Heraus aus dem Schattendasein

Politische Bildung an beruflichen Schulen

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Die Frage, ob Demokratie politische Bildung braucht, würde im Kreis politischer Bildner:innen oder Politiker:innen wohl niemand verneinen. Politische Bildung scheint derzeit so herausgefordert und so bedeutsam wie lange nicht. Schon seit einigen Jahren prägen krisenhafte Ereignisse das Weltgeschehen, selten schien die moderne Demokratie so herausgefordert und die Gesellschaft in solch einem rasanten Wandel. Die aktuelle Debatte wird von Veränderungen der politischen Kultur und der Medien bestimmt, von einer zunehmenden Ablehnung gegenüber staatlichen Institutionen und der damit verbundenen Bedrängnis der repräsentativen Demokratie. All das verweist auf einen dringenden Handlungsbedarf, politische Bildung in der Schule zu stärken.

Gesellschaftlich ist politische Bildung gewollt und auch die Politik fordert mehr gesellschaftliche Teilhabe, mehr Engagement von Bürger:innen in Politik und Gesellschaft und das Einstehen für Demokratie. Institutionell wird jedoch viel zu wenig dafür getan, obwohl die Erziehung zum mündigen Bürger, der sich in der Arbeits- und Lebenswelt bewegt, zentral für die Aufrechterhaltung der Demokratie ist. Auch die durch Digitalisierung und Flexibilisierung schnelllebige Arbeitswelt benötigt Bürger:innen, die sich hier zurechtfinden, gesellschaftliche Debatten mitverfolgen und sich einbringen können. Demokratisches Handeln und Mitbestimmung sind jedoch Prozesse, die keinem Menschen von Geburt an in die Wiege gelegt sind. Als institutionell verankerte Erziehungs- und Bildungsstätte ist die Schule der zentrale Ort, all dies zu erlernen, allgemeinbildende Kompetenzen und Inhalte zu vermitteln und in diesem Sinne die Persönlichkeit der Lernenden zu fördern: „Schule kommt als übergreifende Bildungsaufgabe die Vermittlung von demokratischen Werten und Kompetenzen sowie die Förderung eines Demokratiebewusstseins zu.“ (1)

Zu diesem Schulsystem gehören die berufsbildenden Schulen definitiv dazu, zumal sie die größte Zahl der Schüler:innen erreichen. Die Annahme, politische Bildung gehöre ausschließlich an allgemeinbildende Schulen, kann also nur falsch sein. Die beruflichen Schulen sind zudem „die letzte Institution“, in der „auch Lernende aus politisch distanzierten Herkunftsmilieus (...) mit politischer Bildung in Kontakt kommen“. Deshalb gilt es, gerade dort die „Handlungskompetenz der politisch schlecht repräsentierten Gruppen“ zu stärken und so die Grundlagen der Demokratie zu sichern und zu verbreitern (2).

Demokratie muss erfahrbar sein

Politische Bildung wird in der Schule vor allem im Politikunterricht vermittelt, sofern es ihn gibt. Dort, wo das Fach Politik und Wirtschaft (PoWi) in der Teilzeitberufsschule Prüfungsfach ist, liegt der Schwerpunkt zumeist auf der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Der Politikunterricht in den anderen Klassen findet entweder nur einstündig oder nur in einem Schuljahr statt. Auch die Eingliederung politischer Bildung in Lernfelder führt häufig dazu, dass sie ganz unter den Tisch fällt. Dieses Schattendasein der politischen Bildung kann nur überwunden werden, wenn ihr ein höherer Stellenwert zugeschrieben wird. Dazu müsste sich das Fach PoWi aus der reinen Reproduktion volks- und betriebswirtschaftlicher Themen lösen. Eine weitere Möglichkeit wäre es, Themen der Demokratieerziehung oder aktuelle gesellschaftliche Debatten in Prüfungen einzubauen.

Wie kann die Aufgabe der politischen Bildung an beruflichen Schulen gelingen? Wissensvermittlung ist für den Kompetenzerwerb in allen Bereichen nur ein Teil des Bildungsprozesses. Politische Bildung fußt auf Kompetenzen, die Wissensbestände miteinbeziehen. Ihr wesentliches Ziel ist, Motivation zu erzeugen, sich zu beteiligen, sich zu informieren, sich zu äußern und zuzuhören, also „politisch sein zu wollen“. Dies zu vermitteln, ist nicht auf die gleiche Weise möglich, wie den Unterschied zwischen dem Bundesrat und dem Bundestag zu kennen.

Die Möglichkeit, dass Demokratie in der Schule „gelebt und erfahrbar gemacht“ wird (1), ist im schulischen Ablauf kaum vorgesehen, da Schule selbst nicht demokratisch organisiert ist, nicht für Lehrer:innen und schon gar nicht für Schüler:innen. Der Machtunterschied zwischen Lernenden und Lehrenden führt dazu, dass Schüler:innen oft bereits misstrauisch sind, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden, zum Beispiel zur weiteren Gestaltung des Unterrichts. Sie vermuten einen Test, einen „Hinterhalt“, mit dem die Lehrkraft versucht, herauszufinden, was die Schülerin oder der Schüler „wirklich“ über den Unterricht denkt. Auf echte Beteiligung, Selbstorganisation und das Übernehmen von Verantwortung sind viele Berufsschüler:innen nicht vorbereitet. Dies gilt es zu ändern.

Insgesamt braucht es eine stärkere Verzahnung zwischen Schule und Politik. Dies setzt allerdings voraus, dass der politischen Bildung von Schulen und Betrieben Zeit eingeräumt wird, zum Beispiel für Projekttage oder Exkursionen. Politische Themen, die die Schüler:innen ausdrücklich betreffen, funktionieren im Unterricht besonders gut. Ein Beispiel hierfür ist das Thema der betrieblichen Mitbestimmung, das sich gut für eine Vernetzung zwischen Schule, Betrieb und Gewerkschaften eignet und nah an der Lebenswelt von Auszubildenden ist.

„Gute“ politische Bildung ist das Ergebnis eines Unterrichts, dessen Kern immer noch Politik ist, der sich exemplarisch an Basis- und Fachkompetenzen orientiert, der konzeptionelles Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit sowie politische Einstellungen und Motivation einschließlich der jeweiligen Facetten vermittelt „und dazu vor allem handlungsorientierte Methoden nutzt“ (3).

Politische Bildung braucht Handlungsorientierung

Auch für uns ist die Handlungsorientierung die zentrale Herausforderung für die politische Bildung, die vor allem auch in beruflichen Schulen gestärkt werden sollte. Eine Hürde ist der Stundenplan: Einzelstunden, Doppelstunden von 90 Minuten, in seltenen Fällen 180 Minuten, im Wochenrhythmus oder im zweiwöchigen Unterricht sind gut für kleine Lerneinheiten, die sich im besten Fall aneinanderreihen lassen. Sie schließen Handlungsorientierung nicht aus, für aufwändigere Projektarbeiten ist diese Zersplitterung von Unterrichtseinheiten aber störend. Schließlich gibt es ausgesprochen viele und gute Angebote von politischen und gesellschaftlichen Akteuren, von Vereinen und Verbänden, Gewerkschaften und Instituten, die Workshops, Veranstaltungen und Unterrichtsmaterialien anbieten, die jedoch in der Regel nicht in ein Raster mit 45 oder 90 Minuten zu pressen sind. So werden diese Angebote oft in den unterrichtsfreien Raum abgedrängt, Kapital und Know-how für einen guten Politikunterricht gehen verloren.

Der immer fortwährende inhaltliche Wandel der politischen Bildung setzt eine stetige Weiterbildung der Lehrkräfte voraus. Erfahrungsgemäß scheitert die notwendige Professionalisierung nicht am Willen der Lehrkräfte, sondern an institutionellen Rahmenbedingungen. Auch hier fristet die politische Bildung eher ein Schattendasein, da berufsbezogene Fortbildungen als vorrangig angesehen werden. Lehrkräfte müssen sich zudem selbstständig um Vertretungen kümmern, Unterricht nachholen oder die Fortbildung am späten Nachmittagen nach langen Unterrichtstagen besuchen. Hierfür bräuchte es unbedingt eine neue „Weiterbildungskultur“ innerhalb der Schulen.

Schulen – und damit auch die beruflichen Schulen – sind der zentrale Ort für Jugendliche, in Kontakt mit politischer Bildung zu kommen. Fridays for Future zeigt beispielhaft, dass die Defizite der politischen Bildung in Schule nicht in der mangelnden Motivation der Zielgruppen begründet sind. Vielmehr gibt es bei der Etablierung und Durchführung von „guter“ politischer Bildung so hohe Reibungsverluste mit dem Schulsystem, dass der Output beklagenswert gering ist. In Erinnerung bleiben die mit viel Kraft und Engagement initiierten Projekte, gerade wenn sie dann oft schon nach kurzer Zeit nicht mehr fortgeführt werden, weil „der Aufwand zu groß ist“. Diese schwer zu beschreibende Rückstellkraft ist es, die vieles erschwert oder verhindert und die überwunden werden muss, will man politische Bildung an beruflichen Schulen deutlich stärken.
Katharina Göls und Dan Löwenbein


Katharina Göls und Dan Löwenbein leiten die Fachkonferenz Politik und Wirtschaft der Kerschensteinerschule Wiesbaden.

(1) Frank Schill: Schülerpartizipation an beruflichen Schulen – Die Förderung einer Partizipationskultur im Kontext politisch-demokratischer Bildung, Schneider Verlag Hohengehren GmbH. Baltmannsweiler 2013, S. 2f.
(2) Bettina Zurstrassen: Politisches Lernen in der beruflichen Bildung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Auch das Berufliche ist politisch. Neun Bausteine für den lernfeldorientierten Unterricht. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2021, S. 9–31. S.10
(3) Peter Massing: Die Bedeutung eines reflektierten Politikbegriffs für den Politikunterricht lässt sich kaum überschätzen. In: Kerstin Pohl (Hrsg.): Positionen der politischen Bildung 2. Interviews zur Politikdidaktik. Wochenschau Verlag, Schwallbach/Ts 2016, S.106-121, S.121