Antisemitismus an Schulen

HLZ 6/2020

Die aktuelle Studie der Soziologin Julia Bernstein über „Antisemitismus an deutschen Schulen“ ist deshalb so interessant, weil sie erstmals auch die Perspektive von jüdischen Betroffenen empirisch untersucht hat. Diese Perspektive wird mit der von nicht-jüdischen Lehrkräften kontrastiert, was einen umfassenden und differenzierten Blick auf die Verbreitung von Antisemitismus und den Umgang damit ermöglicht.

„Und dann gibt es eine Debatte darüber, ob es Juden gibt oder nicht, aber nicht, ob es Antisemitismus gibt oder nicht.“ (S. 396)

Dabei wird schnell klar: Antisemitismus ist ein Thema. Denn die Betroffenen sehen sich mit vielfältigen Formen judenfeindlicher Äußerungen und Handlungen konfrontiert. Aber wie stehen die Lehrkräfte dazu? Die Mehrheit der nicht-jüdischen Lehrkräfte bagatellisiert den alltäglichen Antisemitismus oder erkennt ihn erst gar nicht. Hinzu kommt eine große Unsicherheit in der Frage, wie mit antisemitischen Vorfällen umgegangen werden soll.

Antisemitische Äußerungen werden als Späße oder als angeblich legitime „Israelkritik“ abgetan. Ein Einschreiten wird auch deshalb als unnötig angesehen, weil es ja ohnehin keine Juden an der Schule gäbe. Doch Jüdinnen und Juden verschweigen ihre jüdische Identität oft, um antisemitischen Anfeindungen zu entgehen, wie die Studie zeigt. Lehrerinnen und Lehrer können also gar nicht wissen, ob es unmittelbar Betroffene gibt. Gemäß ihrem Auftrag zur Wahrung des Kindeswohls und zum Schutz vor Diskriminierung sollten sie daher prinzipiell von der Möglichkeit ausgehen, dass jüdische Kinder an der Schule sind.

Der Abbau von Diskriminierung ist aber auch ein Lernziel für alle Schülerinnen und Schüler. Durch fehlendes Einschreiten wird Antisemitismus für alle zur Selbstverständlichkeit und für jüdische Schülerinnen und Schüler zur legitimierten diskriminierenden Alltagserfahrung. Dass das der Normalfall an deutschen Schulen ist, zeigt die Studie anhand von Interviews mit betroffenen Schülerinnen und Schülern, ihren Eltern und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern jüdischer Gemeinden oder Expertinnen und Experten aus der Bildungs- und Beratungsarbeit, die diese Erfahrungen geschildert bekommen, leider nur zu deutlich.

„Ich habe das Gefühl, dass ich alles selbst in die Hand nehmen muss, und ich bin einfach genervt davon.“ (S. 186)

Der Mangel an Bewusstsein für die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit Antisemitismus in der Schule kommt auch in der Aussage einer jüdischen Lehrkraft zum Ausdruck, man müsse „alles immer selber machen als Betroffene“ (S. 186).

Weltweit und auch in Deutschland gibt es eine Zunahme von Antisemitismus und antisemitischer Gewalt bis hin zu Morden wie beim rechtsextremistischen Terroranschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh 2018 oder beim versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019. Der Anfang Mai präsentierte Jahresbericht zur „politisch motivierten Kriminalität“ verzeichnet für das Jahr 2019 über 2.000 antisemitisch motivierte Straftaten und damit einen neuen Höchststand und eine Zunahme um 13 Prozent gegenüber 2018. Diese massive Zunahme von Gewalt erfolgt aber nicht im luftleeren Raum, sondern ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Klimas, in dem Antisemitismus gehegt, als le­gitim empfunden oder in dem ihm zumindest passiv begegnet wird.

Bernstein konstatiert deutliche „Tendenzen der Zunahme und Normalisierung des Antisemitismus“ in der Gesellschaft, die sich „allesamt im sozialen Kontext Schule“ konkretisieren (S. 13). Dabei knüpft sie an die ganz konkreten Erfahrungen von Juden und Jüdinnen an, was ihre Studie sehr anschaulich macht. Sie vermittelt abstraktes Wissen über Antisemitismus und seine vielfältigen Ausdrucksformen und verbindet dieses immer wieder mit Beispielen aus Alltagserfahrungen Betroffener.

Das zweite Kapitel des Buches bietet einen gut gegliederten Überblick über verschiedene Formen des Antisemitismus, vom Antijudaismus bis zum Philosemitismus, vom nationalsozialistischen über den sekundären bis zum israelbezogenen Antisemitismus. Für alle Formen finden sich aktuelle Beispiele in den Interviews mit den Betroffenen.
Im dritten Kapitel werden die unterschiedlichen Perspektiven von Betroffenen und nichtjüdischen Lehrkräften vorgestellt.
Einen eigenen Abschnitt erhalten die jüdischen Lehrkräfte. Auch wenn es inzwischen einige Fälle von Antisemitismus an Schulen gab, die öffentlich wurden und das Problem ins öffentliche Bewusstsein gerückt haben, so zeigen erst die vielen Fälle, die nicht in die Presse kommen, und deren Analyse das ganze Ausmaß auf.

Die Auswertung der Interviews mit 105 nicht-jüdischen Lehrerinnen und Lehrern zeigt „sowohl Defizite im pädagogischen Umgang mit Antisemitismus als auch seine Bagatellisierung und Reproduktion“ (S.383). Gerade die eigene Beteiligung an der Verbreitung von Antisemitismus ist aber in einem hohen Maße tabuisiert, denn es widerspricht in der Regel dem eigenen Selbstbild der Person oder auch der Institution, nicht antisemitisch zu sein.

„Die gesellschaftlichen Tendenzen der Zunahme und Normalisierung des Antisemitismus konkretisieren sich allesamt im sozialen Kontext Schule.“ (S. 13)

Wer bereit ist, diesem Problem selbstkritisch zu begegnen – und die Bereitschaft zur Selbstkritik ist eine wesentliche professionelle Grundlage für alle diskriminierungskritischen Bildungsansätze –, der findet in dem Buch von Julia Bernstein eine Menge Material zur Selbstbefragung, das auch online zur Verfügung steht und sich auch im Unterricht einsetzen lässt.

So gibt es auch einen Katalog mit Aussagen, bei denen man angeben soll, ob sie antisemitisch sind. Auch die einzelnen Kapitel oder Abschnitte schließen immer wieder mit Fragenkatalogen ab, die jeweils auf ein Basiswissen zu bestimmten Themenkomplexen rekurrieren: zu Jüdinnen und Juden in Deutschland, zum Judentum, zur Shoah oder zu Israel. Im Anhang werden diese Fragen dann beantwortet.

Das fünfte Kapitel des Buches enthält Handlungsempfehlungen, die sich aus den Forschungsbefunden, also aus den Erfahrungen der Betroffenen, ableiten. Auf 100 Seiten liefert Bernstein unter anderem Anregungen für den Umgang mit antisemitischen Äußerungen oder Angriffen, eine Übung zur Förderung von Empathie sowie Überlegungen zum Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft.

Einen eigenen Schwerpunkt bildet der israelbezogene Antisemitismus, der  - so Bernstein - unter Schülerinnen und Schülern, aber auch unter Lehrkräften besonders stark verbreitet ist. Zu dessen Kernelementen gehört, dass der Staat Israel dämonisiert wird und Jüdinnen und Juden per se als seine Repräsentatinnen und Repräsentanten adressiert werden. Jüdische Schülerinnen und Schü­ler werden so zum Ziel entsprechender Anfeindun­gen und Angriffe.

Im Abschnitt über Rassismus und Antisemitismus geht es zunächst um die Unterschiede beider Ideologien. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass Antisemitismus oft unsichtbar gemacht wird, indem er lediglich als eine Unterkategorie von Rassismus aufgefasst wird. Gerade in der Migrationsgesellschaft kommt es in der pädagogischen Praxis aber darauf an, „Antisemitismus auch rassismuskritisch und Rassismus auch antisemitismuskritisch zu kontextualisieren“ (S. 304).

Bernstein geht auch der Frage nach, welche Rolle die NS-Zeit für den heutigen alltäglichen Antisemitismus spielt. Bei dem Blick auf die „Echos der Nazizeit“ zeigt sie sich überrascht, wie häufig es direkte Verweise auf Nazi-Symbole und die nationalsozialistische Vernichtungspraxis im Schulalltag gibt. Dazu zählen die Verwendung von Hitlergruß und Hakenkreuzen, Sprüche über „Gas“ und „Vergasung“, in denen Vernichtungsphantasien zum Ausdruck kommen, oder Witze über den Holocaust. Dabei findet man solches Verhalten keineswegs nur unter Schülerinnen und Schülern, die der Neonaziszene zuzuordnen sind. Der Umgang der Lehrkräfte sei durch emotionale Distanz zum Holocaust, die Sehnsucht nach positiven kollektiven deutschen Identitäten, eine Schlussstrichmentalität sowie verschiedene Abwehrmechanismen gekennzeichnet, wie sie typisch für den sogenannten sekundären oder Schuldabwehr-Antisemitismus sind.

Als Fazit der Studie lässt sich festhalten, dass Antisemitismus ein Thema an deutschen Schulen ist, dem es kritisch zu begegnen gilt. Es muss darum gehen, die Betroffenen ernst zu nehmen und zu schützen, aber es geht im Sinne aller auch darum, in der Schule demokratische und an Gleichheitsgrundsätzen orientierte Verhaltensweisen zu leben und einzuüben.

„Antisemitismus ist rassismuskritisch und Rassismus auch antisemitismuskritisch zu kontextualisieren.“(S. 304).

Lehrkräften kommt dabei eine besondere Verantwortung gegenüber allen Schülerinnen und Schülern zu. Wer sich dieser Verantwortung stellen will, findet in der Studie nicht nur die Möglichkeit zu einer breiten theoretischen Auseinandersetzung, sondern in den vielen empirischen Beispielen auch Anstöße zur Reflexion der eigenen Schulpraxis. Praktische Übungen und Handlungsempfehlungen runden das Ganze ab.

Katharina Rhein

Dr. Katharina Rhein ist Leiterin der Forschungsstelle NS-Pädagogik der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Dissertation zum Thema „Erziehung nach Auschwitz in der Migrationsgesellschaft“ stellten wir in der HLZ 1-2/2020 vor.


Julia Bernstein: Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen, Verlag Beltz Juventa, 616 Seiten. April 2020, 49,95 Euro

Prof. Dr. Julia Bernstein hat eine Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Scienes (FAS). Ihr Buch „Antisemitismus an Schulen“ basiert unter anderem auf dem Forschungsprojekt „Mach mal keine ‚Judenaktion!‘“ über „Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus“, das 2018 von Julia Bernstein unter Mitarbeit von Florian Diddens, Nathalie Friedlender und Ricarda Theiss im Rahmen des Programms „Forschung für die Praxis“ der FAS durchgeführt wurde. Die Publikation ist nachzulesen unter www.frankfurt-university.de/antisemitismus-schule.


Bildungsstätte Anne Frank

Im Rahmen der Tuesday Talks der Bildungsstätte Anne Frank sprach Adrian Oeser am 5. Mai mit Julia Bernstein über das Thema Antisemitismus an Schulen. Das Gespräch findet man auf Youtube mit den entsprechenden Suchbegriffen oder unter www.youtube.com/watch?v=CMDy0YoIxSk.

In der Reihe „Tuesday Talks“ wurden für die nächsten Wochen unter anderem folgende Themen angekündigt:

  • am 16. Juni: Im Gespräch mit Isabel Schayani und Christoph Zenses über die Lage in Moria und in Griechenland
  • am 23. Juni: Im Gespräch mit Romeo Franz zur Situation von Romnja in Zeiten von Corona
  • am 30. Juni: Im Gespräch mit Martin Steinhagen über den Mordfall Walter Lübcke

Alle Gespräche kann man im Livestream verfolgen und auf Youtube anschauen.

Alle aktuellen Informationen unter www.bs-anne-frank.de