Deprimierendes Demokratieverständnis

Politische Bildung als positiver Verfassungsschutz?

HLZ 5/2020: Rechte Hetze und Gewalt

Der Struktur etlicher großer Programme zur finanziellen Förderung politischer Bildung liegt das Extremismusmodell zugrunde, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Dessen Logik stellt ein auch demokratietheoretisches Problem für die politische Bildungsarbeit dar, sofern diese einem kritischen und emanzipatorischen Anspruch folgt und auf eine fortwährende und nach Möglichkeit wachsende Demokratisierung der Gesellschaft ausgerichtet ist. Dieser Anspruch gibt sich nicht mit der eher sicherheitspolitisch motivierten Logik zufrieden, den Status quo zu erhalten, sondern beruht auf der historischen Einsicht, dass demokratische Gleichheits- und Freiheitsrechte immer erkämpft und verteidigt werden mussten und zwar in der Regel auch gegen die jeweilige Staatsgewalt.

Wer schützt hier eigentlich wen?

Kritik am Staat gilt aber in der extremismustheoretischen Logik der Tendenz nach per se als demokratiegefährdend und „extremistisch“, während antidemokratische Tendenzen in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft ausgeblendet werden, weil das Problem angeblich nur an den gesellschaftlichen Rändern bestehe. Vertreter*innen dieses Ansatzes betrachten sich als Schützer*innen der demokratischen Verfassung. Politische Bildung hätte ihre Aufgabe demnach im „positiven Verfassungsschutz“ und könne folglich nur durch Personen betrieben werden, die möglichst keine tiefergehende Kritik an Staat und Gesellschaft formulieren. Diese Auffassung hat eine Geschichte, die im Folgenden kurz beleuchtet werden soll.

In der neu gegründeten BRD lag politische Bildung eigentlich im Aufgabenbereich der Länder. Am 1. Juni 1950 wurde sie bei der Beratung eines Gesetzentwurfs des Innenministeriums zur „Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes“ jedoch Thema im Bundestag. Hans Ritter von Lex (CSU), Staatssekretär im Bundesinnenministerium, bezeichnete in seiner Einbringungsrede die politische Bildung neben polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen als dritte und „zugleich wirksamste Form des Verfassungsschutzes“. Ziel sei es, „im besonderen die Jugend eines Volkes in der Achtung vor der demokratischen Verfassung des Staates zu erziehen“. Dies sei um so dringlicher, als „die zersetzende Gegenpropaganda antidemokratischer Kräfte“ zunehme, „so daß eine sachliche Aufklärung der breiten Massen über das Wesen der Demokratie und über ihre Arbeitsweise mehr denn je vonnöten ist“.

1919 war derselbe Hans Ritter von Lex an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt, 1933 verhandelte er für die BVP mit Adolf Hitler über eine Koalitionsregierung in Bayern und stimmte für das Ermächtigungsgesetz. Ab Herbst 1933 war er im Reichsinnenministerium in Berlin, danach von 1946 bis 1948 Ministerialdirektor im bayerischen Innenministerium und von 1950 bis 1960 Staatssekretär im Bundesinnenministerium.

Widerspruch kam ausschließlich von dem 1933 inhaftierten Widerstandskämpfer Walter Fisch (KPD), dessen jüdische Mutter in Auschwitz ermordet worden war. Es müsse, so Fisch in seiner Rede im Bundestag, „um die Demokratie im Lande sehr schlecht bestellt sein, wenn sie sich ausgerechnet einen Mann, der 1933 dem Hitlerschen Ermächtigungsgesetz seine Zustimmung gegeben hat, heute hier in diesem Hause als Fürsprecher und als Generalanwalt für den Schutz der Demokratie aussucht“. Otto Heinrich Greve (SPD) entgegnete dem kommunistischen Abgeordneten, man werde sich widersetzen, „diesen Staat noch einmal durch Ihre Tätigkeit und die Ihrer Freunde auf der politischen Rechten verderben zu lassen“.

Der Antikommunismus hat eine lange Tradition

In dieser Debatte im Jahr 1950 erwies sich der Antikommunismus als ein Kernelement des bis heute bestehenden totalitarismustheoretisch geprägten Denkens, das man aktuell wohl als extremismustheoretisch bezeichnen würde. Außerdem wird deutlich, wie trotz aller behaupteten Gegnerschaft zum Nationalsozialismus dann doch gerade die als Gefahr ausgemacht wurden, die schon 1933 als Gegner der Nazis verfolgt wurden.

Das 1952 gegründete Zentrum der politischen Bildung trug den bezeichnenden Namen „Bundeszentrale für Heimatdienst“, 1963 wurde sie in „Bundeszentrale für politische Bildung“ (BpB) umbenannt. Sie unterstand dem auch für den politischen und polizeilichen Verfassungsschutz zuständigen Bundesinnenministerium und wurde zu einem maßgeblichen Organ für die Verbreitung der totalitarismustheoretisch geprägten Vorstellung einer „wehrhaften Demokratie“, die sich gleichermaßen gegen links- und rechtsextremistische Bestrebungen zu wehren habe. Die damit einhergehende Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus ermöglichte es alten Nazis, dass ihnen eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit erspart blieb und sie sich über ihren Antikommunismus in Zeiten des Kalten Krieges als vermeintliche Demokraten inszenieren konnten.

Ritter von Lex, der von 1951 bis 1956 maßgeblich am Verbotsverfahren gegen die KPD beteiligt war, definierte 1956 die „psychologische Abwehr des Kommunismus“ als zentrale Aufgabe der Bundeszentrale für Heimatdienst. Das „Ostkolleg“ der Bundeszentrale wurde ab 1957 ein Sammelbecken für alte Nazis. Federführend beim Aufbau des Ostkollegs war Gerhard von Mende. Er war während der NS-Zeit Mitglied der SA und Leiter der „Führungsgruppe III Fremde Völker“, die Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete untergeordnet war. Als Autor des Buchs „Die Völker der Sowjetunion“ galt er als Experte in „Judenfragen“ und nahm als solcher an einem Folgetreffen der Wannseekonferenz, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen worden war, teil. Antikommunistische und antisemitische Hetze waren im Nationalsozialismus eng verbunden; die internationalistische Arbeiterbewegung wurde als jüdische Weltverschwörung mit der Zentrale in Moskau betrachtet. Dies ist ein weiterer Aspekt, der den Antikommunismus für die alten Nazis so attraktiv machte: Bei gleichzeitigem Eintreten für den demokratischen Staat konnte gewissermaßen kodiert auch der Antisemitismus weiter geäußert werden, da ja alle wussten, dass man hier jüdische Verschwörungen vermutete.

Misstrauen und Sicherheitsüberprüfung

Dieser historische Rückblick soll nicht dazu dienen, zu behaupten, dass es keine Veränderungen gegeben hätte. Gerade die späten 1960er Jahre markieren einen wichtigen Wendepunkt, der sich auch auf die politische Bildung auswirkte. Der Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass es bestimmte Traditionslinien gibt, die es sich auch für die Einschätzung gegenwärtiger Politiken bewusst zu machen gilt: Der mit dem Totalitarismusansatz verbundene Kampf gegen Linke ging immer mit der Stärkung rechter Politiken einher. Wer sich heute politische Debatten anschaut, kann den rhetorischen Kniff mit schöner Regelmäßigkeit beobachten: Wenn über rechte Gewalt gesprochen werden soll, kommt es schnell zum reflexartigen Ablenkungsmanöver, auf die angeblichen Gefahren von links zu verweisen. Insofern scheint es kein Zufall zu sein, dass mit dem aktuell zu verzeichnenden gesellschaftlichen Rechtsruck auch vermehrt gegen links vorgegangen wird. Das gilt nicht nur, aber vor allem für die AfD, die unter anderem mit parlamentarischen Anfragen die Träger der politischen Bildungsarbeit diskreditieren will, die im Bereich der Demokratie- und Menschenrechtsbildung tätig sind. Aber auch die etablierten Parteien begegnen den Trägern der politischen Bildung und ihren Mitarbeiter*innen mit Misstrauen. Dies zeigen die Maßnahmen zur Sicherheitsüberprüfung und Kontrolle der Träger, die teils am politischen Protest gescheitert sind, teils aber auch erfolgreich durch- und umgesetzt wurden.
Die Auffassung von politischer Bildung als positivem Verfassungsschutz geht mit einem Demokratieverständnis einher, das Demokratie auf den Status quo reduziert und nach einem Top-Down-Modell funktioniert, in dem der Staat demokratische Ansprüche setzt. Demokratie müsste aus Perspektive kritischer politischer Bildung demgegenüber als Prozess gedacht werden, der dem Anspruch folgt, demokratische Rechte und Freiheiten stetig zu verbessern und zu erweitern. Für Max Horkheimer, der 1950 vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Verfolgter des NS-Regimes die Aufgaben politischer Bildung reflektierte, kam es nicht nur darauf an, „mit dem Staate übereinzustimmen, sondern auch darauf, daß wir den Menschen dazu erziehen, daß er in der Lage ist, dem Staate Widerstand zu leisten, wenn es sein muß.“

Für eine kritische politische Bildung

Begreift man Demokratie als fortlaufenden Prozess der Demokratisierung, müsste diese logischerweise die gesamte Gesellschaft umfassen. Der Mangel an demokratischem Bewusstsein, der sich beispielsweise in verstärkten antisemitischen und rassistischen Einstellungen äußert, muss die ganze Gesellschaft in den Blick nehmen. Die Extremismustheorie behauptet hingegen, es gäbe eine Mitte der Gesellschaft, die völlig unbedenklich im Einklang mit allen demokratischen Ansprüchen stehe, während sich alle Probleme an linken und rechten Rändern verorten ließen, die es folglich in gleicher Weise zu bekämpfen gälte. Dass die einen mit ihrer menschenverachtenden Ideologie auf die vollständige Abschaffung der Demokratie zielen und die anderen versuchen, im Kern demokratische Ansprüche auszuweiten, spielt in dieser Logik keine Rolle. Nicht erst seit Halle und Hanau ist es höchste Zeit, die extremismustheoretische Brille abzulegen.

Katharina Rhein

Dr. Katharina Rhein ist Leiterin der Forschungsstelle NS-Pädagogik der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Dissertation zum Thema „Erziehung nach Auschwitz in der Migrationsgesellschaft“ stellten wir in der HLZ 1-2/2020 vor.­


Zum Weiterlesen:

Der Artikel in dieser HLZ beruht auf einer Veröffentlichung von Katharina Rhein in dem Buch „Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von links und rechts“, das von Tom David Uhlig, Eva Berendsen und Katharina Rhein herausgegeben wurde (304 Seiten, Edition Bildungsstätte Anne Frank 2. Verbrecher Verlag Berlin 2019, 19 Euro).