Im Gespräch mit Dr. Gesine Bade

Politische Bildung in der Grundschule: Geht das?

HLZ 2022/6: Politische Bildung

Achim Albrecht und Gesine Bade gehören zusammen mit Andreas Eis, Uwe Jakubczyk und Bernd Overwien zum Autorenteam der Streitschrift „Jetzt erst recht: Politische Bildung!“ mit einer Bestandsaufnahme und bildungspolitischen Forderungen zur politischen Bildung (Wochenschau-Verlag 2020). Achim Albrecht (HLZ S.10f.) sprach mit Gesine Bade über die politische Bildung in der Grundschule. Gesine Bade ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel. In ihrer Dissertation betrachtete sie die Perspektiven von Lehrkräften für Sachunterricht auf die politische Bildung.

Achim Albrecht: Es gibt Menschen, die sich verwundert fragen: Sechs- bis Zehnjährige sollen politisch gebildet werden? Was soll das denn sein? Sollen die sich mit aktuellen Nachrichten auseinandersetzen? Das verstehen die doch noch nicht!

Gesine Bade: Politische Bildung in der Grundschule zielt wie in allen Schulstufen darauf ab, die Fähigkeit zu Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität zu fördern. Das Lernen muss dabei an den Fragen und Erfahrungen der Lernenden ansetzen, denn Kinder sind ebenso Teil dieser Gesellschaft wie Erwachsene. Sie müssen als politische Subjekte, mit eigenen politischen Interessen und gesellschaftlichen Erfahrungen anerkannt und ernstgenommen werden. Im Grundschulunterricht, insbesondere im Sachunterricht, muss es strukturell Raum, Zeit und Anlässe geben, damit Kinder in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen ihre eigenen Fragen formulieren können.

Du bezeichnest Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren als „politische Subjekte“. Was heißt das?

Kinder werden immer noch viel zu oft eher als „Werdende“ denn als „Seiende“ gesehen. Ihnen werden viele Eigenschaften abgesprochen: Eigenverantwortung, Vernunft oder Abstraktionsfähigkeiten. Diese negative Sicht auf Kinder wird Adultismus genannt, sie befördert Paternalismus und Exklusion. Dabei vergessen wir oft, dass Kinder eigenständige Individuen sind, mit eigenen politischen Interessen. Und sie sind durch die UN-Kinderrechte-Charta als Rechtssubjekte legitimiert und in ihrem Subjektstatus zu stärken.

Oft wird Kindern dieses Alters vor allem eine Konsumhaltung zugeschrieben: Sie wollen ein Smartphone und die neuesten Klamotten und wollen sich in der Schule mit Chips oder Süßzeug verpflegen dürfen.

Ich halte es für falsch, Kinder auf ihre Konsumwünsche zu reduzieren. Erwachsenen steht es nicht zu, dies zu verurteilen, zumal sie oft nichts anderes vorleben. Politische Bildung sollte Grundschülerinnen und Grundschüler allerdings befähigen, zwischen Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden und durch Werbung hervorgerufene Wünsche zu reflektieren. Spannend wird es bei den politischen Interessen! In Hessen können Grundschulen selbst entscheiden, ob eine Klassensprecherin oder ein Klassensprecher gewählt und eine SV gebildet wird. Gesetzlich verpflichtend ist diese Chance auf Teilhabe nicht. Kinder sind nicht nur in der Schule ungleichen Machtverhältnissen ausgesetzt. Elementare Rechte wie das aktive und passive Wahlrecht werden ihnen vorenthalten. Ihre Interessen und Anliegen werden damit nicht selbst vertreten, sondern im besten Falle von Erwachsenen repräsentiert. Ein politisch und sozialwissenschaftlich ausgerichteter Sachunterricht nimmt sich dieser speziellen politischen Situation von Kindern an und bietet Möglichkeiten, Kinderrechte kennenzulernen und einzufordern.

Heißt politische Bildung in der Grundschule, dass Kinder Argumente austauschen, gemeinsam etwas planen, auch über etwas abstimmen und entscheiden, was dann von den Lehrerinnen und Lehrern akzeptiert und umgesetzt wird?

Das ist verkürzt. Der erste Schritt ist, Kinder ernst zu nehmen und ihre Themen und Anliegen aufzugreifen. Dazu brauchen Schulen systematisch und strukturell Räume und Zeiten. Es ist leider noch nicht alltäglich, dass Kinder ihre Fragen und Anliegen in den Sachunterricht einbringen können und Lehrkräfte auf dieser Grundlage ihren Unterricht planen. Eine Abstimmung, wohin der nächste Ausflug geht, ist nicht „automatisch“ politische Bildung…

Die Demokratiepädagogik legt, teilweise auch mit dem Anspruch politische Bildung zu ersetzen, Wert auf fairen Umgang, die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Vielfalt, auf gewaltfreien Umgang - all das, was an Regeln und Ritualen überhaupt erst Lernen im Unterricht möglich macht. Gehört das zur politischen Bildung in der Grundschule? Oder werden politische Ereignisse rund um die Schule, im Stadtteil, in der Gemeinde thematisiert?

Bei „Regeln“ werde ich hellhörig. Es ist schnell gemacht, dass man mit Kindern Regeln aufstellt und das als soziales Lernen deklariert. So etwas hat mehr und mehr seit den achtziger Jahren politische Bildung ersetzt. Politische Bildung heißt eher, danach zu fragen, in welchem Kontext Regeln Sinn ergeben. Welche brauchen wir tatsächlich? Wie können wir Regeln aushandeln und vereinbaren? Wie können wir sie reflektieren, vielleicht auch wieder abschaffen und neu formulieren? Es geht darum, auf einer kritisch-reflexiven Metaebene hinzuschauen: Wie leben wir hier zusammen? Wollen wir so zusammenleben, wie wir es derzeit tun? Darüber hinaus machen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse vor dem Klassenzimmer nicht halt: Auch sie sollten bereits in der Grundschule thematisiert werden.

Tragen wir da nicht etwas in den Grundschulunterricht hinein, mit dem die Kinder sonst gar nicht konfrontiert sind?

Nein, Kinder sind damit tagtäglich konfrontiert. Kinder wachsen sehr medial und global auf. Schauen wir uns die Herkünfte der Kinder an: Wir haben die ganze Welt im Klassenraum. Und Kinder haben natürlich Fragen zu all dem, was sie mitbekommen. Oft haben Erwachsene eine verklärte und romantisierende Vorstellung davon, was Kinder wissen und wofür sie sich interessieren sollten. Die Horizonte von Kindern liegen aber oft weit entfernt von dem, was Erwachsene vermuten. Das zeigen auch Studien. Kinder können Fragen zum Klimawandel, zum Krieg oder zum Holocaust in die Schule mitbringen – Themen, von denen viele meinen: „Das ist doch nichts für Kinder.“ Kinder stellen aber solche Fragen und sie haben ein Recht darauf, dass sie in der Schule verhandelt werden.

Kinder mögen historische Fragen stellen, aber sie können die Antworten historisch nicht einordnen, zeitlich nicht einordnen. Und sind Lehrkräfte, die dafür gar nicht ausgebildet sind, dann nicht überfordert?

Mehrere Studien, auch meine Dissertation, zeigen, dass Lehrkräfte mehr und bessere Unterstützung brauchen. Fachliche, fachdidaktische und methodische Weiterbildungen im Bereich der politischen und sozialwissenschaftlichen Grundbildung existieren praktisch nicht. Das fällt auch Grundschullehrkräften auf. Früher ging man davon aus, dass Kinder keine historischen Kompetenzen haben, einen Zeitstrahl zum Beispiel nicht richtig verstehen oder darstellen können. Man sprach von der „Verfrühungshypothese“. Ich sehe das anders: Kinder haben ein Recht darauf, dass historische Ereignisse, nach denen sie fragen, eingeordnet und erklärt werden, auch dann, wenn Kinder mit den konkreten zeitlichen Abständen Probleme haben können. Dass ein Kind solche Antworten aufnehmen und verstehen kann, davon geht die Erziehungswissenschaft schon seit Jahrzehnten aus.

Die Schrecken der Welt, von denen wir ja wahrlich genug haben, in den Grundschulunterricht zu holen, beschädigt das nicht die kleinen Kinderseelen?

Die Grundschule als Schonraum, der die Kinder schützen soll, mit dieser Vorstellung haben sich schon Klafki und Hilligen befasst: Sie sagen, dass es nicht ums Beschützen, sondern ums Befähigen geht und darum, den Umgang mit dieser Welt zu lernen, von der wir alle Teil sind. Die Citizenship Education Study hat 2016 klar gezeigt, dass junge Menschen, die viel wissen, zum Beispiel über den Klimawandel oder über politische und ökonomische Zusammenhänge, viel weniger Ängste entwickeln. Wer mehr weiß, hat weniger Angst.

In den sechziger Jahren gab es in der Didaktik das Bild von konzentrischen Kreisen, um sich mit Kindern der Welt zu nähern, „vom Nahen zum Fernen“. Zuerst beschäftigt man sich mit dem eigenen Nahraum und erst später mit dem, was in der Ukraine geschieht oder was die grenzenlose Armut für Kinder im Norden Brasiliens bedeutet….

Die „Reife-Modelle“ von Piaget oder Kohlberg, nach denen alle Kinder gleichzeitig von Stufe zu Stufe reifen, sind lange widerlegt. Interessen und Vorwissen sind vor allem von der Sozialisation geprägt. Lernen findet immer dann statt, wenn es für ein Kind relevant wird. Wenn es jetzt den russischen Angriff auf die Ukraine gibt, dann kann ich nicht, weil es näher ist, über die Gemeindeverwaltung reden, sondern ich muss auf das eingehen, was die Kinder fragen. Ich darf die Fragen der Kinder und damit die Lernchancen nicht verstreichen lassen…

Das klingt anspruchsvoll. Was brauchen Lehrerinnen und Lehrer für eine solche anspruchsvolle Herangehensweise?

Der Sachunterricht war in den siebziger Jahren schon einmal durchaus politisch und danach lange ein sehr naturwissenschaftliches Fach. Nach und nach geht es wieder darum, den Sachunterricht auch sozialwissenschaftlich auszurichten und angehende Lehrkräfte auch politikdidaktisch auszubilden. Aber noch ist das lange tradierte Ungleichgewicht zwischen naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Grundbildung im Sachunterricht nicht ausgeglichen.

Vielen Dank für das Gespräch.