhöhte Ablenkung, die drohende Entmündigung der Lehrkräfte, die den Bildungsprozess nicht mehr letztinstanzlich steuern, sowie die Gefahr des Datenmissbrauchs, insbesondere durch internationale IT-Konzerne, die sich der demokratischen Regulierung entziehen. (2)

Enquetekommission: Warnungen aller Fraktionen 

Die Fraktionen haben mehrere einvernehmliche Handlungsempfehlungen formuliert. Unter anderem betonen sie in diesen zu Recht den Primat der Pädagogik: 
„Unterricht ohne Lehrer ist keine Option. Unterricht lebt von der direkten Auseinandersetzung in sozialen Gruppen und der face-to-face-Kommunikation zwischen Lehrkraft und Schüler. Daher ist der Gebrauch von automatisierten Lernprogrammen im schulischen Unterricht als Ergänzung, nicht als Ersatz für den Unterricht, der von einer Lehrkraft durchgeführt wird, anzusehen. Die Lehrkraft ist nicht Begleiter, sondern Urheber guten Unterrichts. Deshalb muss sie über den Einsatz von digitalen Geräten und Lernsoftware im Rahmen und jeweils im Dienste einer konkreten Unterrichtseinheit entscheiden.“ 

Die den Schulen zur Verfügung gestellte digitale Infrastruktur müsse zudem zwingend dem Datenschutz genügen: „Beim Einsatz von Lernsoftware mit Online-Anbindung müssen die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen eingehalten werden, um einen Missbrauch dieser Daten auszuschließen. Die rechtlichen Regelungen gilt es ggf. anzupassen, um die Privatsphäre zu schützen und einen Datenmissbrauch zu unterbinden. Gesicherte Bildungsserver und die Bereitstellung von Bildungsclouds, die den Anforderungen Rechnung tragen, sollen bereitgestellt und von den Schulen genutzt werden können.“

Eine Schul-Cloud in öffentlicher Hand?

Als wichtigster Protagonist einer bundesweiten Schul-Cloud hat sich das Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam positioniert. Dieses Institut wurde von Hasso Plattner, dem Gründer des Softwarekonzerns SAP, gestiftet. Das HPI entwickelt bereits als Pilotprojekt eine Schul-Cloud im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. An diesem beteiligen sich die 300 naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulen des bundesweiten Netzwerks MINT-EC. Veröffentlichungen des HPI zeigen, dass dieses mit der Schul-Cloud auf eine tiefergehende Transformation von Bildung zielt: Schülerinnen und Schüler sollen sich so zu „Bildungspartnern“ entwickeln, die „selbst Lernangebote oder Nachhilfe für ihre Mitschüler bereitstellen“. Die Cloud solle zur Entwicklung eines „prosperierenden Bildungsmarkts“ beitragen, etwa indem Lehrkräfte, Schüler und öffentliche Einrichtungen dazu angeregt werden, „neue webbasierte Bildungsangebote (…) zu entwickeln und zu vermarkten“. (3)

Wie dieses Beispiel aufzeigt, besteht die Gefahr, dass Konzerne über die Entwicklung einer Softwarelösung in eine Position geraten, in der sie maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung von Bildungsangeboten erhalten. Dieser geht dann über die reine Bereitstellung einer digitalen Infrastruktur weit hinaus. Als ein Gegenbeispiel für eine umfassende Softwarelösung in öffentlicher Hand lässt sich auf die landesweite Schul-Cloud Logineo NRW verweisen. Diese ist im Herbst 2018, allerdings nach einigen Verzögerungen aufgrund technischer Probleme, zunächst als Pilotprojekt gestartet. Für die technische Umsetzung sind das Kommunale Rechenzentrum Niederrhein und das ebenfalls öffentliche Zentrum für Medien und Bildung zuständig. Logineo soll u.a. der Schulorganisation und dem Zugriff auf lizensierte digitale Medien dienen. Damit handelt es sich zunächst um keine voll ausgebaute Lernplattform, denkbar wäre aber eine Erweiterung zu einer solchen. Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist bemerkenswert, dass viele strittige Fragen bezüglich der Nutzung durch die Lehrkräfte durch eine Dienstvereinbarung der Hauptpersonalräte für Lehrkräfte mit dem Ministerium geklärt wurden. Diese regelt unter anderem die Erreichbarkeit durch dienstliche Emails sowie, dass private Endgeräte nur auf freiwilliger Basis zu verwenden sind. Diese Dienstvereinbarung wurde 2017 mit dem vom Bund-Verlag verliehenen Deutschen Personalräte-Preis in Silber ausgezeichnet.

Der Aufbau des hessischen Schulportals soll schrittweise erfolgen, ab dem Schuljahr 2021/2022 soll es flächendeckend verwendet werden. Die Anmeldung soll über alle Endgeräte möglich sein, durch ein „Single-Sign-On“-Verfahren stünden den Nutzerinnen und Nutzern alle jeweils verfügbaren Anwendungen offen. Das Schulportal soll im Wesentlichen auf Open-Source-Software basieren und auf landeseigenen Servern der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung laufen. Die Datenschutzvorgaben des Hessischen Datenschutzbeauftragten sollen erfüllt werden. Der technische Support sowie die Bereitstellung von Fortbildungsveranstaltungen würden durch die Hessische Lehrkräfteakademie sichergestellt. Wenn diese Ankündigungen ernst gemeint sind, dann handelt es sich um ein durchaus ehrgeiziges Vorhaben. Es bestehen dabei nicht von der Hand zu weisende Chancen, neue pädagogische Möglichkeiten und ein vereinfachter und sichererer Umgang mit sensiblen Daten. Bei der Umsetzung müssen die Anforderungen, die der Hessische Landtag bezüglich des Primats der Pädagogik und der Sicherstellung des Datenschutzes formuliert hat, voll berücksichtigt werden. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass dies unter der Federführung eines privaten Softwarekonzerns möglich wäre. Daher ist die Ankündigung zu begrüßen, dass die hessische Lernplattform auf Open-Source basieren und von öffentlichen Institutionen betrieben werden soll. Das Beispiel der Dienstvereinbarung zu Logineo macht deutlich, dass GEW und Personalräte bei der Einführung einer landesweiten Softwarelösung einen Gestaltungsanspruch erheben und auch einlösen können.

Dr. Roman George, Referent Bildungspolitik GEW Hessen

(1) https://medien.bildung.hessen.de/lernplattform/moodle/index.html
(2) Hessischer Landtag: Abschlussbericht der Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“, Drucksache 19/6222, S. 132-140, Zusammenfassung in: HLZ 5/2018, S.17-19
(3) Matthias Holland-Letz: Wolkige Lösungen mit Luft nach oben, E &W10/2018, S. 17-19

Bild: dolgachov | istockphoto.com