Bildung für eine autoritäre Demokratie?

Zur Neuausrichtung politischer und demokratischer Bildung

HLZ 5/2019: 70 Jahre Grundgesetz

70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes boomen die Programme zur Förderung der Demokratie. Gute Zeiten für die Demokratiebildung, sollte man meinen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur, weil die Programme selbst Ausdruck gefährdeter Demokratie sind, nicht nur, weil in der Schule die Auseinandersetzung mit Politik zunehmend durch betriebswirtschaftliche Instruktion verdrängt wird und nicht nur, weil die institutionelle Förderung der außerschulischen politischen Bildung gleichzeitig heruntergefahren wird, sondern weil die Programme Mittel und Ausdruck einer umfassenderen Politik geworden sind, die demokratische Bildungsarbeit programmiert, formiert, einschüchtert und bei Zuwiderhandlung verdächtigt, auslädt und ausschließt.

Neue Gesinnungsüberprüfungen in Hessen

Seit dem „Aufstand der Anständigen“ gegen international registrierte rechte Gewalt in Deutschland waren Demokratieförderprogramme auf Landes- und Bundesebene für etwa ein Jahrzehnt auf die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft gerichtet. Die 2010 durch das damals CDU-geführte Bundesfamilienministerium eingeführte „Extremismusklausel“, die die Träger selbst unter Verdacht stellte, markiert das Ende dieser Phase, auch wenn die Klausel nach Protesten zurückgenommen wurde. Demokratiebildung wird nur noch im Kontext von „Extremismus“-Prävention gefördert, womit ein auf Normalitäts- und Feindkonstruktion basierendes Demokratieverständnis implementiert wurde.

2017 forcierte Hessen nochmals die Zurichtung der Demokratieförderung: Das 2018 novellierte Hessische Verfassungsschutzgesetz sieht vor, Mitarbeiter*innen landesgeförderter Demokratieprojekte durch den Verfassungsschutz zu durchleuchten, wenn die Einrichtungen nicht bereits Landesmittel erhalten (1). Die Projektförderung scheint sich besonders zu eignen, gravierende Einschnitte ministeriell und ohne langwierige demokratische Debatten vorzunehmen. Die versendeten Signale kommen auch außerhalb der Projekte an: Exponiert euch nicht, lehnt euch aus keinem Fenster, macht euch nicht angreifbar, durchleuchtet vorsorglich selbst eure Kooperationspartner*innen und Mitarbeiter*innen!

Die Veränderungen vollziehen sich aber nicht nur in Förderprogrammen. Das Hessische Verfassungsschutzgesetz ermöglicht auch, alle Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst durch den Verfassungsschutz zu überprüfen. Sie dürfen widersprechen – aber mit welchen Folgen? Diese neue hessische Gesinnungsüberprüfung wird bundespolitisch flankiert durch die Ankündigung des Innenministers, die Vereinbarkeit der Beamtentätigkeit mit „rechtsradikalen“ und „linksradikalen“ Aktivitäten zu überprüfen. Wie beim sogenannten „Radikalenerlass“ der 1970er Jahre, der in erster Linie Pädagoginnen und Pädagogen traf (HLZ S.14f.), geht es auch hier nicht um Dienstverfehlungen oder Mitgliedschaften in verbotenen Parteien, sondern um die Einschränkung des Grundrechtes der Meinungs- und Berufsfreiheit auf Grundlage politischer Rechtsinterpretationen, die durch das Grundgesetz selbst nicht gedeckt sind.

Im März 2019 wies das Bundesinnenministerium die Bundeszentrale für politische Bildung an, den Künstler Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit als Referenten des Bundeskongresses Politische Bildung auszuladen - ohne Rücksprache mit oder auch nur Information an die beiden Mitveranstalter des Kongresses, die Deutsche Vereinigung für politische Bildung e.V. und den Bundesausschuss Politische Bildung e.V. Wenn mit Bundesmitteln nicht mehr gefördert wird, was eine „Polarisierung der politischen Debatte vorantreibt“ (so die Begründung des Ministeriums), dann wird dies weitreichende Folgen für außerschulische und schulische politische Bildungsarbeit haben. Der Vorfall stellt zudem einen massiven Eingriff in die Unabhängigkeit der beiden Dachverbände der Politischen Bildung dar, die dem Innenministerium anders als die Bundeszentrale für politische Bildung nicht weisungsgebunden sind.

Im Januar 2019 fällte der Bundesfinanzhof im Verfahren über die Gemeinnützigkeit von Attac ein folgenreiches Urteil:
„Politische Bildung vollzieht sich in geistiger Offenheit. Sie ist nicht förderbar, wenn sie eingesetzt wird, um die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen.“ (Urteil vom 10.1.2019, V R 60/17)

Sollte diese Rechtsauffassung, die sich weder aus der Abgabenordnung noch aus Gesetzen ergibt, Bestand haben, müssen freie Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung um ihre Gemeinnützigkeit und um ihre Förderung fürchten, wenn ihre Bildungsarbeit dazu beitragen soll, Politik zu verändern – etwa zur Verbesserung von Arbeits- und Lebensverhältnissen oder zur Wahrung der ökologischen Lebensgrundlagen.

Pädagoginnen und Pädagogen in und außerhalb von Schule sowie Bildungsträger sind zu Recht alarmiert. Immer enger werden die Auslegungen, was politische Bildungsarbeit „darf“, immer restriktiver und autoritärer werden die zu Grunde liegenden Vorstellungen von Demokratie. „Was ist erlaubt?“ Das ist eine der häufigsten Fragen von Lehramtsstudierenden für das Fach Politik und Wirtschaft – und zwar schon bevor die AfD Denunziationsportale für kritische Lehrerinnen und Lehrer einrichtete. Und auch Mitarbeiter*innen in der staatlich geförderten außerschulischen Bildungsarbeit sind damit konfrontiert, dass die Pflicht des Staates und seiner Repräsentant*innen, die Chancengleichheit der (nicht als verfassungswidrig verbotenen) Parteien zu schützen, als politische Neutralitätspflicht fehlgedeutet wird. Unter Druck gerät eine zentrale Aufgabe politischer Bildungsarbeit, Jugendliche und Erwachsene durch kritische Auseinandersetzung mit politischen Parteien in die Lage zu versetzen, die Politik von Parteien zu beurteilen.

Die Übergriffe des repressiven Staatsapparates auf die demokratische Verfasstheit von Bildungsarbeit wären weniger folgenreich, wenn sie durch andere Akteure des Staates korrigiert würden, die etwa für Kultur, Wissenschaft und Soziales zuständig sind. Aber dies ist nicht der Fall. Die Forderung, den Innenministerien die Zuständigkeit für Demokratieförderung und politische Bildungsarbeit zu entziehen, wo sie sie innehaben, ist daher so notwendig, wie sie alleine nicht ausreichen wird.

Die Regierungskoalition von CDU und Grünen hat 2018 vereinbart, die politische Bildungsarbeit zu stärken (HLZ 4/2019) und einen „durchgängigen Politikunterricht auf allen weiterführenden Schulen“ sicherzustellen. Dies wäre eine deutliche Aufwertung der schulischen politischen Bildung, aber nur wenn eine fachlich angemessene Umsetzung in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern und eine entsprechende Einstellungspraxis folgen würden. Inhaltlich will die Koalition die politische Bildungsarbeit vor allem in den Dienst der erzieherischen („Extremismus“-)Prävention stellen, auch durch Hinzuziehung der Polizei. Einer „Verrohung der Gesellschaft“ soll „frühzeitig und entschieden“ durch „Grundrechtsklarheit, Wertevermittlung und Demokratieerziehung“ entgegengetreten werden. Politische und historische Bildung sei die „Voraussetzung für Partizipation“ und „existenziell für den demokratischen Rechtsstaat“. In dieser funktionalen Perspektive werden Kinder und Jugendliche nicht als politische Subjekte adressiert, die qua Bildung ihre Interessen erkennen und in Gesellschaft und Politik vertreten können. Erwachsene werden ebenso wenig mitgedacht wie nicht-deutsche Bürger*innen oder Non-Citizens, deren Grundrechte in besonderer Weise prekär sind bzw. vorenthalten werden.

Demokratie bilden statt Grundrechte einschränken

Die obrigkeitsstaatliche Einhegung und die Formierung pädagogischer Arbeit in und außerhalb von Schule und Hochschule entsprechen nicht dem Grundgesetz. Aber dieses kann nur die Verfassungsnormen, nicht aber die Verfassungswirklichkeit schützen – das zeigt die Geschichte des Radikalenerlasses. Die Handlungsspielräume von Bildungsarbeit ebenso wie die Grundrechte müssen politisch verteidigt (und weiterentwickelt) werden. Den Kampf um das Grundgesetz zu führen, bedeutet im Jahr 2019 auch, um die Grundlagen politischer und demokratischer Bildungsarbeit zu kämpfen.

Julika Bürgin und Andreas Eis

Julika Bürgin ist Professorin mit Schwerpunkt Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Andreas Eis ist Professor für Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Kassel. Beide sind aktiv im Forum kritische politische Bildung.

(1) Das Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes vom 25.6.2018 erlaubt dem Landesamt für Verfassungsschutz die Übermittlung personenbezogener Daten an „inländische öffentliche Stellen“ (§ 20 Abs.1), auch dann, „wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden“. Das gilt u.a. für den Fall einer „erstmaligen Förderung von Organisationen mit Landesmitteln, sofern diese in Arbeitsbereichen zur Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen tätig werden sollen“, sowie die „Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben, mit deren Einwilligung“.

Forum kritische politische Bildung

Die Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung von 2015 und eine FAQ-Liste zum „Extremismus“-Konzept, zur vermeintlichen Verpflichtung der politischen Bildung zur „Neutralität“ und zur „Sicherheitsüberprüfung“ von Demokratieprojekten findet man im Internet unter faq.kritische-politische-bildung.de.
Eignet sich das „Extremismus“-Konzept für die Demokratieförderung?

  • Welche Erfahrungen machen Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, mit dem „Extremismus“-Konzept?
  • Welches Demokratieverständnis liegt dem „Extremismus“-Konzept zu Grunde?
  • Können Demokratieprojekte Jugendliche als potentielle „Gefährder der Demokratie“ ansprechen?
  • Kann die Förderung von Demokratieprojekten daran gebunden werden, die „fdGO“ anzuerkennen?
  • Ist die „wehrhafte Demokratie“ eine gute Begründung für Demokratieprojekte?
  • Werden Träger, die ihre Mitarbeiter*innen nicht durch den Verfassungsschutz überprüfen lassen, mit den Fördermitteln machen, was sie wollen?
  • Sind die Träger und Mitarbeiter*innen politischer Bildungsarbeit zur (politischen) Neutralität verpflichtet?
  • Sind Landes- oder Bundesämter für Verfassungsschutz geeignet, die Qualität der Demokratieförderung sicherzustellen?
  • Sind Sicherheitsüberprüfungen von Demokratieprojekten und ihren Mitarbeiter*innen verhältnismäßig?
  • Literatur und Ressourcen
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