Die extreme Rechte in Hessen

Die extreme Rechte in Hessen

HLZ 5/2020: Rechte Hetze und Gewalt

Hessen ist quantitativ gesehen keine Hochburg der neonazistischen Szene. Doch die Gewalttaten haben zugenommen und die militanten Netzwerke wurden von behördlicher Seite viel zu lange verharmlost und unterschätzt.

Der Blick auf die offiziellen Zahlen über die erfassten Mitglieder der „rechtsextremen“ Szene, die das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in den vergangenen Jahren veröffentlichte, legt nahe, dass trotz der erschütternden rechtsterroristischen Attentate der vergangenen Monate Hessen im bundesweiten Vergleich weiterhin nicht als Hochburg der organisierten neonazistischen Szene bezeichnet werden kann. Auch hat die Szene von dem seit 2015 in Teilen der Gesellschaft zu verzeichnenden Rechtsruck nicht nennenswert profitiert. So verzeichnete das LfV zwischen 2016 und 2018 nur einen leichten Anstieg der registrierten Personen von 1335 auf 1475. Die Zahlen für 2019 lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor.

Zunehmend bedeutungslos: NPD und III. Weg

In den medialen Debatten über die Szene dominiert häufig der Blick auf die strukturell leicht darstellbaren Parteien. Doch NPD, „Der III. Weg“ und „Die Rechte“ weisen landesweit gerade einmal 285 Mitglieder auf (+20 seit 2016). Den Großteil (260) davon verbucht die NPD auf sich, die damit weit hinter ihrem Hoch zurückliegt (450 Mitglieder im Jahr 2008). Handlungsfähige Strukturen kann sie lediglich noch in der Wetterau und im Lahn-Dill-Kreis aufweisen. Und auch in diesen einstigen Wahlhochburgen musste die NPD bei der Landtagswahl 2018 deutliche Verluste hinnehmen, wohl vor allem zugunsten der AfD. Das Ergebnis von landesweit 0,2 % der Stimmen (2013: 1,1 %) kennzeichnet einen weiteren Tiefpunkt der NPD. Neben der (inzwischen korrigierten) Wahl von Stefan Jagsch zum Ortsvorsteher in Altenstadt-Waldsiedlung konnte die NPD zuletzt lediglich durch die bürgerwehrähnlichen, auf Social Media ausgerichteten „Schutzzonen-Spaziergänge“ durch hessische Innenstädte oder szeneinterne Rechtsrock-Konzerte mit namhaften Neonazibands öffentliche Aufmerksamkeit erzielen. Doch die Gefahr, die von der NPD ausgeht, liegt fernab ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Davon zeugte im November 2018 eine Hausdurchsuchung in einem Anwesen in Leun-Biskirchen. In diesem Anwesen, das im Besitz eines langjährigen NPD-Mitgliedes ist und regelmäßig für Neonazi-Konzerte genutzt wird, wurden neben Hakenkreuz-Binden auch Waffen und ein Schießstand entdeckt. Gerade ein Blick auf die bei solchen Konzerten anwesenden Personen verdeutlicht, dass die NPD auch in Hessen immer wieder eine Schnittstelle für bundesweit vernetzte Personen aus dem militanten Spektrum darstellt, auch aus dem Umfeld der im Januar 2020 verbotenen Gruppierung „Combat18“.

Die Mitglieder und Sympathisantinnen und Sympathisanten der Kleinstparteien „Der III. Weg“ und „Die Rechte“ (zusammen 25 Mitglieder) stammen nahezu gänzlich aus dem gewaltbereiten Spektrum. Ihnen geht es im Gegensatz zur NPD weder um Mitgliederzuwachs noch um parlamentarische Erfolge. Der Parteienstatus wird vielmehr dazu genutzt, um legale und schwer zu verbietende Strukturen und Aktionsräume zu schaffen, was dem „III. Weg“ in Süd- und Westhessen und im Landkreis Fulda partiell gelang. Führende Mitglieder von „Die Rechte“ traten lediglich durch Drohungen gegen politische Gegnerinnen und Gegner und eine Demonstration in Kassel in Erscheinung. Insbesondere dem „III. Weg“ gelang es in Hessen, durch ein radikales Auftreten Personen aus den ehemaligen militanten Kameradschaftsstrukturen in Hessen zu reaktivieren. Darunter befindet sich beispielsweise ein Ehepaar aus dem Raum Limburg, das Mitte der 2000er Jahre in hessischen Kameradschaftsstrukturen agierte und 2008 an Schießübungen in der Schweiz teilnahm.

Häufig unterschätzt: Das Kameradschaftsspektrum

Mittlerweile sind alle bis ins Jahr 2015 im Kameradschaftsnetzwerk „Freies Netz Hessen“ (FNH) organisierten Gruppen aus der Öffentlichkeit verschwunden. Das LfV sieht dieses Spektrum als „parteiungebunden“ und – fälschlicherweise – als „weitgehend unstrukturiert“ an. Seit 2016 gibt es einen besorgniserregenden Anstieg um 120 Personen, vor allem aber auch einen Anstieg der als gewaltbereit eingestuften Personen um 70 % (von 400 auf 680). Damit gilt nunmehr fast  jeder zweite „Rechtsextremist“ für das LfV als gewaltbereit.

Beobachtungen bei Aufmärschen und Neonazi-Konzerten belegen, dass die Akteurinnen und Akteure aus dem FNH keineswegs in Gänze verschwunden, sondern zum Teil weiterhin aktiv und bundesweit vernetzt sind. So konnten beim „Schild und Schwert-Festival“ in Sachsen 2018 mehr als hundert Personen aus Hessen gezählt werden. Auch auf Demonstrationen außerhalb Hessens sind immer wieder hessische Neonazis aus dem Spektrum des FNH präsent, auch bei gewalttätigen Übergriffen. Zunehmend lässt sich zudem eine Reaktivierung älterer Kameradschaftsmitglieder beispielsweise aus den Reihen der „Berserker Kirtorf“ beobachten.

Aus dem Umfeld der Gruppe „Aryans“ kamen die Neonazis, die nach einem Aufmarsch am 1. Mai in Halle eine Wandergruppe überfielen, die sie fälschlicherweise für Antifaschistinnen und Antifaschisten hielten. Zahlreiche Personen dieser bundesweit agierenden Gruppe waren bereits in den 1990er Jahren in später verbotenen militanten Gruppierungen wie „Blood & Honour“ oder in der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) aktiv. Nachdem bei Hausdurchsuchungen in Hessen und Bayern Waffen gefunden wurden, ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen die 2016 gegründeten „Aryans“ wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung. Auch dies ist kein Einzelfall, wie die Hausdurchsuchungen im März 2020 bei der bundesweit organisierten Gruppierung „Aryan Circle Germany“, um den mehrfach – u.a. wegen Totschlags – verurteilten ehemaligen Kasseler Neonazi Bernd Tödter deutlich machten.

Seit 2016 gibt es auch in Hessen einen deutlichen Anstieg der Straf- und Gewalttaten mit einem rechten Hintergrund. Nach einem leichten Rückgang im Jahr 2018 registrierte das Innenministerium für 2019 mit 917 Straftaten ein Langzeithoch. Gegenüber 2018 war dies ein Anstieg von mehr als 50 Prozent. Auch die Zahl der erfassten Gewalttaten lag mit 33 auf einem traurigen Rekordhoch. Allerdings können nicht alle Straf- und Gewalttaten der organisierten Szene zugerechnet werden, denn hier werden auch Täterinnen und Täter erfasst, die zwar aus rassistischen oder antisemitischen Motiven handelten, jedoch nicht in extrem rechte Netzwerke eingebunden waren. Diese Entwicklung zeigte sich in Hessen in erschreckender Art und Weise im Juli 2019 in dem Mordversuch an einem Eritreer in Wächtersbach und schließlich in den Mordanschlägen von Hanau.

Haben die Behörden zu lange weggeschaut?

Die seit 2015 durch die Bundesanwaltschaft eingeleiteten Anklagen gegen Gruppierungen wie „Revolution Chemnitz“, „Gruppe Freital“ und andere wegen Bildung terroristischer Vereinigungen vermitteln den Anschein, als werde endlich konsequenter gegen die militante Szene vorgegangen. In Hessen lässt sich ein solches Vorgehen jedoch erst seit Juli 2019 – wohl als Reaktion auf den Mord an Dr. Walter Lübcke – erkennen. Die „Besondere Aufbauorganisation (BAO) Hessen R“ des Landeskriminalamts umfasst 140 Beamtinnen und Beamte und soll den „Druck auf die rechtsextremistische Szene und rechte Straftäter“ erhöhen. Seit Juli 2019 soll die BAO 1.100 Fahrzeuge, Personen und Veranstaltungen kontrolliert haben. Im Zuge landesweiter Hausdurchsuchungen wurden wiederholt Waffen gefunden. Doch gerade die Aufarbeitung des Lübcke-Mordes macht deutlich, dass dieses Vorgehen viel zu spät kommt, denn insbesondere in Nordhessen konnten militante Netzwerke über viele Jahre relativ ungestört agieren. Auch der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stefan E. und dessen mutmaßlicher Unterstützer Markus H. waren seit spätestens Anfang der 2000er Jahre in militanten Netzwerken in Nordhessen aktiv und hätten den Behörden aufgrund diverser Straftaten und Gewaltverbrechen seit rund 20 Jahren bekannt sein müssen. Obwohl beide noch 2009 an Angriffen auf eine Mai-Kundgebung des DGB in Dortmund beteiligt waren, stufte sie das LfV 2015 als „abgekühlt“ ein und stellte die Beobachtung ein. Noch im gleichen Jahr traten beide schließlich auf jener Veranstaltung in Kassel in Erscheinung, auf der Walter Lübcke sprach und die den Ausgangspunkt für den nachfolgenden Mord darstellen sollte. Es ist ein politischer Skandal, dass vieles von dem, was wir heute über die mutmaßlichen Täter wissen, vornehmlich antifaschistischen Recherchenetzwerken und investigativ arbeitenden Journalistinnen und Journalisten zu verdanken ist.
Dieser öffentliche Druck auf das LfV hat das Amt offenbar genötigt, die eigene Arbeit zu hinterfragen. Ende März 2020 musste das Amt einräumen, 20 weitere Personen falsch eingeschätzt zu haben, 150 weitere Fälle sollen noch überprüft werden. Sobald es die Corana-Krise zulässt, wird sich erneut ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit den Versäumnissen des LfV im Umgang mit Neonazis befassen.

Ungeklärt: Verbindungen zu den Morden des NSU

Dabei muss auch der Frage nach möglichen Bezügen der Angeklagten zum Mord an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel nachgegangen werden. Der aus Thüringen stammende H. stand in einem Kennverhältnis zu Yozgat und wohnte unweit von dessen Internetcafé. Er wurde im Juni 2006 von der Polizei zu dem Mordfall befragt, da er auffallend häufig die Fahndungsseite des LKA angeklickt hatte. Außerdem gilt es zu klären, wer die Informantinnen und Informanten des NSU-Kern-Trios in Kassel waren und wer die Skizze von Halit Yozgats Internet-Café erstellt hat, die in den Trümmern der Wohnung des NSU in Zwickau gefunden wurde. Deshalb wird es Zeit, die nötigen Akten zu öffnen. Dazu gehören auch explizit jene, die das LfV in den Jahren 2013 und 2014 erstellte, um die eigenen Versäumnisse bei der Beobachtung der Szene in Hessen aufzuarbeiten. Doch noch immer sind diese Akten 30 Jahre für die Öffentlichkeit gesperrt.

Sascha Schmidt

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Gewerkschaftssekretär des DGB Hessen-Thüringen und dort unter anderem zuständig für den Themenbereich Extreme Rechte. Er ist Mitglied im Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus in Hessen und forscht und schreibt seit vielen Jahren zu diesem Themenbereich.


6. April 2006: Halit Yozgat in Kassel ermordet

Jedes Jahr am 6. April versammeln sich Menschen auf dem Halit-Yozgat-Platz in Kassel, um an der Veranstaltung zum Gedenken an Halit Yozgat teilzunehmen, der am 6.April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé an der Holländischen Straße vom NSU ermordet wurde. Da eine solche Veranstaltung am 6. April 2020 aufgrund der Corona-Pandemie in der bisherigen Form nicht stattfinden konnte, rief die Initiative 6. April dazu auf, unter Berücksichtigung der geltenden Vorschriften Blumen am Halitplatz niederzulegen, Transparente und Plakate an die Fenster und Balkone zu hängen und Fotos und Videos mit #HalitGedenken im Internet hochzuladen. Ebenfalls am 6. April 2020 meldeten die Zeitungen eine neue Panne beim hessischen Verfassungsschutz: Akten über Stephan E., den mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der jetzt mit einer weiteren Straftat im Jahr 2003 in Verbindung gebracht wird, wurden „vernichtet“.