Grundgesetz und Hessische Verfassung

Die Mitbestimmung von Gewerkschaften und Betriebsräten

HLZ 5/2019: 70 Jahre Grundgesetz

„Bundesrecht bricht Landesrecht“, lautet der knappe Wortlaut des Artikel 31 des Grundgesetzes. Dass die Hessische Verfassung (HV) bereits am 1. Dezember 1946 und damit deutlich vor dem Grundgesetz (GG) in Kraft getreten ist und Teile der Hessischen Verfassung mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes unwirksam wurden, war zuletzt Gegenstand der Diskussionen und Beratungen über die Reform der Hessischen Verfassung, die mit einer Volksabstimmung am Tag der Landtagswahl im Oktober 2018 abgeschlossen wurde. Die Zulassung der Todesstrafe in Artikel 21 HV und deren Abschaffung in Artikel 102 GG ist der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige Widerspruch zwischen den beiden Verfassungen.

Hessische Verfassung: Lehren aus der Geschichte

Die meisten Gegensätze lassen sich nur aus den politischen Veränderungen erklären, die sich in den zweieinhalb Jahren zwischen dem 1. Dezember 1946 und dem 23. Mai 1949 vollzogen und kurz in dem Begriff der Restauration zusammengefasst werden können. Der Ende 1946 noch bestehende Konsens in der Bevölkerung und in den Parteien, dass die Zeit der NS-Diktatur nur durch eine konsequente Demokratisierung und die Beseitigung der ökonomischen Ursachen für die faschistische Herrschaft überwunden werden kann, wurde im Zuge der politischen Spaltung, die dann zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR führte, zerstört.

Ausdruck des Konsenses, der in Hessen von allen Parteien von der KPD bis zur CDU getragen wurde, waren insbesondere die – bis heute bestehenden und auch bei der Verfassungsreform 2018 nicht angetasteten – „sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Pflichten“ in den Artikeln 27 bis 47 der Hessischen Verfassung. Artikel 41, der auf Weisung der US-Militäradministration in einer gesonderten Volksabstimmung bestätigt werden musste, schrieb vor, dass der Bergbau und die Betriebe der Schwerindustrie, der Energiewirtschaft und des Schienenverkehrs „mit Inkrafttreten dieser Verfassung in Gemeineigentum überführt“ werden. Dieser Artikel wurde mit Inkrafttreten des Grundgesetzes und seiner weitreichenden Garantie des Eigentums zu einer historischen Reminiszenz. Zwar kennt auch das Grundgesetz eine Sozialbindung des Eigentums, dessen Gebrauch „zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“ soll (Art.14.2 GG), und die Möglichkeit einer Enteignung „zum Wohl der Allgemeinheit“ (Art.14.3 GG), keineswegs aber die weitgehenden Möglichkeiten der Hessischen Verfassung. Sie untersagt, jeden „Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung zu politischer Macht“ (Art.38.1 HV). Vermögen, „das die Gefahr solchen Missbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, ist (…) in Gemeineigentum zu überführen“ (Artikel 38.2 HV). „Bei festgestelltem Missbrauch wirtschaftlicher Macht“ ist eine Entschädigung „zu versagen“ (Artikel 38.3 HV). All diese Regelungen sind ein deutlicher Beleg dafür, dass die Erinnerungen an die Endzeit der Weimarer Republik und den Beitrag von Großkonzernen, Industriellen und Medienmagnaten am Aufstieg der NSDAP noch sehr präsent waren.

Das Grundgesetz: Beginn der Restauration

Das Inkrafttreten des Grundgesetzes und die restaurative Entwicklung der Bundesrepublik hatten auch für die Gewerkschaften und die betriebliche Mitbestimmung weitreichende Konsequenzen. Die Hessische Verfassung wies der Wahl von Betriebsräten Verfassungsrang zu: „Die Betriebsvertretungen sind dazu berufen, im Benehmen mit den Gewerkschaften gleichberechtigt mit den Unternehmern in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Fragen des Betriebes mitzubestimmen.“ (Art. 37.2 HV)

Im Grundgesetz kommt das Wort „Gewerkschaften“ dann schon gar nicht mehr vor. Das Recht, sich „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ zusammenzutun und zur Verbesserung dieser Bedingungen „Arbeitskämpfe“ zu führen, ist nur noch ein Unterpunkt des Rechts, „Vereine und Gesellschaften zu bilden“ (Art.9 GG).

Generalstreik am 12. November 1948

Die Forderung nach einer „Demokratisierung der Wirtschaft“ und einer „gleichberechtigte(n) Mitwirkung der Gewerkschaften in allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung“ war eine von zehn Forderungen in dem Aufruf des DGB zu einem – heute weitgehend vergessenen – Generalstreik in der amerikanischen und britischen Besatzungszone (Bizone) am 12. November 1948. Die Anordnung der Militäradministrationen, genau diese Forderung aus dem Aufruf zum Generalstreik zu streichen, konnte nicht mehr umgesetzt werden, da „die Klebekolonnen der Arbeiter“ bereits unterwegs waren, „um an den Fassaden der ausgebrannten Häuserzeilen in den großen Städten ihre Botschaft anzuschlagen“ (1). Von 11,7 Millionen Beschäftigten der Bizone haben sich nach Schätzungen des Gewerkschaftshistorikers Gerhard Beier 9,25 Millionen an dem Generalstreik beteiligt. Trotzdem blieb den Gewerkschaften „ein angemessener politischer Erfolg“, der nach Einschätzung Beiers zur „Vollbremsung der Restauration“ geführt hätte, versagt.

Auch bei dem letzten großen politischen Streik, zu dem die Gewerkschaften in Westdeutschland aufgerufen haben, ging es um Wirtschaftsdemokratie, Gewerkschaftsrechte und betriebliche Mitbestimmung. Im Juli 1952 verabschiedete der Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz, das weit hinter den Regelungen des Betriebsrätegesetzes von 1920 und hinter den Regelungen der Bundesländer in den Westzonen zurückblieb. Die Unternehmerverbände und die Regierungskoalition aus CDU/CSU, FDP und DP im ersten Kabinett von Konrad Adenauer (CDU) weigerten sich von Anfang an, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr als ein Drittel der Aufsichtsratssitze zuzugestehen. Die Gewerkschaften kritisierten außerdem die Absicht, die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst in einem eigenständiges Personalvertretungsgesetz zu regeln und so die Beschäftigten zu spalten.

Die hessische Landesregierung unter Ministerpräsident Zinn (SPD) versuchte noch, durch eine Intervention im Bundesrat Modifikationen zu erreichen – sehr zum Unwillen der Vereinigung der hessischen Arbeitgeber, die kritisierte, „dass die Regierung sich einseitig einen Teil der gewerkschaftlichen Forderungen zu eigen gemacht hat, ohne die hessische Unternehmerschaft wenigstens zu hören“.

100.000 demonstrieren in Frankfurt

Im Rahmen der Proteste gegen das Betriebsverfassungsgesetz versammelten sich am 20.5.1952 rund 100.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Frankfurt, zu einer Kundgebung in Offenbach kamen 20.000 Menschen. (2)
Höhepunkt der Proteste war eine Arbeitsniederlegung in allen Zeitungsverlagen am 28. und 29. Mai 1952. Bundesweit erschienen keine Zeitungen. Klagen der Arbeitgeber auf Entschädigung und Strafverfahren gegen die „Rädelsführer“ führten schließlich zu einem grundlegenden Urteil des Freiburger Landesarbeitsgerichts, das „als generelles Verbot politischer Streiks interpretiert wird“ (3). Das Gericht erklärte die Zeitungsstreiks für „rechtswidrig“, da sie Druck auf ein frei gewähltes Parlament und dessen legislative Befugnisse ausüben sollten. Zahlreiche andere Gerichte schlossen sich – mit Ausnahme des Berliner Arbeitsgerichts – dieser Rechtsauffassung an. Allerdings schloss auch das Gericht in Freiburg nicht aus, dass es auch berechtigte Motive für einen politischen Streik geben könnte: „Sollte durch vorübergehende Arbeitsniederlegung für die Freilassung von Kriegsgefangenen oder gegen hohe Besatzungskosten oder gegen hohe Preise demonstriert werden, dann könnte dieser politische Streik wohl kaum als verfassungswidrig angesehen werden.“

Abendroth und Bauer verteidigen das Streikrecht

Der Marburger Staatsrechtler Wolfgang Abendroth war einer der ersten, der in einem Gutachten im Auftrag des DGB eine andere Position bezog (4). Auch der spätere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, damals noch Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Bremen, mischte sich ein, als Bundeskanzler Adenauer in einem Brief an den DGB die Behauptung aufstellte, die Gewerkschaften planten „eine organisierte Schädigung der Volkswirtschaft“ mit dem Ziel, „der parlamentarischen Mehrheit den gewerkschaftlichen Willen aufzuzwingen“. Bauer wies darauf hin, dass jeder Streik, auch der aus vermeintlich rein wirtschaftlichen Gründen, „eine politische Bedeutung“ habe. Auf jeden Fall seien die notwendigen Lehren aus einem autoritären Rechtsverständnis zu ziehen, das mit „der vollständigen Negation der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts“ in der NS-Zeit seinen Höhepunkt gefunden hatte (5).

Die Niederlage der Gewerkschaften führte zu einer deutlichen Schwächung und auch zu internen Kontroversen. Funktionäre und Mitglieder kritisierten die wenig kämpferische Haltung des DGB-Bundesvorstandes; andere forderten sogar, „die christdemokratischen Bundestagsabgeordneten, die dem Betriebsverfassungsgesetz zugestimmt hatten, aus den DGB-Gewerkschaften auszuschließen“ (6). Auf dem zweiten Bundeskongress des DGB wurde der Bundesvorsitzende Christian Fette abgewählt und durch Walter Freitag von der IG Metall ersetzt.

Das Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes hatte auch für das hessische Betriebsrätegesetz vom 26. Mai 1948 weitreichende Folgen. Dieses Gesetz, das auch Fragen des Betriebszwecks, von Produktion und Absatz sowie neue Arbeitsmethoden in die Mitbestimmung einschloss, war von der amerikanischen Militärregierung zunächst nicht genehmigt worden. Ministerpräsident Christian Stock (SPD) erhob das Gesetz zwar „zum Testfall der Demokratie unter Besatzungsherrschaft“ (7), stimmte aber schließlich dem Kompromiss zu, „die zentralen Artikel über die wirtschaftlichen Rechte der Betriebsräte bis zur Konstituierung der Bundesrepublik zu suspendieren“ (8). Damit war das Schicksal des fortschrittlichen hessischen Betriebsrätegesetzes spätestens mit Inkrafttreten des bundeseinheitlichen Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1952 besiegelt.

Harald Freiling

(1) Gerhard Beier: Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948. Frankfurt, Köln 1975, S.43
(2) Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de
(3) www.bpb.de/dialog/netzdebatte/219308/ein-bisschen-verboten-politischer-streik?
(4) Wolfgang Abendroth und Ludwig Schnorr von Carolsfeld: Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, 1953
(5) Fritz Bauers Intervention in der Debatte um politischen Streik und Strafrecht; www.fritz-bauer-archiv.de/index.php/widerstandsrecht/politischer-streik
(6) Werner Milert und Rudolf Tschirbs: Vom Wert der Mitbestimmung. Betriebsräte und Aufsichtsräte in Deutschland seit 1945. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2016
(7) Walter Mühlhausen: Karl Geiler und Christian Stock. Hessische Ministerpräsidenten im Wiederaufbau. Marburg 1999, S.114, zitiert nach: LAGIS – Zeitgeschichte in Hessen, www.lagis-hessen.de
(8) ebenda, S.116